Urlaub | August 2010
| Bilder von Andrea | von Marcus Watolla
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Die Dunkelheit hüllt mich ein. Ich denke nicht, dass ich Angst vor der unmittelbaren Schwärze habe, es ist eher die Erinnerung, die sich mit einsetzender Intensität in meine Gedanken schleicht. Mir so zusetzt. Denn mit der Nacht kommen wieder jene Bilder, die ich am liebsten für immer aus meinem Kopf bannen würde. Nachts ist es besonders schlimm. Nicht, dass es am Tage besser wäre ...
Noch jetzt höre ich ihre Stimme, wie sie keck zu mir sagt: „Du bist ein lausiger Autofahrer.“ Das war im Urlaub. In den französischen Alpen. Vor vier Wochen.
Da war die Welt noch in Ordnung.
Da hatte ich sie noch. Meine geliebte Andrea.
Nun ist sie fort. Wird niemals zurückkehren. Ich werde nie wieder ihre Stimme hören, wie sie mich neckt oder liebevoll flüstert „Ich liebe Dich, Bärli“. Ich werde nimmermehr ihren Geruch in mich aufnehmen können, diesen Duft nach Vanille. Sie hatte Vanille geliebt.
Sie ist fort. Unwiederbringlich.
Dabei war es doch nicht meine Schuld.
Oder?
Schemenhaft bilden sich wieder Bilder in meinem Kopf. Ich sehe sie, das offene Haar im Fahrtwind. Die herrlich warme mediterane Sonne, die sich in ihrer Sonnenbrille spiegelt. Sie lacht, ist voller Glück und hat nichts wie Unsinn im Kopf.
Dann diese Sekunden, die ich so gerne aus meinem Kopf streichen möchte. Die Zigarette, die mir aus dem Fingern gleitet. Ich bücke mich. Suche das verdammte Ding. Dann ein Schrei. Andreas Schrei. Ich schrecke hoch. Dieser Bus. Direkt vor uns auf der Straße. Ein gemeiner Schlag. Ein metallener Knall. Glas splittert. Ich werde in die Sicherheitsgurte gepresst.
Himmel und Erde rotieren.
Wie in einer Waschmaschine.
Dann - alles umlullende Stille.
Ich öffne die Augen. Liege im Wrack des Autos.
Andrea ist fort. Nicht mehr im Auto. Und diese unnatürliche Ruhe. Kein Laut.
Andrea war aus dem Wagen geschleudert worden. Die Ärzte sagten, sie sei sofort tot gewesen. Sofort tot. Sollte mich das trösten? Es klang wie eine Entschuldigung. So, als ob jemand sagt „Es tut nicht weh“. Es tröstete mich nicht.
Sie war tot.
Tot. Ein schreckliches Wort.
Dann die Beerdigung. Der lackschwarze Sarg. Die vielen Blumengestecke. Schleifen mit mitfühlenden Worten wie „Wir werden dich nie vergessen“ oder „Ruhe in Frieden“. Jedes dieser Worte ist wie ein Schlag für mich.
„Wir werden dich nie vergessen“.
Es klang wie ein Vorwurf.
An jede dieser geschriebenen Vorwürfe erinnere ich mich noch. So deutlich. Wie an ein Urteil. Mein Urteil.
Ihre Eltern nahmen meine Kondolenz mit kalter Würde entgegen. In ihren Augen fand ich stillen Vorwurf. „Warum hast du uns unsere Tochter genommen? DU saßest doch am Steuer!“ Doch sie sagten nichts. Sahen mich nur an. Diese Augen. Sie verfolgen mich genauso in meinen Träumen wie Andreas letztes Bild. Und die Frage: War ich schuld?
Die Polizei sagt nein. Der Busfahrer fuhr zu weit links.
Wäre nur diese verfluchte Zigarette nicht gewesen ...
Hätte ich das verhindern können?
Wie sich wohl der Busfahrer fühlt?
Wieso war sie nicht angeschnallt?
Wieso kam ich ohne eine Schramme davon?
Tausend Fragen. Es ist wie in einem Karussel. Alles dreht sich im Kreise. Ihr Gesicht. Diese Augen. Immer wieder.
Keine Antworten.
Kein Ausgang.
Jede Nacht.
Dinge bekommen plötzlich einen Sinn, die zuvor keinen hatten. Vielleicht bin ich wirklich ein lausiger Autofahrer. Habe es auf jeden Fall seitdem nicht mehr versucht. Konnte einfach nicht. Mache einen großen Bogen um Autos. Um Busse. Habe noch nicht einmal mein Auto seitdem angesehen. Es ging einfach nicht.
Die Nacht kommt.
Ich spüre sie durch die geschlossenen Lider. Bemerke ihr Eintreten in meine Gedanken, die sich wieder wandeln und drehen. So wie jede Nacht zuvor. Es will einfach kein Ende nehmen.
Andrea war noch so jung. Sie wollte eine Umschulung machen. War so voller Elan und Lebenswillen. So voller Freude. Sie steckte mich immer an mit ihrer lebensbejahenden Art. Es war wie eine Bewegung unter Wasser, die eine Welle erzeugt. Diese Welle trug mich mit.
Jetzt ist sie tot.
Tot.
Dieses Wort ist grauenhaft, schmeckt auf der Zunge nach Schuld. Dieser Geschmack nach Sünde. Er ist wie ein böser Traum. Er kommt einfach und geht nicht mehr weg.
In meinen Träumen sehe ich sie manchmal. Dann spricht sie zu mir. Ich weiß nicht was, vergesse es ständig. Aber sie lacht. Ist ohne Vorwurf. Sie nimmt meine Hand und streichelt sie.
Das sind kleine Momente der Entlastung. Kleine Momente in denen ich weiß: Sie ist an einem besseren Ort. Doch wo ist dieser Ort? Gibt es ihn wirklich oder gaukelt mir mein Verstand nur ein Irrlicht vor, um mich in eine kurzlebige Oase aus Ruhe zu betten? Ich höre ihre Stimme, doch ich verstehe sie nicht.
Warum ist das so?
Man sagt, alles habe einen Sinn. Doch worin liegt hier der Sinn?
Sinn klingt so ähnlich wie Sünde.
Sünde.
Wäre die verdammte Zigarette nicht gewesen ... Wäre ich doch nur aufmerksamer gewesen ... Wäre ... Wäre ... Wäre ... Vielleicht liegt der Sinn irgendwo zwischen diesen „Wäre“? Doch was ich dort im Moment finde, ist nur Selbstvorwurf. Mein eigenes Karussel. Wäre ich gestorben, wäre es besser gewesen? Und wieder „Wäre“...
Die Nacht ist da.
Ich merke es an meinen Gedanken die sich, wie ein Chor den Refrain, immer wiederholen. Diese grauenhafte Dunkelheit. Diese Leere in der Schwärze.
Fürchte ich doch die Nacht? Andrea liebte sie. Vor allem Sommernächte. Sie hielt gerne Ausschau nach Sternschnuppen. „Man kann sich was wünschen, wenn man eine sieht.“ Ob sie wirklich daran glaubte? Ich wünschte, ich könnte jetzt welche sehen. Ich wüsste schon, was ich mir wünsche ...
Alles Lug und Trug.
Die Welt gehört den Fakten. Und die Fakten halten mich jetzt wach.
Ich würde so gerne eine Zigarette rauchen. Doch es ist mir vergangen ...
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Letzte Aktualisierung: 12.08.2010 - 19.36 Uhr Dieser Text enthält 5738 Zeichen. www.schreib-lust.de |