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Urlaub | August 2010

Urlaub fegen; Ferien auf norbertisch
von Ingo Pietsch

Norbert schrieb die Liste mit den wichtigen Dingen, die seine Urlaubsvertretung brauchen würde, zu Ende.
Für einen Hausmeister in diesem Gebäudekomplex war es unvermeidlich, sich eine Liste mit dringenden Aufgaben zusammenzustellen. Immer kamen eine defekte Glühbirne oder Leuchtstoffröhre, eine quietschende Tür oder sogar entlaufene Haustiere der Planung in die Quere.
Das Einzige, was Norbert Sorgen machte, war der Fahrstuhl in Sieben-West, der ständig zickte und sein Eigenleben zu besitzen schien.
Aber da das Transportmittel erst dreißig Jahre alt war, hielt es die Immobilienfirma nicht für nötig, das gute Stück zu ersetzen und so waren die Wartung und Reparatur eine Lebensaufgabe.
Norbert schob den Gedanken an den alten Schrottkasten beiseite und fühlte über seinen immer noch schmerzenden Oberarm. Der war an der Einstichstelle leicht geschwollen und schmerzte.
Dort hatte er seine letzte Impfung bekommen.
Norbert wollte zwei Wochen Abenteuer-Urlaub am Amazonas machen. Fern ab von der Zivilisation, wo kein Handy funktionierte; eins sein mit der Natur.
Man konnte sich dort leicht jede Menge Krankheiten einfangen. Aber er war jetzt gewappnet.
Allerdings war sein Hausarzt bereits schon in Urlaub gefahren und so hatte er sich die Abschlussimpfung im Krankenhaus holen müssen.
Norbert zitterte immer noch bei dem Gedanken an den indischen Arzt: Gebrochenes Deutsch und selbstgeschriebenem Namensschild hatten bei Norbert nicht unbedingt Vertrauen hervorgerufen.
Für ihn galt nur noch: Weg aus dem kalten Deutschland.
Er hatte unaufhörlich das Tröten der Vuvuzelas in den Ohren, die bei jedem Fußball-WM-Spiel durch den gesamten Gebäudekomplex tönten.
Ein älterer Bewohner nannte sie verständnislos „Wuzeler“. Und für Norbert klangen die Stimmungsmacher wie „eine röhrende Kuh mit Darmverschluss“.
Aber das war ihm alles egal, weil er schon morgen im Flugzeug sitzen würde.
Und während er über seinen Zettel brütete und seine Gedanken schweifen ließ, schlief er ein.

Norbert hatte über das Internet die billigste Airline herausgesucht. Und dementsprechend niedrig waren seine Erwartungen an den Service.
Er wurde nicht enttäuscht: Eine unaussprechliche Briefkasten-Fluggesellschaft mit hochmotiviert-grimmig-dreinblickendem Personal mit Uniformen aus dem Dreißig-Jährigen-Krieg.
Natürlich gab es auch eine Leibesvisitation. Der Metalldetektor war aus unerfindlichen Gründen bei Norbert angesprungen.
Der Herr an der Kontrolle war der erste freundlich grinsende Mensch auf dem Flughafen: ein Mann mittleren Alters mit Ohrring. Gerade im Intimbereich war er sehr gründlich und Norbert dachte, wer lange keinen Sex mehr gehabt hatte, würde hier bestens bedient.
Dann ging es reibungslos weiter. Eher zügig als reibungslos, da alle Passagiere in Höchstgeschwindigkeit und zusammengepfercht wie Schweine auf dem Weg zur Schlachtbank ins Flugzeug getrieben wurden.
Abgesehen von der abblätternden Farbe und den Roststellen sah die Maschine für ihr Alter noch ziemlich gut aus.
Kaum hatte Norbert das Flugzeug betreten, wollte sich Panik in seinem Magen breit machen, die aber in den viel zu engen Sitzen keinen Platz fand.
Dann stellte sich der Pilot persönlich vor. Rote Nase, glasiger Blick und leicht wankender Gang waren angeblich auf eine Erkältung zurückzuführen.
Als die Stewardessen die Gurte erklärten und Norbert an seinem Sitz nur eine Hälfte fand, packte ihn die Angst und er wollte die Maschine so schnell wie möglich verlassen, doch da polterte sie schon los.
Der Hausmeister griff zum Air-sickness-bag vor sich und presste ihn sich gegen den Mund.
Doch das Kotztüten-Ensemble zwei Reihen weiter hinten gab eine Kakophonie zum Besten, dass er sich nicht mehr auf sich selbst konzentrieren konnte.
Kaum war das Anschnallen-Zeichen erloschen, stürmten alle zu den Toiletten.
Norberts Übelkeit war vergessen und er lehnte sich in seinem Sitz zurück. Auf seinem Schoß lag die Rückenlehne seines Vordermanns, der sich ebenfalls ausruhte.
Die Stewardessen verteilten Sandwiches in schon aufgeblähten Plastikbeuteln und als Norbert seine Beine nicht mehr spürte, schlief er für den Rest des Fluges ein.

