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Urlaub | August 2010

Gypsy
von Jochen Ruscheweyh

I was only seventeen, I fell in love with a gypsy queen,
She told me „Hold on“



„Hör mal, Tom, ich weiß nicht, was du heute noch vorhast, aber tu´ mir einen Gefallen, halt Dich von dem Pack unten am Bachufer fern, ja? Und sei pünktlich zurück, wir wollen morgen früh losfahren!“
Tom verließ die Wohnung kommentarlos. Ihr Verhältnis als angespannt zu beschreiben, wäre mehr als untertrieben gewesen. Tom war 17, die Sommerferien begannen gerade, und er hatte Besseres vor, als einen weiteren langweiligen Urlaub mit seinen Eltern im Wohnwagen an der Möhne zu verbringen.

„Bist du schon mal auf einem 911er Mercedes mitgefahren?“
Tom schüttelte den Kopf. Der Mann, der hier zweifellos das Sagen hatte, quittierte seine Antwort mit einem dröhnenden Lachen und einem Schlag auf Tom´s Rücken, der ihm für einen Moment die Luft zum Atmen nahm.
„Na, dann wird´s ja höchste Zeit. Glaub mir, das werden die besten Ferien deines Lebens.“
Pepe Garibaldi wischte sich kurz mit dem Handrücken über seinen Schnäuzer: „Hör zu, mich interessiert nicht, wie alt du bist und was du am Laufen hast, aber eins muss klar sein: Wenn du mit uns fährst, lebst du nach unseren Gesetzen. Willst du das?“
„Ich kenne sämtliche Roadstorys von Kerouac bis Thelma & Louise. Ich kann besser auf dem harten Steinboden einer Gartenlaube als auf einer Matratze schlafen. Und wenn´s nötig ist auch eine Woche ohne Dusche auskommen. Qualifiziert mich das, mit euch zu fahren?“
Garibaldi pfiff durch die Zähne.
„Schmeiß´ dein Zeug rein, Junior!“

„Was du hier drin riechst, sind Diesel, Hydraulik-Öl und die französischen Zigaretten, von denen ich mir zu jeder vollen Stunde eine anstecke.“, brüllte Garibaldi gegen das beständige Nageln des Dieselmotors, der den LA 911 die A2 hinauf gen Oberhausen trieb.
„Ach ja, zeig` mal deinen Pass. Der muss in Ordnung sein, wenn wir über die Grenze wollen.“
Tom fingerte seinen Ausweis heraus, den Garibaldi ihm grob aus der Hand riss und dann in den hinteren Teil der Kabine warf.
„Carlos!“, brüllte Garibaldi nach hinten, „den nimmst du morgen früh mal unter die Lupe, ist das klar? Verdammt, jetzt fängt es auch noch an zu regnen! Schalt´ mal den Scheibenwischer an, Junior! Der Kippschalter direkt vor dir!“


Her father was the leading man, said: „You´re not welcome on our land“, and then as a foe, he told me to go


Carlos weckte Tom und hielt ihm einen Becher schwarzen Kaffee hin. Quer über Carlos Wange zog sich eine 10cm lange Narbe; das darüber liegende Auge sah trübe aus.
„Hier, Junior, Zeit zum Wachwerden.“
Tom blickte sich um. Der salzige Geruch von Meerluft strömte durch die leicht geöffnete Scheibe in die Kabine. Rechts neben Tom rauschte ein Schild mit der Aufschrift Eurohavens vorbei.
„Wo sind wir?“ fragte Tom.
„Rotterdam.“, antwortete Carlos und deutete nach vorn, wo sich die beleuchteten Raffinerien gegen den dunkeln Nachthimmel abhoben.
„Geschäfte, Junior, Geschäfte!“

