Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
... Julia öffnete die Augen und schaute an die Decke ihres Zimmers. Zentimeter für Zentimeter tastete sie den Raum mit ihrem Blick ab. Dann befühlte sie das Bett unter sich und inhalierte die frische Meeresbrise. Sie war verblüfft, wie echt sich alles anfühlte. Innerlich korrigierte sie sich. ‚Intensiv’ beschrieb das Gefühl genauer. Während sie ihren sinnlichen Eindrücken nachging, erweckte eine Fliege an der Zimmerdecke Julias Aufmerksamkeit. Neugierig verfolgte sie deren Route, die diese abwechselnd zu Fuß und dann wieder fliegend absolvierte. Ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie hatte nun zwei Wochen Zeit, sich solchen Kleinigkeiten hinzugeben. Langsam spürte sie die Last des Alltags von sich abfallen. Nach ein paar Minuten erhob sie sich und durchquerte den Raum, während sie vorsichtig jeden Gegenstand berührte. Sie konnte kaum glauben, dass sich alles nur in ihrem Kopf abspielte. Nichts in diesem Zimmer war echt. Nicht einmal sie selbst.
Als sie am Fenster angelangt war, zog sie mit Schwung die Vorhänge beiseite und blickte in den Sonnenaufgang. Den Schönsten, den sie jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Sie spürte die Wärme auf ihrer Haut und hielt sich die Hand vor die Augen, da die Sonne sie blendete. Der Anblick war atemberaubend. Sie war sprachlos.
Bis vor Kurzem hatte sie noch im Institut gelegen und skeptisch darauf gewartet, was passieren würde. Die Werbung klang vielversprechend ... aber auch zu schön, um wahr zu sein. Doch nun war sie hier und alle Beteuerungen schienen nicht nur heiße Luft zu sein. Nur ein Tag Ihres Lebens! ...
... für vierzehn Tage Urlaub, all inclusive.
Die abgelegensten Strände, die coolsten Partys, die abgedrehtesten Aktionen, der heißeste Sex. Bis ins letzte Detail war alles möglich. Wirklich alles.
Julia hatte sich für einen ruhigen Urlaub entschieden, in dem sie sich von der anstrengenden Arbeit ausruhen konnte.
Sonne, Strand und Meer, zwanzig Schritte vom Bungalow entfernt. Eine Massage nach Bedarf, gutes Essen und vielleicht einen kleinen Urlaubsflirt. Mehr brauchte sie nicht, um glücklich zu sein.
Keine anderen ‚Reisenden’, keine Wanderungen, keine Kultur.
Leichtfüßig hüpfte sie zum Kleiderschrank. Auch hier entsprach der Inhalt genau ihren im Vorfeld genannten Wünschen. Sie schlüpfte aus ihrem Kleid und schnappte sich einen Bikini. Dieser passte wie angegossen. Julia musste grinsen, da ihre virtuellen Körpermaße ebenfalls nicht mit denen in der Realität zu vergleichen waren. Ein Badetuch aus dem Bad komplettierte ihr Outfit.
Am Strand war es menschenleer. Nur das Rauschen des Meeres und entferntes Möwengeschrei erfüllten die Luft, die mit Salzkristallen durchtränkt war. Julias Haut kribbelte. Sie war noch immer berauscht von dem durchdringenden Gefühl.
Tief durchatmend breitete sie ihr Badetuch aus und legte sich genüsslich darauf. Dann schlief sie ein.
„Entschuldigen Sie. Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?“
Julia schreckte hoch. Vor ihr stand ein Mann mit braun gebranntem, leicht behaartem, muskulösem Körper. Strahlende, blaue Augen und ein ebenso strahlendes Lächeln nahmen sie voll und ganz ein. Er trug ihr Lieblingsparfum, dessen Duft sich in ihrer Nase ausbreitete.
„Ja gern. Setzen Sie sich. Genug Platz ist ja vorhanden.“
Dabei kicherte sie verlegen. Offensichtlich gelang es dem Programm ebenfalls, ihre momentanen Gelüste, in diesem Fall ein knackiger Kerl an ihrer Seite, zu berücksichtigen.