Nach einer Reihe durchflogener Luftlöcher und einer lallende Durchsage des Flugkapitäns, wurde Norbert aus seinen Träumen gerissen.
Das Flugzeug verfehlte nur knapp die Landebahn, kaum aber rutschend auf dem Rasen, kurz vor Ende des Flughafengeländes, zum Stehen.
Bis auf die Militärpolizei, die jeden dritten Ankömmling in Handschellen abführte, sah es auf diesem Flughafen wie zu Hause aus.
Nachdem Norbert seinen total verbeulten Koffer gefunden hatte, suchte er sich ein Taxi.
Der indische Fahrer mit gebrochenem Englisch war der perfekte Gesprächspartner für den Hausmeister mit nicht minder schlechtem Schulenglisch.
Der Mann am Steuer erzählte von einem Schwager, der ein Fischerboot besaß, ein Schwager, der Fremdenführer war und von einem Schwager, der günstig Rolex-Uhren besorgen konnte. Und der Taximensch hatte sogar noch viel mehr Schwager.
Aus Spaß fragte Norbert: „Haben sie zufällig einen Schwager in Deutschland, der Arzt ist?“
Und der Inder antwortete verblüfft: „Woher wissen Sie das?“

Norbert ließ seinen Koffer in den Staub vor dem Hotel fallen.
Kleinstadt war völlig übertrieben. Kaff traf es da schon eher. Seine Unterkunft befand sich auf der Hauptstraße – der einzigen Straße.
Auch sah das Hotel nicht mehr ganz wie auf den Fotos aus dem Prospekt aus.
Nicht nur, dass eine Schnellstraße linkerhand am Gebäude vorbeiführte, man hörte weiter hinten auch noch Ölpumpen vor sich hinquietschen.
Als Norbert das rot leuchtende „INN“-Schild betrachtete, fiel ihm nur eins ein: Bumsbude.

Der Hausmeister schloss sein Zimmer mit dem übergroßen antiken Metallschlüssel auf und wuchtete seinen Koffer in den Raum.
Die Omi unten an der Rezeption, auch gleichzeitig die Inhaberin, konnte leider keinen Pagen anstellen. Deshalb kümmerte sie sich auch um alles selbst. Ab und zu kamen ihre Urenkel vorbei, um notdürftige Reparaturen vorzunehmen.
In dem spärlichen Licht, dass die Fensterläden hindurchließen, konnte man kaum etwas erkennen.
Norbert tastete im Halbdunkel nach dem Lichtschalter.
Sofort nach dem Einschalten zerplatzte die Birne.
Er fühlte sich als „Blindbucher“.
In dem kurzen Moment der Erleuchtung erkannte er einen schweren Sessel und in der Mitte des Raumes ein großes Himmelbett.
Norbert warf den Koffer aufs Bett. Eine gigantische Staubwolke breitete sich im Zimmer aus. Der Koffer versank langsam zwischen Decken.
Flusen wirbelten durch im diffusen Licht.
Norbert kämpfte sich zu den Fenstern vor und hustete unentwegt. Tränen stiegen ihm in die Augen. Die Vorhänge waren kaum zu bändigen und die Fenster hatten anscheinend keine Griffe.