„Was seid ihr eigentlich? Zigeuner?“ fragte Tom.
Romina lachte, während sie mit Tüchern ein Lager vom Rest des Trailers abteilte.
„Zigeuner haben eine eigene Kultur, gehen unterschiedlichen Handwerken nach und sind im Prinzip anständige Menschen. Wir sind Grawinger. Wir sind Abschaum, Taschendiebe und Betrüger, aber wir sind die Besten unserer Zunft.“
Tom krabbelte zu ihr auf die harten Strohmatten.
„Du musst Dir einen Grawinger wie einen Reservisten bei der Armee vorstellen. Wenn Garibaldi ruft, dann kommen wir und bleiben genau so lange zusammen, wie er es für richtig hält.“
„Wie lange fährst du schon mit Garibaldi?“
Sie streifte ihre Trachtenbluse ab.
„Fünf oder zehn Jahre? Vielleicht zwanzig? Was bedeutet schon Zeit, wenn man unterwegs ist? Und jetzt komm her, Romina braucht etwas Liebe!“


Aahhh!



„Die Sache ist ganz einfach: Es geht darum, die Aufmerksamkeit deines Gegenübers auf etwas anderes zu lenken. Sieh genau auf meine Finger und sag mir, unter welchem Hütchen die Kugel ist.“
Tom verfolgte die Kugel von blau nach rot, nach grün, zurück zu rot und wieder nach blau.
„Blau!“
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher: Blau!“
Carlos applaudierte. „Sehr gut, Junior! Du hast ein geschultes Auge. Dafür hast du eine Belohnung verdient. Branco, gib´ Junior seine Geldbörse zurück!“
Tom klopfte instinktiv gegen seine Hosentasche. Sie war leer.


He took me to a little shack and put a whip across my back, then told her: „Leave me“



Die Trailer und Zugmaschinen bildeten eine Art Wagenburg. In der Mitte brannte ein großes Feuer, über dem mehrere Ferkel brieten. „Wenn du in Straßburg bist, musst du Wein saufen!“, rief Garibaldi und füllte Tom das Glas zum wiederholten Male.
„Du hast Deine Sache heute sehr gut gemacht. Du hast nicht nur flinke Augen, sondern auch flinke Finger. Darauf müssen wir trinken.“
Von der anderen Seite rückte Carlos zu Tom heran.
„Junior, es wird Zeit, du bist jetzt offiziell einer von uns.“
Durch den Schleier der Benommenheit, den der Wein bei ihm hinterlassen hatte, spürte Tom, wie er an beiden Seiten gestützt in einen Trailer geführt wurde. Alles schien sich zu drehen. Um ihn herum wurde gelacht.
Dann lag er auf einer Bahre. Ein schlitzäugiges Gesicht mit einem Stück Bambus bewaffnet beugte sich über seine Brust. Der Schmerz ließ Tom aufschreien.
„Keine Angst“, raunte Carlos, „Hiro ist der Beste, er hat in Edo und auf Java gelernt.“


I was out for quite a time, came back with her on my mind, sweet little girl, she means all the world.



„Was ist der Sinn dahinter?“, fragte Tom.
Romina cremte seine geschwollene Brust ein, auf der ein Stück oberhalb des Herzens der Falke mit dem Grawinger-Wappen prangte.
„Wo hinter?“
„Na, hinter allem.“
„Du meinst, dem Leben an sich?“
„Ja, so in etwa.“, sagte er.
Romina griff über ihn und holte einen goldfarbenen Stoffbeutel hervor.
„Riech mal!“ sagte sie und hielt Tom eine braune Frucht hin.
„Ein Tannenzapfen?“
„So riecht meine Heimat. Ich liebe Rumänien, aber ich bin auch ein rastloser Geist wie alle hier. Wenn ich unterwegs bin, träume ich von zu Hause. Bin ich zu Hause, zähle ich die Tage, bis ich wieder unterwegs sein kann.“
„Aber es ist nicht richtig, was wir tun. Jedenfalls das meiste davon.“
Sie küsste Tom auf die Stirn.
„Das Leben fragt dich nicht, ob etwas richtig oder falsch ist. Das musst du selbst entscheiden. Außerdem, wenn wir Grawinger es nicht tun, dann tun es andere, sich als Zirkusleute oder Puppenspieler ausgeben und den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen, und so.“
„Aber irgendwann ...“
„Denk` nicht so viel nach. Mach mich lieber noch mal glücklich.“


Aahhh!



