Liebe ist ... | September 2010
O DumĂš von Susanne Ruitenberg
âWas ist das, Oma?â Sina hĂ€lt ein lĂ€ngliches StĂŒck Kork hoch.
âEin Souvenirâ, antworte ich. Das hatte ich heute Morgen offenbar vergessen wegzurĂ€umen.
âUnd dieser komische Schlauch da?â Sie tippt an die Schlangenhaut, die ich auf die Rinde drapiert und mit Stecknadeln befestigt habe.
Vor so langer, langer Zeit.
âVorsicht, das ist empfindlich. Leg es hin, und ich erzĂ€hle dir die Geschichte dazu.â
Ihre Mutter wĂ€re dagegen, das weiĂ ich. Seit ihre Ehe gescheitert ist, gönnt sie niemandem etwas GlĂŒck, nicht einmal vergangenes. Aber ich habe die groĂe Liebe erlebt, und mit vierzehn ist meine Enkeltochter alt genug, davon zu hören. Zumal sie einen Freund hat und so wie die beiden miteinander umgehen, ist es was Ernstes.
âKomm her, setz dichâ, sage ich, und klopfe einladend auf das Sofa. Ich fische das dicke Album aus der Schublade und lege es vorsichtig auf den Couchtisch.
âMann, das sieht aber schĂ€big aus. Und es riecht muffig.â
âIst ja auch ziemlich alt.â
Sie grinst mich an. âAus der Zeit, als du jung warst.â
âGenau. Ich hatte mein Abi in der Tasche und erst fĂŒrs nĂ€chste Jahr einen Studienplatz ergattert. Also machte ich eine Rucksacktour durch Europa.â
âEcht jetzt?â
Ich nicke. âSo war es damals. Ihr habt heute eure Auslandsjahre in der Schulzeit. Gab es bei uns nicht.â
âUnd wo warst du ĂŒberall?â
âEngland, Holland, Luxemburg, Frankreich. In Marseille in der Herberge schwĂ€rmten ein paar Leute von Korsika. Sie ĂŒberredeten mich, mitzukommen.â
âUnd?â Erwartungsvoll sieht sie mich an.
âAm nĂ€chsten Tag nahmen wir die FĂ€hre. Sie hieĂ NapolĂ©on, glaub ich. Da wir kein Geld fĂŒr Kabinen oder LiegerĂ€ume ausgeben wollten, suchten wir uns ein ruhiges Eckchen und kampierten dort. Jedenfalls, am nĂ€chsten Morgen um sieben legten wir in Bastia an. Ich werde nie meinen ersten Blick auf die Stadt vergessen. Die verwitterten HĂ€user am alten Hafen mit ihren WĂ€scheleinen; die Berge im Hintergrund; die Palmen; die Oleanderhecken, darĂŒber der blaue Himmel.â Ich öffne das Fotoalbum und deute auf ein paar vergilbte Postkarten.
âHihi, die alten Autosâ, kichert Sina.
âWir quartierten uns in der Jugendherberge ein und erkundeten die Stadt. Nach ein paar Tagen gingen mir die anderen auf den Wecker und ich beschloss, auf eigene Faust die Insel zu erobern. Ich stieg aufs Geratewohl in einen Bus, der an der OstkĂŒste entlang in den SĂŒden fuhr.â
Ich schildere Sina, wie der Bus in Prunete, vierzig Kilometer sĂŒdlich von Bastia, liegengeblieben war. Ein Ersatzbus sollte erst Stunden spĂ€ter kommen. Da ich eine rudimentĂ€re CampingausrĂŒstung dabei hatte, beschloss ich, zu bleiben. Es gab direkt am Strand mehrere CampingplĂ€tze, einer davon hieĂ Campoloro. Ein hĂŒbsches GelĂ€nde, schattig. Es duftete nach Kiefern und Eukalyptus, nach heiĂem Staub und nach Meer. Als ich Jahre spĂ€ter wieder einmal dort weilte, reichte der Duft aus und ich war auf der Stelle wieder zwanzig.
Und brach in TrÀnen aus.
Jedenfalls suchte ich mir ein nettes PlĂ€tzchen fĂŒr mein winziges Zelt, kaufte im Campingshop ein paar Lebensmittel und ging an den Strand. Dort machte ich die Bekanntschaft einiger französischer Studenten. Sie hatten direkt neben dem Campoloro ein Studentencamp und luden mich fĂŒr den Abend in die Disco ein.
Wir tanzten, alberten herum und hatten unseren SpaĂ. Irgendwann war ich durstig und stand an der dicht belagerten Bar. Als ich mich bis zur Theke vorgearbeitet hatte, setzte ich an âUn Coca, sâil vous pl...â Weiter kam ich nicht.
Ich starrte den Barmann an.
Er starrte zurĂŒck.
Ich sah schwarze Augen wie glÀnzende Oliven. Ein spitzes Kinn und eine Hakennase, als wÀre er direkt dem Asterixheft entstiegen. Schwarzes Haar, kurz geschnitten, aber man sah, wie dicht und wellig es war.
Er hieĂ DumĂš, was die korsische AbkĂŒrzung von âDumenicuâ ist, also âDominiqueâ.