Irgendwann hatte er doch noch frische Luft ins Zimmer bekommen. Er hatte ja nicht ahnen können, dass man die Fenster nach oben schieben musste.
Auf eine Dusche musste er auch verzichten, aus der Leitung kam nur braune Suppe.
Ersatzteile und Glühbirnen hatte die alte Dame am Empfang genug. Und so tat Norbert genau das, was er eigentlich nicht im Urlaub machen wollte: Er arbeitete - wechselte diverse Leuchten und reparierte die Wasserleitung.
Am Ende des Tages lud ihn die Besitzerin als Dank zum Essen ein. Es gab das traditionelle „Cuy“.
Für Norbert sah das gebratene Tier mit Gemüsebeilage wie eine Ratte aus.
Die Frau antwortete auf seine Frage: „Das ist keine Ratte, das ist Cuy.“
Leider reichten seine Fremdsprachenkenntnisse nicht aus, um das Wort zu übersetzen. Aber es schmeckte sehr lecker.

Am folgenden Tag stand eine kurze Exkursion in Dschungel und damit auch zum Amazonas an.
Der Fremdenführer begrüßte ihn in perfektem Deutsch und reichte ihm eine Visitenkarte, auf der Stand: Konrad A. D. Nauer – Fremdenführer.
Zuerst war eine Bootsfahrt angesagt. Mit dem Paddelboot überquerten die Beiden den Amazonas. Sie ließen sich eine Weile flussabwärts treiben und Norbert hielt seine Hand dabei in das kühle Nass.
Konrad riet ihm dies zu lassen. Und nickte Richtung Ufer. Dort tummelten sich riesige Krokodile. Doch meinte er das Boot vor ihnen.
Der Tourist mit seinem Begleiter tat es Norbert gleich. Plötzlich begann das Wasser um das Handgelenk zu blubbern. Der Mann begann zu schreien und zog seine skelettierte Hand zurück, dabei fiel die erst kürzlich erworbene Rolex in die Fluten.
Blitzschnell saß Norbert kerzengerade im Boot.
Er rieb sich das Handgelenk; das hätte seine Uhr sein können.

Nach der Überfahrt folgten Moskito-Wettstechen, bei dem Norbert das Nachsehen hatte, Weich-dem-werfenden-Affen-aus, wobei die Affen auch braune selbstproduzierte Wurfgeschosse benutzen und natürlich das lustige Spiel: Wie-bekomme-ich-die-Termiten-aus-meiner-Hose?

Zu guter Letzt schlichen die Beiden durch den Urwald und Konrad erzählte von ein paar Pflanzen und Tieren, bis sie zu einer Lichtung kamen.
Dort tummelte sich eine Herde Meerschweinchen.
Konrad verhieß Norbert leise zu sein. Und so beobachteten sie, wie eine riesige Würgeschlange die Schweinchen einkreiste.
„In der Landessprache nennt man die Meerschweinchen „Cuy“. Einige werden entkommen, die anderen eingekesselt.“
Mit großen Augen sah Norbert auf das fast lautlose Spektakel mit dem Gedanken daran, eins dieser Schweinchen gestern verspeist zu haben.
Auf den ungleichen Kampf konzentriert, bemerkte Norbert nicht, wie eine zweite Würgeschlange sich um seine Taille wickelte und ihn in die Baumwipfel zog.
Norbert ging die Luft aus und er sah Sterne vor seinen Augen tanzen.

Norbert erwachte und tastete sich ab. Keine Schlange, kein Dschungel.
Der Hausmeister war vor seinem Schreibtisch eingeschlafen. Sein Arm schmerzte wieder von der Impfung.
Er starrte auf seinen Zettel, den er für seine Urlaubsvertretung vorbereitet hatte; darauf stand:
„Lieber Harald. Du wirst mich wohl für immer vertreten müssen. Ich habe hier in Südamerika eine Anstellung in einem Hotel und auch viele neue Freunde gefunden. Nur an das Essen muss ich mich noch gewöhnen.
Tschau, Norbert.“

Letzte Aktualisierung: 22.08.2010 - 19.42 Uhr
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