„Das hier ist die Wasserpumpe, und in dem Behälter weiter oben wird Luft komprimiert zum Bremsen. Bei alten Maschinen heißt das Luftpresser. Wenn es nach dem Bremsen zischt, dann will die Luft raus. Verstehst Du?“
Tom nickte.
„Irgendwann“, sagte Otto, „wird´s keine Leute mehr geben, die die Dinger reparieren können. Eine Schande ist das.“
Tom zögerte einen Moment, dann sagte er:
„Ich habe gestern gesehen, wie du dem Mann, der die Schulden hatte, die Hand gebrochen hast. Hast du schon mal jemanden noch ernsthafter verletzt oder umgebracht?“
Otto setzte seine Kappe ab und rieb sich mit der ölverschmierten Hand über seine Halbglatze.
„Junior, was willst du jetzt von mir hören?“
„Ich weiß nicht ...“, antwortete Tom, „vielleicht, was das für ein Gefühl ist ...“
Otto blickte sich um, dann flüsterte er: „Manchmal, wenn du merkst, dass du Macht über einen anderen Menschen hast, dann puscht es dich auf und du fühlst dich unverwundbar. Und später hasst du dich selbst dafür, weil es immer besser ist, seinen Kopf einzusetzen.“
Dann fuhr er in normaler Lautstärke fort: „Junior, du hast Ferien, mach´ ne verdammte Party draus, du bist jetzt ein Grawinger!“


Oh, I want my qypsy queen
Will she still be torn between
Her father and lover




Völlig außer Atem bogen sie in die kleine Gasse ab und drückten sich an die Hauswand.
„Du bist ein Genie!“ keuchte Romina und durchsuchte die Geldbörsen, die sie auf dem Marktplatz zusammengestohlen hatten.
Tom lächelte. „Es fühlt sich immer noch komisch an, aber es geht besser, wenn ich weiß, dass du in meiner Nähe bist.“
Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihr pochendes Herz.
Dann murmelte sie: „Du bist schon so viel weiter als andere in deinem Alter. Komm, küss mich.“


Aahhh!



Die Carabinieri kamen mit vergitterten Mannschaftswagen und Maschinenpistolen und drängten in die Wagenburg.
„Sie haben Garibaldi. Hier nimm, das ist die Adresse der deutschen Botschaft, dort bist du sicher. Ruf deinen Vater an, er wird dich abholen. Und jetzt lauf!“ rief Romina.
„Meinen Vater?“ fragte Tom.
„Ja, er ist einer von uns.“
„Ich bin meinem Vater völlig egal.“
„Nein!“, gab Romina zurück, „Dein Vater liebt dich. Und er ist ein kluger Mann. Er wusste, dass er dir verbieten musste, mit uns zusammen zu sein. Kinder machen immer das Gegenteil, von dem, was ihre Eltern wollen.“
„Aber ich bin kein Kind mehr!“, schrie Tom.
„Ich weiß, und Gott, ich vermisse dich jetzt schon. Garibaldi wird freikommen, und dann werden wir wieder zusammen sein. Und jetzt hau endlich ab!“

Aah ...


Sein Vater hielt auf ihrer Parzelle und drehte das Autoradio leise. Uriah Heep verstarben.
„Tom, manchmal möchte ich echt wissen, was in deinem Kopf so vorgeht. Du kannst dich doch nicht ewig in Deinem Schneckenhaus verkriechen. Als ich in deinem Alter war, bin ich nach Portugal getrampt und hab´ an jeder Hand fünf Bräute gehabt. Wach endlich auf! Das Leben spielt sich hier draußen ab und nicht in deinen Hirnwindungen.“
„Lass ihn, Achim!“ sagte Tom´s Mutter. „Du hast versprochen, im Urlaub nicht davon anzufangen ...“


Jochen Ruscheweyh
(Textzitate aus Gypsy / Uriah Heep (M.Box/D.Byron) / 1970

Letzte Aktualisierung: 27.08.2010 - 21.41 Uhr
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