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Urlaub | August 2010

Kugeln haben kurze Beine
von Bernd Kleber

Beate Neureuter und Sylvia Tietz sahen ihre Nachbarin Frau Angela Klupsch auffordernd an. Beide hatten hochglänzende Fotobücher vor sich liegen. Wie sie betont hatten, zu je 96 Seiten, die teuerste Variante.
Zwei Stunden waren vergangen, in denen sie anhand ihrer Beweisfotos von verträumten Landschaften, mildem Klima, herrlichen Badetemperaturen, interessanten Museen und glücklichen Familienangehörigen geschwärmt hatten. Stundenlange Flüge hatten sie überstanden und an den weißesten Stränden wunderbare Zeiten zugebracht. Nur in allerfeinster Gesellschaft war ihnen Amüsement vergönnt gewesen, alles natürlich „all inclusive“. Angela Klupsch hatte allem gelauscht, immer wieder breit gegrinst, genickt und „Ah!“ und „Oh!“ geäußert.
Nun war sie an der Reihe, von ihrem letzten Urlaub zu berichten. Beate und Sylvia entging nicht, dass Angela kein Fotobuch mitgebracht hatte, keine erjagten Schnäppchen und nicht einmal eine Postkarte. Aufmerksam beobachteten sie die Frau, die ihnen von einem nicht zu belegenden Feriendomizil erzählen wollte. Sie hatte noch nicht das Ziel genannt. Ungeduldig ermunterten sie Angela, deren Ferien zu schildern. Als diese sich wand, goss Beate erstmal Kaffee und Likör nach.
„Prösterchen, na nun erzähl schon Gela, wir sind beide schon sehr neugierig“, stießen sie Angela von links und rechts an.
Angela kniff sich nervös die Unterlippe, seufzte:
„Ihr dürft mich nicht auslachen. Vor allem ist es eine so unglaubliche Geschichte, dass ich sie nur euch hier unter sechs Augen erzählen kann.“
„Ja, Liebes, mach dir keine Sorgen, leg los.“, Beate sah zwinkernd zu Sylvia hinüber.
„Wir hatten eine Europarundreise vorbereitet. Die beiden Kinder hatten sich lange damit beschäftigt und mit ihrem Vater Ziele definiert. Ich hatte mir ein Buch gekauft: ´Landschaftsfotografie, digitale Eindrücke richtig ins Bild setzen´.
10 Megapixel sollten für uns und euch die herrlichsten Motive einfangen. Geplant war eine Route über die Kasseler Berge, Richtung Schwarzwald, nach Frankreich, von dort Italien, dann nach Slowenien, Österreich gequert, rüber nach Tschechien, dann durch Polen und zurück nach Hause.“
„Und nun - was war am Schönsten? Ihr habt das dann auch gemacht, oder wie?“
„Wir kamen bis kurz vor Kremmen, hatten in Linum noch die Jungstörche bewundert und waren auf der Landstraße zwischen alten Bäumen, einer herrlichen Allee. Die Kinder rätselten. Klaus schimpfte über den Straßenbelag. Max neckte seine Schwester Sophie, die auf keine Lösung kam. Da stotterte das Auto. Abwechselnd erlosch und blinkte die Instrumententafel, bis das Auto stehen blieb.“
„Langweile uns nicht mit albernen Details. Komm zur Sache, Schätzchen.“ Beate feixte und stieß Sylvia kichernd an.
„Ja, es geht los, das ist der Beginn eines großen Abenteuers. Die Cockpituhr war bei zehn Uhr stehen geblieben. Ein Schatten, wie eine riesige Wolke verdunkelte das Firmament und ein starker greller Lichtstrahl wies direkt von oben senkrecht auf uns. Die Kinder klebten mit den Gesichtern an den Scheiben, weil Klaus das Öffnen der Fenster verboten hatte. Der Wagen sprang nicht mehr an. Er schaukelte plötzlich und bebte. Als wir durch das gleißende Licht genauer nach draußen sahen, erkannten wir, dass wir schwebten. Wir glitten schon über die Baumwipfel. Das Auto vibrierte. Die Kinder jubelten und hieben in Übermut aufeinander ein. Klaus wurde ganz weiß, dass ich mir um ihn große Sorgen machte. Mehr, als um unseren Wohnwagen. Irgendwie war mir beschwipst zumute.“
„Was redest du denn da? Was soll das für eine Räuberpistole werden?“, fragte Sylvia, die eher zur Sachlichkeit neigte.
