Ganz schön bissig ...
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Urlaub | August 2010
Das Glück wartet
von Marie Brand

Wissen Sie, ich hatte wirklich Urlaub verdient. Nach anderthalb Jahren in meinem neuen Job war das meine erste Auszeit.
Die alte Dame war mir sofort sympathisch, als ich durch den Gang des Waggons lief und alle Abteile nach einem Sitzplatz in netter Gesellschaft absuchte. Es war ein altmodischer Waggon mit abgewetzten Sitzbezügen, und die alte Dame passte irgendwie dazu. Auf ihrem Kopf thronte ein beiges Hütchen. Ein Schleier hätte gut dazu gepasst. Ihre faltigen Hände hielten sich an einer schwarzen Handtasche mit goldenem Verschluss fest. Aufrecht saß sie mit Mantel in den Polstern.
Zum ersten Mal flog ich auf die kanarischen Inseln. Ruhe wollte ich, Sonne und Meer. Wider Erwarten fand ich Vergnügen daran, einfach nur am Strand zu liegen und nichts zu tun. Es war Nebensaison, und ich hatte ein stilles Plätzchen für mein Handtuch und meinen kleinen Sonnenschutz gefunden. Der dicke Schmöker lag auch am dritten Tag unberührt neben mir.
Ich musste wohl eingeschlummert sein, als mich eine dunkle, kräftige Stimme weckte:
„Sie sollten nicht in der Sonne schlafen, Seňorita. Sie brennt hier unerbittlich.“
In der Tat war die Sonne inzwischen gewandert und hatte ihren Zenit wohl erreicht. Mein Schutz nützte mir nichts mehr. Die Luft schien zu stehen, und die Hitze war beinahe unerträglich. Aber das interessierte mich in dem Moment überhaupt nicht. Ich wollte den Mann näher in Augenschein nehmen, der so um mein Wohl besorgt war.
Die alte Dame beugte sich ein wenig vor.
Leider konnte ich im Gegenlicht wenig erkennen. Groß war er, offensichtlich gut gebaut, nur mit einer gestreiften Badehose bekleidet. Gestreift! Es gab bestimmt schönere Badehosen. Noch bevor ich mich in eine bessere Position bringen konnte, wandte er sich ab und stürzte ins Wasser. Dann verlor ich ihn aus den Augen. Ich packte erstmal ein. Die Mittagshitze war mir doch zuviel.
Aus ihrer Handtasche zog die alte Dame eine Puderdose. Ich erzählte von einem attraktiven Mann, und sie musste sich die Nase pudern. Ich schüttelte den Kopf, aber das störte sie nicht.
Am nächsten Tag hielt ich direkt Ausschau nach einer gestreiften Badehose, konnte aber leider keine entdecken. Also genoss ich fürs Erste das warme Wasser und die Bewegung der Wellen. Ich ließ mich treiben.
Auf einmal war ein Kopf neben mir.
„Die Strömung ist hier kräftig, passen Sie lieber auf!“
Ein Blick zum Strand sagte mir, dass mein Unbekannter mit der schönen Stimme recht hatte. Es war höchste Zeit umzukehren. „Wer sind Sie? Haben Sie einen sechsten Sinn?“
Er lachte sich direkt in mein Herz.
„José. Ich bin Rettungsschwimmer hier.“
Haben Sie schon mal eine Verbeugung im Wasser gesehen?
Die alte Dame zog doch tatsächlich ein Spitzentaschentuch aus der Handtasche. Mein José gefiel ihr augenscheinlich.
„Warum können Sie so perfekt Deutsch?“
„Sollen wir nicht du sagen?“
Nichts lieber als das. Dunkle Augen, süße Lachfältchen, höflich, sportlich – José war doch wie aus dem Katalog entsprungen.
„Warum kannst du so perfekt Deutsch?“
„Ich bin in Münster aufgewachsen. Meine Eltern leben immer noch dort.“
„Das ist ja nicht weit von Osnabrück. Da komme ich her.“
Es war der Wahnsinn. Ich musste wirklich aufpassen, dass ich mich nicht völlig verlor. Aber vorerst konzentrierte ich mich aufs Schwimmen. Noch waren wir dem Ufer nicht viel näher gekommen und allmählich ließen meine Kräfte nach. Ich konnte froh sein, dass José an meiner Seite war. Ihm schien der Weg nichts auszumachen. Er hielt sich neben mir und passte auf mich auf, bis wir wieder den Sand zwischen den Zehen spürten. José brachte mich noch zu meinem Platz, und ich ließ mich erschöpft aufs Handtuch sinken.
„Darf ich dich heute Abend sehen?“, fragte er mich.
„Um acht an der Promenade. Ist das o. k.?“, antwortete ich, ohne lange zu zögern.
Seine Einladung konnte ich nicht ausschlagen, schon gar nicht aus irgendwelchen taktischen Gründen. Trotzdem hoffte ich, dass ich nicht zu schnell ja gesagt hatte. Dass er nicht dieser Macho-Typ war, der nur auf die nächste alleinreisende Touristin wartete. Aber was sollte schon passieren? Ich war erwachsen, Single.
Die alte Dame schüttelte leicht den Kopf. Sie war wohl nicht so aufgeschlossen, aber sie widersprach mir nicht.
