Diese Seite jetzt drucken!

Urlaub | August 2010

Sturmfreie Bude
von Ingrid Gertz

Sommer, Sonne und Ferien. Kann es Schöneres geben?
Doch doch, es kann! Denn viel besser find' ich's, wenn obendrauf keiner sagt, wann ich aufzustehen, zu essen oder gar zu schlafen habe. Und wenn mir auch sonst die Tagesplanung nicht durcheinander gebracht wird.
„Denkt dran: Rex muss jeden Tag ein Stündchen laufen. Das Hühnerfutter ist im Sack neben der Stalltür und ...“ Mutti predigt ihre Liste herunter, ich erwisch' mich dabei, dass ich gar nicht mehr richtig hinhöre. Kenne die ganze Litanei auswendig. Sie erzählt uns nun schon zum hundertsten Mal, was die Sau frisst, wann die Hühner raus müssen, dass Minka keine Milch kriegt, und weiß der Geier was noch.
Dabei sollte sie endlich ins Taxi steigen. Vati sitzt mit dem Hosenscheißer Felix schon drin, nur Mutti hält Volksreden, als würde sie überhaupt nicht weg wollen.
„Kann ich mich drauf verlassen? Thomas? Harald?“
Was für eine Frage! Ich nicke eifrig mit Harry im Duett. „Aber wenn ihr jetzt nicht losfahrt, rattert der Zug ohne euch an die Ostsee.“
„Ja, du hast recht, machts gut, meine Lieben!“ Aber anstatt Mutti sich nun endlich nach draußen aufmacht, versucht sie Harald und mich zu erdrücken und wiederholt mit ganz komischer Stimme die Wegbeschreibung zur Gefriertruhe. Nur für den Fall, dass wir die vergessen hätten und deshalb nicht mehr an den vorgekochten Proviant kämen, vielleicht gar Hungers sterben müssten.
„Keine Bange, Mutti, der Mensch hält es drei Wochen ohne Nahrung aus“, wage ich einen Scherz, über den unsere Mutter nicht lachen kann. Ihr Blick verfinstert sich und ich könnt' mir in den Hintern beißen.
Muttis Alptraum ist es nämlich, dass Harry und ich eine Woche an trockenen Brotkanten lutschen, während der Rest der Familie bei Tante Astrid in Ahlbeck Lebeschön macht.
„Komm, das war echt nur Spaß, Mamuschka!“ Harry streichelt ihr beruhigend über die Wange und schiebt sie durch die Tür Richtung Taxi, damit unser Leben in Freiheit hoffentlich gleich beginnen kann. „Wir sind schließlich keine Babys mehr.“
„Tante Molly hat versprochen, dass sie nach dem Rechten schaut. Sie kocht für euch mit, müsst es ihr nur sagen.“ Es ist Muttis letzter Versuch, uns die Diktatur der Nachbarin schmackhaft zu machen. Da beißt sie aber auf Granit.
Tante Molly heißt nämlich Gertrude Schindler und ist überhaupt nicht unsere Tante.
Sie wohnt nur gegenüber. Lehnt da den ganzen Tag auf ihrer mit Kissen gepolsterten Fensterbank und passt auf, dass keiner unangemeldet in der Nase bohrt.
Vati kann die auch nicht leiden. Dass sie ihn beim Popeln ertappt hat, das glaub ich nicht. Aber irgendwas muss sie unserer Mutter gesteckt haben.
Paps hat Molly danach 'Dorfzeitung' geschimpft. Und dass sie nur nicht aus dem Fenster stürzen würde, weil ihr fetter Arsch einen guten Zentner mehr hätte, als ihre neugierige Nase, mit der sie im eigenen Mist rühren solle, gefälligst.
Er wurde ziemlich laut, Mutti dafür ungewöhnlich still.
Und dann hieß es plötzlich, dass ein paar Tage Ostsee ganz toll wären.

