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Urlaub | August 2010

In 80 Minuten um die Welt
von Janine Gimbel

Es war im Sommer 1969, als ich das erste Mal der Mobilitätsneurose ausgesetzt war. Vorbereitet hatte mich darauf niemand. Die großen Ferien standen ins Haus und meine Geschwister freuten sich, während ich mit Bangen dem Ende der freien Zeit entgegensah: Anfang August sollte ich eingeschult werden. Eine letzte Erholung vor dem Sturm einer mindestens neunjährigen Schullaufbahn bot der Urlaub bei Oma Elfriede. Oma wohnte in München, wir in Hamburg. Die Strecke, die es mit unserem Familienauto zurückzulegen galt, betrug über 770 Kilometer, das hatte mein Vater mir erklärt. Für mich kam dies damals in etwa einer Reise zum Mond gleich; an meinen Fingern konnte ich bestenfalls bis drei zählen.
Bevor Martin, Sabine und ich unsere Plätze auf der Rückbank einnahmen, sah Vater uns streng an. „Ich hoffe, ihr wart auf Toilette.“ Meine Geschwister nickten begierig und, obwohl dies auf mich nicht zutraf, tat ich es ihnen gleich, um nicht negativ aufzufallen. Kurze Zeit später saß ich eingekeilt zwischen den beiden auf dem Rücksitz. Martin und Sabine hatten im Gegensatz zu mir bereits eine Reise hinter sich. Ich hatte den letzten Urlaub bei Oma vor sechs Jahren im Bauch meiner Mutter angetreten. Umso verwunderter war ich, als die beiden mucksmäuschenstill neben mir saßen. Mir begann bereits, als das Ortsausgangsschild von Wilhelmsburg an uns vorüberzog, die Blase zu drücken.
Ich empfand, dass es sich um eine dringende Angelegenheit handelte und machte meinem Bedürfnis Luft. „Ich muss mal.“ Mama drehte den Kopf und strafte mich mit einem mir damals ungerecht erscheinenden, bitterbösen Blick, Papa schien meinen Einwand überhaupt nicht wahrgenommen zu haben. Deshalb biss ich mir angestrengt auf die Lippe und hielt die Luft an. Die Taktik zeigte jedoch nicht lange Erfolg. Es war höchste Alarmstufe! „Mama ...“, jammerte ich deshalb erneut.
Als Antwort erhielt ich einen knapp hervorgestoßenen Kommentar meines Vaters. „Ich dachte, du warst auf dem Klo!“ Damit war die Diskussion für ihn beendet. Er starrte weiterhin konzentriert auf die Straße. Vier Stunden vergingen, bis er sich endlich erbarmte, anzuhalten. „Für 30 Sekunden“, sagte er mir, als ich erleichtert zur Wagentür hinaus wankte. Dabei schaute er sorgfältig auf seine Armbanduhr. Ich rannte, als ginge es um mein Leben, ins nächste Gebüsch und sandte ein Dankesgebet gen Himmel, als der Caravan bei meiner Rückkehr noch auf dem Standstreifen parkte, wenn auch mit laufendem Motor.
Kaum waren wir Stunden später in Omas Einfahrt angekommen, stand Papa draußen, um bei meinem Onkel mit der benötigten Reisezeit anzugeben. „Nur sechs Stunden und drei Minuten!“, das waren seine ersten Worte, bevor er Oma die Hand schüttelte, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren.

Seit 1969 wurden Familienreisen für mich somit zu einem Spießrutenlauf. Ich lernte schnell und wusste schon auf dem Rückweg von besagtem Urlaub bei Oma, dass ich unter keinen Umständen Grund für einen Halt geben durfte. Papa duldete keine Störung während der Fahrt.
Erst Jahre später sollte ich erfahren, dass er sich mit diesem Verhalten in bester Gesellschaft befand. Spuren der Mobilitätsneurose – der Begriff geht übrigens auf meine Mutter zurück – lassen sich bis zum Anbeginn der Menschengeschichte verfolgen. Bereits die Urmännchen Homo Sapiens Sapiens zeigten vor zweihunderttausend Jahren Anzeichen dieser Krankheit und legten den Weg von Afrika in Richtung Mittelmeer nach Asien zurück – zu Fuß! Schon damals hätte man, oder besser Frau, misstrauisch werden müssen. Die Schulbücher zeugen ab diesem Zeitpunkt von zahlreichen Beispielen der Krankheit. Christoph Columbus gilt als ein besonders schwer befallener Vertreter. Er stach im August 1492 mit fast neunzig von Mobilitätsneurose befallenen Männern in See, um den schnellsten Weg nach Indien zu finden. Seine Bemühungen führten zu einer wahren Epidemie unter den Europäern. In die Geschichte ging dies als Kolonialismus ein.

