Diese Seite jetzt drucken!

Urlaub | August 2010

Und ein neuer Morgen
von Gisela Reuter

Es fühlt sich an wie eine Operation ohne Narkose. Eine Operation am offenen Herzen. Natürlich am Herzen. Immer da, wo es am meisten weh tut. Mir ist, als hätte man mir den Brustkorb aufgesägt und mein Herz herausgerissen. Wie hält man so etwas ohne Betäubung aus? Mein Herz fühlt sich so kalt an. Dabei soll es einfach nur schlagen. Sonst nichts. Nur schlagen. Es soll den Körper am Leben erhalten. Meinen Körper.
Niemand fragt mich, ob ich das überhaupt will. Doch ich lasse es geschehen. Was sollte ich auch dagegen tun.

Der Sand ist heiß. Ich beeile mich, ans Wasser zu kommen. Dort wird es kühler sein. Ich muss um ein paar Kinder herumlaufen. Ich hüpfe. Nicht vor Freude, sondern weil meine Fußsohlen schmerzen. Ich war lange nicht mehr barfuß unterwegs. Meine Haut ist dünn. Unter den Füßen ganz besonders. Noch drei vier Meter, dann habe ich es geschafft. Eine kleine Hürde überwunden. Eine von vielen.

Das Meerwasser umspült meine Füße. Welche Wohltat. Für ein paar Sekunden vergesse ich den Schmerz und genieße das kalte Nass, das mir bis zu den Knöcheln reicht. Doch dann sehe ich wieder den Chirurgen vor mir. Er hält mein Herz in der Hand.
Gib es mir zurück, will ich schreien. Hör auf. Gib es mir einfach zurück. So, wie es ist. Ich komme schon klar. Der Bruch wird irgendwann von alleine verheilen. Hat bei anderen ja auch geklappt. Warum also nicht bei mir?
Der erste Urlaub alleine. Tausende Menschen verreisen alleine. Es ist ein Lernprozess. Eine Übung für Körper und Geist. Im nächsten Jahr wird es einfacher sein. Natürlich. Aber ein Jahr kann so lang sein.

In meinen Gedanken bist du mit mir hierher gefahren. Sicher. So schnell geht es ja nicht, mit dem Verarbeiten. Wobei mir alle gesagt haben, dass ich dies nun tun müsste. Etwas verarbeiten. Auf andere Gedanken kommen. Ha. Auf Knopfdruck vielleicht? Sofort? Oder erst später, wenn die Wunde fast verheilt ist? Was, wenn es mir gar nicht gelingen sollte? Ich balle die Fäuste. Doch, ich muss es verarbeiten. Ich will es.
Meine Schritte werden langsamer. Das Wasser umspült bereits meine Hüften. Nein, nein, ich werde nicht weitergehen. Nicht tiefer ins Wasser. Lieber dahin zurück, wo es seichter ist. Wo die Wellen an den Strand plätschern, als sei nichts geschehen. Wo sie so plätschern, als sei heute ein ganz normaler Tag. Dabei ist seit Monaten alles anders. Nichts ist mehr normal.

Zum Nordkap wolltest du mit mir fahren. Einmal die Mitternachtssonne sehen. Und nun? Oh nein, da fahre ich bestimmt nicht alleine hin. Wäre auch ein wenig viel verlangt, oder? Ich will kein Nordkap sehen. Nicht ohne dich. Nicht alleine. Vielleicht später einmal. Aber keinesfalls, bevor mein Herz wieder in der Brust liegt. Keinesfalls, bevor meine Rippen zusammengewachsen sind. Sie sollen das Herz doch schützen.

Ich werde ein paar Schritte gehen. Die vielen Menschen machen mich nervös. Sie sprechen eine andere Sprache.
Der Strand ist so endlos lang und ich meine, noch immer deine Fußabdrücke zu sehen. Dabei kann es doch gar nicht sein. Der Wind hat sie längst verweht. Über ein Jahr ist es her, dass wir hier waren. Wobei – mir ist, als sei es gestern gewesen.

Ich weiß nicht, wie lange ich schon unterwegs bin. Ich spüre keinen Hunger, keinen Durst. Fühle keine Temperaturen. Die Sonne geht unter und es ist mir egal. Die Menschen verlassen nach und nach den Strand.
Ich bin alleine.

Eine Schiffsplanke wird angeschwemmt. Genau vor meine Füße. Das Wasser weicht zurück. Sie bleibt liegen. Vielleicht holt eine neue Welle sie wieder ab? Und spült sie zurück in die Nordsee? Und dann? Was, wenn sie gar nicht zurück will? Vielleicht möchte sie genau hier etwas Neues beginnen. Getrocknet werden. Und an einem anderen Schiff montiert. Um ein Leck zu schließen.
Ein Stück Holz. Nass. Moderig. Irgendeines von vielen. Ein winziger Teil von einem Schiff. Vielleicht von einem Fischkutter? Ich hebe die Planke auf. Ein rostiger Nagel steckt darin und ich verletze mich. Dunkles Rot tropft auf den heißen Sand. Ein hässlicher Fleck. Doch die Wunde an meiner Hand spüre ich nicht. Im Moment nicht.
Ich halte die Planke fest in der Hand. Ich werde sie mit nach Hause nehmen. Sie ist für dich. Ich werde sie neben die Blumenschale legen. Oder neben die Kerze.
In der Dunkelheit laufe ich weiter. Der Strand ist menschenleer, aber ich fühle mich nicht einsam. Du bist mir nah.
Und dann beginne ich zu singen. Erst leise, dann immer lauter. Ich singe den Schmerz aus mir heraus. Ich singe, bis mir die Stimme versagt und ich erschöpft in den Sand sinke.

Habe ich geschlafen? Ich weiß es nicht. Die ersten Sonnenstrahlen tasten sich behutsam an einem kleinen Wolkenschleier vorbei und bringen das Meer zum Glitzern. Die Sonne ist aufgegangen. Einfach so. Als wäre nie etwas geschehen.
Ich stehe auf und streiche die Sandkörnchen von meiner Kleidung. Wie Ballast, den man abwirft, rieseln sie herunter. Eine weitere Hürde ist überwunden. Eine weitere Nacht überstanden. Die erste Nacht alleine an unserem geliebten Urlaubsort.
Ich recke mich. Die Luft schmeckt salzig. Mein Herz pulsiert. Warm und weich. Ich greife nach der Schiffsplanke. Mit festen Schritten stapfe ich durch den Sand und ich weiß, dass ich eines behalten darf. Die Erinnerung. Ich trage sie wie ein kostbares Geschenk im Herzen. Ein Geschenk, das mir niemand mehr nehmen kann.

Und ein neuer Morgen bricht auf dieser Erde an.



© 2010, Gisela Reuter

Letzte Aktualisierung: 24.08.2010 - 00.16 Uhr
Dieser Text enthält 5442 Zeichen.


www.schreib-lust.de