Mutti, Vati und Klein-Felix brausen ihrem Urlaub entgegen. Dem ersten, den meine Eltern machen, soweit ich überhaupt zurückdenken kann. Und den haben wir erst ermöglicht, Harry und ich, jawohl! Wer hätte sich denn sonst ums Viehzeug kümmern sollen? Mitnehmen konnte man vielleicht Rex und Minka. Aber Sau Berta? Oder unsere Hühner und die Zicke Esmeralda? Nee, das wäre problematisch geworden, vor allem im ICE. Kann ich mir richtig gut vorstellen, dass irgendeine Oma die Notbremse zieht, bloß weil Esmeralda nach höflichem Anfragen „Määh eh eh he?“ kurzerhand anfängt, Taschen zu inspizieren, ob sich darin nicht zufällig etwas Verwertbares befindet. Esmeralda ist nämlich verfressen und verschnabuliert auch mal einen Kaugummi, wenn sie in meiner Hosentasche nichts anderes findet. Ansonsten ist das alte Mädel ganz lieb, sieht nur mit ihren Hörnern aus, wie Belzebub selber.
„Was ein Glück, dass wir noch nicht wegen Lenas Geburtstag gefragt haben!“ Harry grinst und nimmt die Hundeleine vom Brett. „Das wird fetzig, Tom! Diesmal können wir mitzelten und keiner sammelt uns um zehn ein! Klasse!“
„Was hast du vor?“
„Ich geh jetzt mit Rex und du machst die restliche Viecherei heut' Abend. Biste besser dran, weils nicht so lang dauert.“
„Wieso willste das einfach so bestimmen? Wir ham doch überhaupt noch nicht eingeteilt!“
„Ich bin eine Stunde älter, Brüderchen, man muss das Alter achten“, flachst Harry und ist gleich darauf aus der Tür.
Wurmt mich schon, dass Harry wieder mal den Bestimmer macht, aber mir ist das jetzt recht. Um die Tiere hat sich Mutti vor ihrer Abfahrt gekümmert. Berta schnarcht vollgefressen im frischen Stroh, Esmeralda meckert auf einem unangeknabberten Wiesenstück, und die Hühner gackern auch ohne Aufsichtsperson. Massig Zeit, bis mein Einsatz wieder gefragt ist. Geh' ich eben ans Wehr baden.
Als ich wieder zurück bin, ist echt was los auf unserem Hof.
Anton Zimmer, seines Zeichens Dorfsheriff, der Bürgermeister, der Pfarrer und, soweit ich’s überblicke, die gesamte parteipolitische Schickeria unseres Ortes scheinen gleich neben dem Misthaufen eine Versammlung abzuhalten.
„Weißt du noch genau, wo das war?“ Herr Zimmer fragt knapp, streng und förmlich. Er klingt wie der Hauptermittler aus einem Fernsehkrimi.
„Ja, klar, oben am Wachberg, auf der Müllkippe ...“, dringt, wie sollte es anders sein, Harrys Stimme aus der Menschentraube.
„Auf welcher Müllkippe, bitteschön? Wird hier illegal Müll entsorgt?“, regt sich unser oberster Ökofreak auf, grad so, als ob er noch nie was davon gehört hätte. Na ja, kommt wohl zu selten raus aus seinem Büro, der Mann. Muss immer ganz viele Flyer gegen Umweltverschmutzung produzieren, damit alle, die sonst keine Post kriegen, auch was im Briefkasten finden.
„Na, eben auf dem Schutthaufen, der schon immer da oben ist. Ich wollte mir doch nur den alten Fahrradrahmen mitnehmen, hätte ich brauchen können.“ Harry stellt erst mal klar, dass er nicht Unrat entsorgen, sondern einer sinnvollen Verwendung zuführen wollte.
„Und da liegt noch so etwas? Bist du sicher?“, bohrt Zimmer weiter und schreibt anscheinend jeden Quark mit, den mein Bruder von sich gibt. Herr Pfarrer schüttelt nur sehr besorgt den Kopf und blättert in seiner Bibel. Die hat er immer dabei, falls mal jemand schnell einen heiligen Spruch braucht.