Der Mann stellte sich als Tom vor.
Stundenlang saßen Julia und er da und unterhielten sich über Gott und die Welt, während sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen musste, dass alles nicht echt war.
Als der Abend kam und die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand, packten beide ihre Badetücher ein und schlenderten zu Julias Bungalow. Sie überlegte, ob sie allein sein wollte, entschied sich dann aber dagegen. Im Moment war sie nicht müde und Toms Gesellschaft tat ihr gut.
„Darf ich dir noch ein Getränk anbieten? Wir könnten den Abend gemütlich auf der Terrasse ausklingen lassen.“
Tom schaute Julia tief in die Augen.
„Sehr gern.“ Dabei streichelte er ihr sanft über die Wange.
Eine Gänsehaut erfasste ihren gesamten Körper. Es war schwierig sich zu beherrschen, doch sie hatte sich entschieden, an diesem Abend, allein ins Bett zu gehen. Genauso, wie sie es sonst auch getan hätte.
Nach mehreren Gläsern Wein und weiteren zwei Stunden räusperte Julia sich, um den Abschied einzuleiten.
„So, mein Lieber. Ich bin müde und möchte ins Bett.“
Tom wirkte leicht irritiert. Julia ließ sich jedoch nicht abbringen.
„Der Tag mit dir war wunderschön und ich hoffe, dass wir uns Morgen wieder sehen.“
Ein Lächeln machte sich auf Toms Gesicht breit.
„Meinst du nicht, dass die Nacht genauso schön werden könnte?“
Nun musste Julia lächeln. Dieser Kerl war charmant bis ins letzte Detail. Aber sie hatte eine Regel. Keinen Sex nach dem ersten Date, auch wenn es sich hierbei um alles andere als ein richtiges Date handelte.
„Bitte sei mir nicht böse. Ich möchte es langsam angehen. Umso größer ist die Vorfreude aufeinander. Findest du nicht?“
Sie küsste Tom auf die Stirn. Dann drehte sie sich um. Gerade als sie die Tür ihres Hauses öffnen wollte, wurde sie ruckartig zurückgerissen. Tom ergriff sie, schlang seine Arme um sie und küsste sie wild auf den Mund. Julia hatte Mühe sich zu wehren und versuchte verzweifelt Tom wegzudrücken. Als er etwas lockerer ließ, stieß sie ihn fort.
„Was ist denn in dich gefahren? Ihr Männer seid alle gleich, egal ob ihr aus Fleisch und Blut, oder nur aus Bits und Bytes besteht.“
Mit gesenktem Blick stand Tom vor ihr. Dann hob er langsam den Kopf und Julia schaute in ein Gesicht, das nichts mehr von dem charmanten Lächeln, von vor drei Minuten besaß. Ein diabolisches Grinsen hatte stattdessen den Platz eingenommen.
„Du solltest nicht alles glauben, was man dir erzählt. Auch diese Welt ist nicht unfehlbar und jedes Programm kann geknackt werden.“
Schritt für Schritt kam Tom auf Julia zu. Diese wich zurück, bis sie die Tür in ihrem Rücken spürte.
„Ich weiß“, fuhr Tom fort, „du wolltest einen Urlaub, ganz für dich allein. Keinen Kontakt zu anderen ‚Reisenden’. Aber was ist mit Leuten wie mir? Wie sollen denn meine Gelüste befriedigt werden, wenn ihr Weiber ständig unter euch bleiben wollt?“
Nur noch zwei Meter trennten sie voneinander. Julia riss die Augen auf. Tom war also echt und hatte sich in ihre virtuelle Welt gehackt.
„Tom, was hast du vor? Lass uns das doch wie vernünftige Menschen regeln.“
Julia musste etwas Zeit gewinnen und Tom ablenken, um unbemerkt den Knauf der Tür zu drehen. Flucht war ihre einzige Chance.
Tom schloss seine Augen, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein.
„Wie oft muss ich mir diese Scheiße noch anhören?“ Dabei äffte er ihre Stimme nach.