Es waren wunderschöne Abende. Wir redeten viel, saßen aber manchmal auch nur so im Sand und lauschten der Musik aus den Clubs. Am Strand spazierten wir, ließen unsere Beine von Wasser umspielen und die Haare vom Wind zerzausen. Viel zu schnell ging mein Urlaub zu Ende. Ein wenig war ich enttäuscht, dass José nicht mehr von mir wollte. Das Wort „Liebe“ fiel nie zwischen uns. Er erzählte von früher. Nie von seinen Plänen. Da war irgend etwas, das ich nicht fassen konnte.
Verträumt blickte die alte Dame aus dem Fenster.
An meinem letzten Abend war José nicht da. Ich konnte es kaum glauben, und ich verstand es nicht. Wie konnte ich mich so getäuscht haben. Er wusste doch, dass ich abreisen musste. Als ich alle unsere Plätze abgesucht hatte, nahm ich nur noch vom Meer einen traurigen Abschied.
Ein Seufzer entfuhr der alten Dame. Ich stimmte ein.
In meinem Zimmer fand ich beim Packen dann aber eine Karte.
„Es tut mir leid, ich musste weg. Du wirst es jetzt nicht verstehen. Komm bald wieder“, stand darauf. Ich drehte und wendete sie, aber kein Wort mehr, keine Unterschrift. Die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten.
Die alte Dame schniefte hörbar und schnäuzte in ihr Spitzentaschentuch.
Nicht wahr, das kann man nicht fassen.
Am Morgen nahm ich meinen Mut noch einmal zusammen und wandte mich an den Portier.
„Kennen Sie José, den Rettungsschwimmer mit der gestreiften Badehose? Kann ich ihn irgendwo finden? Ich würde mich gern verabschieden.“
Der Portier sah mich nur an.
„Verstehen Sie? Ich möchte mich für zwei sehr schöne Urlaubswochen bedanken.“
Noch immer sagte er nichts, rückte sogar ein wenig von mir ab. Dabei wusste ich, dass er Deutsch sprach.
„Hallo!“ Ich sah auf sein Schild. „Seňor Muró, wo finde ich José? Oder kann ich ihm wenigstens hier eine Nachricht hinterlassen?“
Ein mühsames „Nein“ war die Antwort.
„Nein? Wo ist er denn?“
Senor Muró schien sich langsam zu fassen. „Sie haben José getroffen?“
Ich nickte.
„Den Rettungsschwimmer?“
„Ja, sicher.“ Langsam wurde ich aber ungeduldig. „Wissen Sie, wo er ist?“
„Er ist seit einem Jahr tot!“
Ich starrte ihn an und fand das Ganze überhaupt nicht lustig. „Was erzählen Sie da? Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt!“
Aber er sah gar nicht aus, als machte er einen Witz.
„Seňorita, glauben Sie mir. Wellenreiten war seine große Leidenschaft. Deshalb ist er ja auch von Deutschland hierher gezogen. Letzten Sommer fegte ihn eine Welle vom Brett. Das wäre nicht schlimm gewesen, er war ein guter Schwimmer. Aber das Brett traf ihn unglücklich am Kopf. Er wurde bewusstlos und ertrank.“
Die alte Dame sah wortlos durch mich hindurch.
Das konnte nicht wahr sein. Er musste ein guter Schauspieler sein, so etwas so ernst zu erzählen, und hatte offensichtlich einen makaberen Humor. Doch dann zog er eine Mappe mit Zeitungsartikeln hervor, die über den Unfall berichteten.
„Schauen Sie! Vom letzten Sommer. Wir haben die Ausschnitte hier, weil mein Kollege, der die Nachtschicht macht, sein Onkel war. Er sieht sie sich immer wieder an.“
Die Tränen schossen mir in die Augen. Ich konnte es nicht verstehen. Mechanisch nahm ich meinen Koffer, stieg in den Bus und später ins Flugzeug. Ich war selbst in Düsseldorf noch nicht wieder bei mir, so dass ich meinen Wagen erst suchen musste. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Und ich hätte nicht fahren sollen.
Wissen Sie, direkt hinter Düsseldorf übersah ich an der Auffahrt ein Auto. Leitplanke, LKW, eingequetscht. Sie mussten mich rausschneiden. Ich höre noch das Quietschen der Reifen, das Geräusch von Metall auf Metall. Und ich rieche das verbrannte Gummi und den Gestank der Flex. Es war furchtbar. Aber gespürt habe ich nichts. Alles verlor sich in weiter Ferne.
„Unser nächster Halt ist Düsseldorf Flughafen. Der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung rechts.“
Wissen Sie, dass ich jetzt wieder nach Fuerteventura fliege? Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. Es tut gut, mal darüber zu reden. Ich wünsche Ihnen alles Gute.
Damit lächelte ich die alte Dame an und nahm den kurzen Weg durch die Waggonwand. Immer noch erschauerte ich beim Durchschreiten fester Gegenstände. Ein ganz eigenartiges, aber angenehmes Gefühl. Diesmal lächelte ich für mich. Es hatte einige Vorteile, wenn man tot war.

© mb2010

Letzte Aktualisierung: 27.08.2010 - 11.49 Uhr
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