Mir ist nicht klar, worum es hier eigentlich geht und Harry kann ich nicht fragen, weil, der wird umlagert wie ein Popstar, da ist kein Rankommen.
Der alte Depzich steht etwas abseits und vertreibt mit seiner Stinkezigarre die Fliegen vom Hof.
Selbst wenn er mir gleich wieder von dem zum Nierenwärmer umfunktionierten Katzenfell erzählt, ohne das er Stalingrad nicht überlebt hätte: Depzich ist grad die einzig verfügbare Informationsquelle.
„Was hat Harry denn wieder angestellt?“
„Angestellt? Hm, nix angestellt, eigentlich, Glück hatter gehabt, konnte das ja aber nich wissen. Dein Bruder is mit 'ner Handgranate unterm Arm in meinen Stall gekommen und wollte wissen, was er da gefunden hat. Als ob ich explodierte Kühe brauchen könnte! Harry meint, am Berg droben läge noch so'n Ding.“
„Ja und? Sollnse's doch aufsammeln. Müssen die für alles erst drei Monate diskutieren, bevor's ans Handeln geht?“ Vaters Standardspruch passt hier sehr gut, find' ich.
„Das is nich so einfach.“ Depzich kratzt sich seine Platte. „Schwieriges Gelände. Kommt die Feuerwehr nich hin, auch keine Maschine mit Hänger. Der Heinrich holt grad seinen Zugochsen und den kleinen Leiterwagen.“
Und da rumpeln sie auch schon zum Hoftor rein: Heinrich und sein Ochse mit dem offenen Holzanhänger, an dem noch die Girlanden vom Kirmesumzug baumeln. Sieht lustig aus. Der Oberbrandmeister schickt Depzich zum Strohholen, damit das corpus delicti sich beim Transport über Stock und Stein nix tut und die Karawane setzt sich in Bewegung:
Heinrich und sein Ochse mit Harry als stolzem Wegweiser vorneweg, gefolgt von einer Prozession aus Feuerwehr, Bürgermeister, Polizei, Gemeindeschwester, Presse und Pfarrer. Man ist für alles gerüstet.
Ich tu mir das nicht an. Wachberg? Bei der Affenhitze? Nö.
Zwei Stunden später schleicht Harry auf sein Zimmer. Denkt wohl, ich hätt's nicht mitbekommen. Denkt er aber falsch.
„Und? Habt ihr das Ding gefunden?“
„Hmm.“ Er nickt und gibt sich, ganz gegen sein sonstiges Naturell, reichlich wortkarg. Harry – ein bescheidener Held? Das glaub ich nicht.
All zu lange muss ich nicht stochern, bis es aus ihm herausbricht: „Ich geh nicht mehr raus, nie mehr! Die spinnen doch alle, hab’s ja nur gut gemeint!“
„Was'n los? Hat dir einer deinen Ruhm gestohlen?“
„Nee. War keine Granate dort.“
„Nich? Hat wohl einer weggefunden?“
„Nein.“ Harry schüttelt den Kopf. „Lag schon was da, sah auch fast genauso aus … Weißt du, wie die mich jetzt nennen?“ Mein Bruder scheint außer sich, seine Lippen beben ganz verdächtig, als er's endlich ausspuckt: „Dynamo-Harry! Das ist schon im ganzen Dorf rum, ich geh' nich mehr raus, nie wieder!“
So ein Theater. Wird sich schon wieder einkriegen, mein Brüderchen. Leise mach ich die Tür zu, damit der Familienheld ein wenig Zwiesprache mit seinem Kopfkissen halten kann.
Muss ich wohl oder übel allein zu Lenas Geburtstag.
'Dynamo-Harry' ...
Man stelle sich vor, da hätte tatsächlich noch so ein Mordinstrument gelegen – nicht auszudenken.
'Lena-Granate' und 'Granaten-Harry'? Ne, das würde doch aussehen, als gehörten die zusammen …
Bis sich Harry wieder unters Volk traut, werde ich die Zeit jedenfalls nutzen.

Letzte Aktualisierung: 27.08.2010 - 00.08 Uhr
Dieser Text enthält 9648 Zeichen.


www.schreib-lust.de