Ich gehe Sina gegenĂŒber nicht auf alle Details ein, aber die geplante Tour um Korsika war gestorben, als ich das erste Mal bei DumĂš ĂŒbernachtete. Ich blieb den ganzen Sommer. Als ich im Oktober wieder nach Deutschland zurĂŒckmusste, zerriss es mich fast. Stundenlang stand ich im eiskalten Fahrtwind an der Reling der FĂ€hre und beobachtete, wie Korsika langsam schrumpfte.
Mit jedem Zentimeter schrumpfte auch mein Herz.
Ich wĂ€re am liebsten kopfĂŒber ins Wasser gesprungen und zurĂŒckgeschwommen.
In Deutschland angekommen, warf ich alle StudienplĂ€ne ĂŒber den Haufen und lernte Restaurantfach. Als Abiturient brauchte ich dafĂŒr nur zwei Jahre. Meine Eltern tobten, aber das war mir egal.
Durch geschicktes Urlaubsmanagement und Aufsparen freier Tage konnte ich etwa alle drei Monate nach Hause fahren, zu DumĂš. Er hatte ein Restaurant ĂŒbernommen, nicht weit von Prunete, und steckte seine ganze Zeit und Energie hinein. Immer, wenn ich bei ihm war, half ich mit. Es lief gut, er kochte anfangs selbst und bediente, spĂ€ter musste er Personal einstellen. Wenn ich dann nach der Ausbildung endgĂŒltig zu ihm ziehen wĂŒrde, wollte er in der KĂŒche bleiben und ich mich um die GĂ€ste kĂŒmmern.
O DumĂš, perchĂš?
Sina blĂ€ttert langsam und vorsichtig das alte Album um. Die Bögen knarren und knistern, das Plastik brĂŒchig geworden. Dann hĂ€lt sie inne, streicht mit dem Finger ĂŒber ein Foto. âWow, sieht der umwerfend aus. In den hĂ€tte ich mich auch verliebt!â
Ich wische mir verstohlen eine TrĂ€ne aus den Augenwinkeln. Wie ĂŒberschwĂ€nglich mein zwanzigjĂ€hriges Ich die Bilder beschriftet hat. Aus jeder Seite quillt die Liebe zu DumĂš, zu seiner Heimat, die auch meine wurde, zu der korsischen Musik, die wir gemeinsam in Konzerten erlebten, zu den SpezialitĂ€ten wie SchafskĂ€se, Wildschweinragout und Clementinenlikör, zu der Sprache â wenn ich heute nur ein âAio!â oder âOh Zitelliâ höre, hĂ€mmert mein Herz und ich habe Sehnsucht, Sehnsucht und Heimweh. All die Jahrzehnte, die seitdem vergangen sind, konnten daran nichts Ă€ndern. Meine Ehe mit JĂŒrgen, meine Kinder, meine Karriere â nichts konnte Korsika und DumĂš aus meinem Herz tilgen.
Sina blÀttert langsam weiter. Meine Kehle wird eng.
Bald wird sie die entscheidende Frage stellen.
âWarum bist du nicht geblieben?â
âBlĂ€tter bis zum Ende, dann siehst du, warumâ, sage ich. Meine Stimme klingt rau und meine Augen brennen. Eine unsichtbare Hand quetscht mir die Brust zusammen wie ein Schraubstock. Ich möchte aufspringen, den Nippes aus dem Regal fegen, mit der Faust gegen die Wand schlagen und schreien. Stattdessen nehme ich einen Schluck Kaffee und hole tief Luft.
âEs war etwa ein Monat bevor ich meine PrĂŒfung machte.â
Ich strecke die Hand aus und blÀttere die letzte Seite um.
Kein Foto.
Nur ein vergilbter Zeitungsartikel mit einer fetten Schlagzeile und einem Bild. Einem schrecklichen Bild. Schwarz verkohlte Balken, zerborstene Fenster, MauerbruchstĂŒcke, zerfetzte Möbel.
âRestaurant ravagĂ© par une plasticage. PropriĂ©taire trouvĂ© mort sous les dĂ©combres.â
âMan konnte ihn kaum identifizieren. Der AttentĂ€ter ist nie gefasst worden.â
âDas ist ja schrecklichâ, haucht Sina. âWarst du dann nie mehr dort?â
âDoch, einige Male.â
âUnd Opa?â
Ich blicke zu dem Bild auf der Anrichte. Eine schöne Aufnahme; gemacht, bevor mein Mann von der Krankheit entstellt wurde.
âDer wusste nicht alles. Manche Sachen sollte man fĂŒr sich behalten.â
âWarum erzĂ€hlst du es mir?â
âWeil ich dich und Timo beobachtet habe.â
Sie wird rot und sieht ihre Schuhspitzen an. âMama mag ihn nicht.â
âIch weiĂ. Aber eins hat mich das Leben gelehrt, Sina.â
âWas?â Sie sieht mich an, TrĂ€nenschleier in ihren blauen Augen. Ihr Gesicht an der Schwelle zwischen Kind und Frau.
Ich nehme sie in den Arm. âWenn du die Liebe gefunden hast, halte sie fest. GenieĂe sie jeden Tag, als wĂ€re es der letzte Tag der Welt. Verteidige sie gegen alle Widrigkeiten.â
Ich wische ihr und mir die TrĂ€nen aus den Augen. âKomm, lass uns zur Eisdiele radeln. Ich brauche jetzt eine AbkĂŒhlung.â
Sina strahlt.
Die Eisdiele gehört Timos Papa.
Letzte Aktualisierung: 27.09.2010 - 17.09 Uhr Dieser Text enthält 8023 Zeichen.
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