„Hör doch zu, es war, wie ich sage! Wir stiegen höher und höher und landeten, frag mich nicht wie, auf ebener Erde, äh, nein, auf ebenem Hikonst.“
„Was? Wo landetet ihr?“
„Hikonst, hieß der Planet. Drei kleine dicke orange Kügelchen waberten auf uns zu. Bei näherer Betrachtung sah man drei winzige Beine unter der Kugel. Auch hatten die Kugeln Ärmchen, vier an der Zahl und vier Augen. Je eines angesetzt in jede Himmelsrichtung. Sie kamen auf uns zu und schnatterten wie Enten hierzulande. Dann warfen sie ein Knäuel an unsere Köpfe. Das war ein Schock für uns. Denn das krabbelte in rasantem Tempo an ein Ohr und setzte sich dort fest. Ähnlich einer Spinne sah das Gebilde aus. Hatte aber viel mehr Beine, in der Mitte einen runden pelzigen Körper. Das krallte sich mit den vielen Extremitäten an die Ohrmuschel, dass man es nicht lösen konnte. Hattest du eines dieser kleinen Gliedmaße gelöst und fingertest an der nächsten, hakte sich die erste wieder ein. Ekelig! Gleich nach dem Andocken spürte ich ein unangenehmes Kitzeln im Ohr. Meine Tochter Sophie schrie und schlug sich immer wieder an ihren Kopf, riss kleine Beinchen vom Körper, worauf die sofort nachwuchsen, stabiler als zuvor. Ich umarmte sie beruhigend. Das funktionierte zum Glück. Meine Jungs waren starr vor Schock.“
„Ihgitt, was spinnst du da zusammen?“
„Wir vernahmen nun eine Stimme, die an alle Worte ein ´O´ anhing. ´Halloo, liebeo Erdlingeo ...´, in dieser Art. Eine der drei Kugeln sprach zu uns, man verstand sie jetzt. Sie erklärte uns, dass es sich bei diesem Spinnentier um einen Translateur handelte, welcher sich von Ohrenschmalz ernährte und in unserem Gehirn ein Übersetzungstool hinterließ. Wenn das Ohr kein Schmalz mehr hergab, krabbelte es blitzschnell auf die andere Seite zum zweiten Ohr und übersetzte dort mit Cerumen weiter, in dieser Zeit produzierte das Zweitohr wieder Sekret, was wir nicht mehr entfernten.“
„Angela, du redest Schwachsinn, wir sind doch nicht deine Kinder, denen du eine Gute-Nacht-Geschichte auftischen kannst. Dann sag doch, dass ihr nicht verreist wart, weil ihr euch das nicht leisten konntet.“
Angela schüttelte den Kopf und zog eine tiefe Furche an der Nasenwurzel.
„Ich wusste, ihr würdet mir nicht glauben. Sie überstreuten uns mit orangefarbenem Pulver, das duftete wie Blumen, weil wir angeblich stanken. Sie waren freundlich und redeten uns als Schnecken an, bis ich dahinter kam, dass sie uns nur deswegen geholt hatten. Wir waren ja mit unserem Haus unterwegs, wie diese Kriechtiere. Ich musste darüber sehr lachen. Die Kugeln verformten sich dadurch zu vibrierenden Pyramiden, beim kleinsten Kichern. Sicher ihre Art zu Lachen.“
Angela sah wie ihre Nachbarinnen immer ernster schauten. Ihre Mimiken versteinerten. Mutig führte sie ihre Erzählung fort.