„Lass uns reden, wie vernünftige Menschen, blah, blah, blah.“
Julia ergriff die Gelegenheit, einen Moment nicht im Fokus von Tom zu stehen.
Sie drehte den Knauf und riss die Tür blitzartig auf. Dann rannte sie so schnell sie konnte in die Küche. Ein Messer schien ihr im Augenblick die beste Waffe zu sein, um sich diesen Kerl vom Leib zu halten, auch wenn es hieß, ihn zu erstechen.
Sie riss sämtliche Schubladen auf, doch was sie fand, erschütterte sie zutiefst. In ihnen befand sich nichts.
„Tja, es hat schon seine Vorteile, wenn man beliebig in das Programm eingreifen und es nach seinen Wünschen formen kann.“
Mit langsamen Schritten und völlig ruhig betrat Tom die Küche. Julia drehte sich ruckartig um. Nur ein Küchenblock trennte sie von ihm.
„Du suchst sicher das hier.“ Dabei hielt er ein großes Messer zwischen Daumen und Zeigefinger und schaukelte es hin und her.
„Tom verdammt, was soll das? Bedeutet dir der Abend denn gar nichts?“
Tränen liefen Julia über die Wangen.
„Klar bedeutet er mir etwas. Aber nicht so, wie du es gern hättest.“
Mit jedem Wort verringerte sich der Abstand zwischen Julia und ihm.
Sie musste versuchen zu fliehen. Es war ihre einzige Möglichkeit, diesem Grauen zu entkommen. Sie rannte, so schnell sie konnte, los. Der Küchenblock bot ihr dabei einen kleinen Vorsprung.
Im Wohnzimmer angekommen, traute sie ihren Augen nicht. Gerade noch in der Küche, stand Tom nun mitten im Raum und winkte mit dem Messer.
„Ich sagte es doch bereits. Es hat seine Vorteile. In diesem Fall leider nicht für dich.“
Mit diesem Satz erschien er plötzlich hinter ihr und hielt ihr das Messer vor das Gesicht.
„Es tut mir wirklich leid, dieses schöne Antlitz zu verunstalten. Aber du wolltest ja nicht anders. Und was sein muss, muss sein.“
Julia schrie so laut sie konnte.
Schweißgebadet schreckte Julia hoch und betastete hektisch ihr Gesicht. Alles schien in Ordnung zu sein. Niemand war hier. Nur sie, allein in einem Raum.
Zischend öffnete sich die Tür und der Professor kam herein.
„Na, Frau Liebig. Sind sie zufrieden?
Julia blickte ihn mit aufgerissenen Augen an.
„Zufrieden? Ihr System! Es ist nicht mehr sicher! Ein Wahnsinniger hat sich dort eingehackt und wollte mich umbringen. Sie müssen sofort alles herunterfahren.“
Der Professor lächelte nur und tätschelte Julias Hand.
„Frau Liebig. Beruhigen sie sich erst einmal. Sie hatten den ausdrücklichen Wunsch, einen Urlaub voller Nervenkitzel zu erleben. Das waren Ihre Worte.“
Plötzlich kam die Erinnerung an das Vorgespräch wieder:
Sie werden sich während der Traumsequenz an nichts erinnern. Seien Sie sich dessen bewusst! Alles geschieht auf eigenes Risiko!
Warum hatte sie das nicht gleich stutzig gemacht? Sie schüttelte den Kopf.
„Dann scheinen Ihre und meine Vorstellung von Nervenkitzel aber sehr weit auseinander zu gehen. Für mich ist so etwas pervers.“
Julias Herz raste.
„Ach vergessen sie’s!“
Julia gab es auf. Es hatte keinen Sinn zu diskutieren. Schnaufend sprang sie auf und marschierte Richtung Tür. Der Professor rief ihr hinterher und winkte mit einem Taschentuch, das er in die Höhe hielt.
„Hier nehmen Sie. Sie haben da eine kleine Schnittwunde an der Stirn.“
Julia hörte ihn nicht mehr.
Letzte Aktualisierung: 27.08.2010 - 21.39 Uhr Dieser Text enthält 10244 Zeichen.