Jahre später glaubte ich, der Mobilitätsneurose mit meinem Auszug aus dem Elternhaus entkommen zu sein. Die Achtziger brachen über die Menschheit herein und es galt andere Probleme zu lösen. Ich interessierte mich für Aerobic, Wolfgang Petry und für Thomas, den ich wiederum sitzen ließ, weil ich Jörg bei einer Demo kennen lernte. Der fand jedoch rasch Gefallen an Susanne. So landete ich letztendlich in Thorstens Bett. Bei ihm blieb ich, nichtsahnend, welchen Pakt ich damit eingegangen war. Seit 1986 bin ich mit ebendiesem unvorhergesehen dem Mobilitätsneurosewahn anheimgefallenen Mann verheiratet. Die ersten Jahre verliefen ruhig, die Krankheit brach überraschend aus.
Bisher hatte ich die Anfälle nur von der Rückbank des elterlichen Caravans aus beobachtet und als regionale Eigenheit der nordischen Männer abgetan. Jetzt fand ich mich äußerst verstört auf dem Beifahrersitz wieder, neben einem Mann aus Bielefeld. Es war der erste Urlaub, den unsere kleine Familie gemeinsam unternahm. Er führte mich vordergründig zu der Erkenntnis, dass die Mobilitätsneurose ein zumindest bundesweit, möglicherweise sogar global ernst zu nehmendes Problem darstellte, denn auch Thorsten konnte sich den Symptomen nicht entziehen. Meine Tochter Jaqueline war sieben Jahre alt, ihr Bruder Paul drei jünger, als wir – oder besser Thorsten – beschlossen, spontane Ferien am Bodensee seien genau das, was wir brauchten.
Schon bei der vorangehenden Reiseplanung wurde ich misstrauisch: Thorsten hatte in einer komplizierten Auflistung die Reisezeit minutengenau errechnet. Menschliche Bedürfnisse suchte ich vergebens. Stattdessen würden wir schon nach vierunddreißig Minuten am hessischen Kassel vorbeirauschen. In einem Anflug von Misstrauen wurde ich das Gefühl nicht los, dass die Wahl unseres Zieles mit der Reisefreudigkeit meines Mannes zusammenhing. Typische Anzeichen eines Erkrankten zeigte er bereits, als er nur fünf Minuten nach der Entscheidung für den Urlaub abfahrbereit im Flur stand und die übrige Zeit, in der ich die Koffer der Kinder packte und meine eigenen Siebensachen einsammelte, damit verbrachte, wie ein Schuljunge zu nörgeln. Letztendlich schob er sogar mir die Schuld in die Schuhe: Die Kinder seien so langsam, weil ich Fehler in der Erziehung gemacht hätte.
Als wir endlich alle in unserem Wagen einen Platz gefunden hatten, war ich stinksauer und fragte mich, wie wir in den schicken Flitzer hätten passen sollen, den Thorsten unbedingt hatte kaufen wollen. Einen glänzend silbernen Sportwagen, der innerhalb weniger Sekunden auf hundert Stundenkilometer beschleunigen konnte. Dass dieser nur zwei Sitze hatte, spielte für meinen Mann dabei keine Rolle. Es war klar, dass er hinterm Steuer saß und sein Sitzplatz somit gesichert war. Die Kinder, das Gepäck und ich hätten wohl oder übel mit dem Beifahrersitz vorlieb nehmen müssen. Die Bank lehnte den beantragten Kredit zur Zahlung des Wagens ab, wofür ich unendlich dankbar war.
Trotzdem blieb auch in unserer kleinen Familienkutsche kaum Platz. Der Proviant, den Thorsten für die exakt vier Stunden und zwölf Minuten dauernde Reise an den Ferienort Bodolz, einem kleinen Städtchen am Bodensee, eingepackt hatte, hätte jede einer Belagerung ausgesetzte Kleinstadt neidisch gemacht. Allein auf meinem Schoß thronte ein Vorrat an Broten, die unter normalen Umständen die Kinder eine Woche lang gut ernährt hätten. Spätestens hier wurde klar: Es war unter keinen Umständen möglich, auf der geplanten Route wegen niederer menschlicher Bedürfnisse anzuhalten und den Zeitplan durcheinanderzubringen.
Zurückzuführen auf die von mir begangenen Erziehungsfehler, wurden die Kinder der Reise rasch müde. „Mama, sind wir bald da?“, tönte es aus Pauls Mund, im Wechsel abgelöst durch „Wie weit ist es noch, Papa?“, wenn es auch seiner Schwester langweilig wurde.
Meinem Mann wurde das rasch zu bunt und während er angestrengt auf den vor ihm liegenden Verkehr stierte, warf er mir an den Kopf: „Wenn deine Kinder nicht bald ruhig sind, werden wir den Urlaub niemals genießen können!“ Damit brachte er mich fast zum Platzen und ich stieg nur der Kinder zuliebe nicht an der nächsten sich bietenden Möglichkeit mit knallender Tür aus. Paul kam Minuten später nur bis „Mama, ich m...“, da hatte ich mich bereits umgedreht und seine Lippen mit einem strafenden Blick versiegelt. Meine Mutter hatte mich in meiner Kindheit ganz bewusst auf ein Leben mit einem an Mobilitätsneurose Erkrankten vorbereitet!

Unsere Ankunft verzögerte sich um zwei Minuten auf exakt vier Stunden und vierzehn Minuten, weil mein Sohn aufgrund meiner Nachlässigkeit im Toilettentraining nach dreieinhalb Stunden seine Bedürfnisse wirklich nicht mehr zurückhalten konnte und Thorsten um die Bezüge des Wagens fürchtete. „Ha!“, triumphierte er mit einem Blick auf die Uhr dennoch, „Wir liegen gut in der Zeit!“
Er reichte mir einen Zettel, auf dem er die Fahrtwege zu den Supermärkten und Attraktionen der Umgebung minutengenau notiert hatte. „Jetzt sind wir gerüstet für nächstes Jahr. Fünf Wochen Europarundreise – das schaffen wir locker in sechs Tagen, siebzehn Stunden und acht Minuten.“
In diesem Moment drehte sich Jacqueline fasziniert um: „Wow … so schnell! Wenn ich groß bin, mache ich auch so eine Fahrt!“ Woher kam bloß dieser plötzliche Sinneswandel? Das wollte mir nicht einleuchten. Ich musste mich am Kühler festhalten, sonst wäre ich ohnmächtig auf der Straße gelandet.
Vererbbar war das also auch noch …

Letzte Aktualisierung: 27.08.2010 - 11.06 Uhr
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