„Die Kugelwesen erklärten uns, dass sie uns für eine Planetenrundfahrt ausgesucht hätten. Wir fuhren vierzehn Tage auf dem Himmelskörper hin und her, bekamen viel erläutert und gezeigt. Dort fliegt man mit den eigenen Gedanken lenkend. Bei Hunger speiste man das, worauf man Appetit hatte, nachdem man sich einen Blecheimer auf den Kopf setzte, an dem hunderte Drähte hingen. Die Kugeln liebten meine Kohlrouladen, das war der Renner dort. Einmal kamen wir an einen, ja, auch wieder organgefarbenen See. Die Kugeln stürzten sich hinein und schwammen und tauchten. Tapfer zog sich Max aus und setzte zu einem Kopfsprung an. Er landete mit seinem Bauch auf einer gallertartigen Masse, die wie Götterspeise wackelte. Der Junge konnte nicht untertauchen oder schwimmen. Was haben wir uns alle amüsiert, die Kugeln auch. Sie versuchten, mir das Phänomen anhand von Wichte und Dichte unserer Körpermassen zu erklären, was ich aber nicht verstand. Es zog uns bald weiter. Wir sahen Kunstwerke, die auch in unseren modernen Museen hängen könnten. Wir nächtigten in runden Hängematten, schliefen fest und träumten herrlich. Wir besuchten kleine Kugeln in Lehreinrichtungen, ähnlich unserer Schulen. Immer wieder wiesen die Hikonster darauf hin, dass wir hier auf der Erde unseren Geist, unser Gehirn intensiver nutzen müssten. Für die Gesamtheit: um Energie zu gewinnen, um Freude zu haben, um uns fortzubewegen. Es war erstaunlich, weil dort das Gehirn zu nahe 95% ausgenutzt wird, während wir mit unserer Energiequelle so schlampig umgehen würden. Wusstet ihr, dass wir unser Gehirn nur zu 10% nutzen? Also die meisten Areale bleiben zwar nicht wirklich inaktiv, manche Gelehrten reden auch von voller Nutzung, diese aber nicht im Sinne einer Vollnutzung. Das hat mir eine der dicken Dinger erklärt. Würden wir unseren Geist effektiver benutzen, hätten wir weniger Umweltkatastrophen und ein glücklicheres Leben. Was ich damit zu tun haben soll, keine Ahnung. Nach dieser Frage lachte der nette Kugeltyp, wäre beinahe geplatzt, der kleine runde Racker. Mein Sohn war bei allem sehr aufmerksam. Ständig wisperten sie mit ihm allein.“
„Was willst du uns nun sagen? Ihr wart nicht weg oder auf einem fernen Planeten?“
„Wir verlebten unsere Ferien auf Hikonst. Ein Traktorstrahl brachte uns durch ein Raum-Zeit-Kontinuum dorthin und wieder zurück. Es war der schönste Urlaub meines Lebens. Viele Lichtjahre von hier entfernt und doch so nah. Und ich würde gern wieder dahin reisen. Nach vierzehn Tagen landeten wir mit unserem Wohnwagen wieder auf der Landstraße. Genau an der Stelle, an der wir abgehoben hatten. Ganz sanft. Das Auto sprang an und wir fuhren schweigend bis nach Hause. Ich hatte viele hundert Fotos gemacht. Alle nur orange Flächen, kein einziges Detail sichtbar. Ich verstehe es nicht.“
Die beiden Freundinnen gackerten. Sylvia goss Kaffee ein. „Nächstes Jahr fahren wir zusammen, vielleicht treffen wir ja ALF.“ Alle drei lachten.
Als Angela an diesem Abend nach Hause aufbrach, hatte sie ein mulmiges Gefühl. Ihre beiden Nachbarinnen hatten sich ständig zugezwinkert und angestoßen. Angela fragte, wann man sich wieder treffen würde, worauf die Frauen nicht reagierten und sich kühl verabschiedeten.
Zuhause betrat sie das Zimmer ihres Sohnes, um ihm eine gute Nachtruhe zu wünschen. Angewurzelt blieb sie stehen. Max schrieb in ein Buch und fragte gerade nach Neurotransmittern. Auf seinem Schreibtisch war ein silbriger Kasten, aus dem eine holographische Projektion leuchtete. Der kleine Dicke von Hikonst sprach mit Max und ein haariges Spinnentier mit unzähligen Beinen saß am Ohr ihres Sohnes.

Letzte Aktualisierung: 18.08.2010 - 19.02 Uhr
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