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Liebe ist ... | September 2010
Echos Fluch
von Hajo Nitschke

Wie die gedämpften Streicher eines entfernten Orchesters wehen die Geräusche des fahrenden Zuges herein, hin und wieder ergänzt durch leises Schlagzeug. Schostakowitsch vielleicht. Die Mischung aus Euphorie und Angst davor, was ihn am Ende der Fahrt erwartet, beherrscht seine Gedanken. Allmählich geht die vorbeifliegende Sinfonie in die geschwätzige Akustik seiner Zuhörerschaft kurz vor der Lesung über. Fügt Filmschwenks aus einem Leben hinzu, kleine Kinderschritte hüpfen dazwischen: seine eigenen.

***

„Das hast du aber gut gemacht, Justin! (Mutter)
„Wir sind stolz auf dich, Bub! Sehr stolz“ (Vater).
Schon früh hat er alles übertrumpft. Im Sandkasten die schönsten Burgen, im Kindergarten der Stärkste. In der Musikschule der begabteste Klavierschüler. Nach Vaters frühem Tod ersetzte Mutter stellvertretend die gesamte elterliche Liebe. Und belohnte jede Leistung mit noch mehr Liebe. Klassenprimus in der Schule („Komm her, heute drückt dich Mama ganz besonders!“). Höchste Auszeichnungen im Sport, Sieger bei Bundesjugendspielen, bejubeltes Klavierkonzert bei der Schulabschlussfeier, Einser-Abi mit Notendurchschnitt 1,0 („Justin, Justin, lass dich umarmen. Keiner ist wie du!“). Die Mutter hatte jedoch ungewollt eine Saite angeschlagen, die den Heranwachsenden seelisch krank machte. Angstbesessene Entsprechungszwänge und Grandiositätsgefühle hatten sich gegenseitig hochgeschaukelt. Hatten eine bis in die Stratosphäre reichende Selbstüberhohung erzeugt, die mit ständiger Jagd nach Bestätigung auf allen Schauplätzen des Lebens einherging. Er liebte nur sich selber.

Als renommierter Autor musste jedes seiner Bücher die Rangfolgen anführen, die größten Auflagen erzielen und eine einzigartige literarische Wortgewalt aufweisen.
„Ach, wenn Papa das noch erlebt hätte …“ Mutters Worte, doch dann folgte sie Vater nach. Vielleicht, um diesem zu berichten? Dass sich Justin nun von niemandem mehr geliebt fühlte, verdoppelte seine Eigenliebe noch. Es machte ihn vollends einsam, was er mit umso mehr Anstrengung, Rechthaberei und Kontrolle ausglich.
Diagnose „Ausgeprägter Narzissmus“ würde es später heißen. Aber nicht eine Nymphe hatte ihn wegen verschmähter Liebe verflucht. Echo war die eigene Mutter …

Jahre später: Glatte, straffe Haut, markante männliche Züge. Verlangend blickende kristallblaue Augen, sinnlicher Mund. Beide haben achtlos ihre Kleidung abgestreift. Seine Hände umklammern die Testikel. Wandern etwas höher. Wie er sie liebt, die breiten Schultern. Brust, flacher Bauch, Muskeln, die Ausstrahlung eines dynamischen Erfolgsmenschen. Eines Siegers, dem man sich zu unterwerfen hat. Die Hand in Bewegung, beginnt er zu stöhnen. Schaut tief in die Abgründe dieser lockenden Augen, drängt sich der göttlichen Gestalt entgegen. Einem Testosteronsymbol, das ihn verführerisch anlächelt. Heftiger werdendes Keuchen dringt aus seinem Mund, der sich auf die entgegenwölbenden, vor Erregung verzerrten Lippen presst…

… und doch nur auf Glas trifft.

Er seufzt und kleidet sich an. Ja, er findet sich selber unwiderstehlich, wirft einen bewundernden Blick auf sein Spiegelbild, lächelt es an, scherzt mit ihm:
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönste im ganzen Land? – Herr Justin, niemand ist annähernd so schön wie Ihr!… Makellos, sexy: Kein Wunder, dass es ihn auf dem Laufsteg seines häuslichen Flures gelegentlich überkommt …

Noch am selben Tag: Er hat es diesem Wichtigtuer gezeigt! Hat ihn zurechtgestutzt.
Wie armselig du jetzt den Schwanz einkneifst, Bertuleit! Hast gewagt, ausgerechnet mir zu widersprechen, mich zu kritisieren, du Hanswurst! Schaust mich fast mit den Augen einer Schwuchtel an. Zuzutrauen wär’s dir.
Die Standpauke hat gesessen. Alle in der Redaktion des Verlages ducken sich schweigend hinter den Schreibtischen. Bertuleit wirft einen hilfesuchenden Blick auf die Lektorin. Sie schĂĽttelt verstohlen den Kopf, aber Justin hat es bemerkt. Soll sicher heiĂźen: Lass sein, Reiner, er hat Recht. NatĂĽrlich hat er Recht. Irene Meurer ist zwar eine eingebildete Gans, aber so clever wird sie wohl sein, Justins Ăśberlegenheit zu erkennen.

Manchmal meint er, sie stehe auf ihn. Hin und wieder sind ihre Blicke merkwürdig, streift sie wie zufällig seinen Arm. Gut, es wäre nicht verwunderlich. Er, der attraktive Frauentyp… Ein Hingucker, wenn nicht ein Adonis. Viele Frauen haben ihm das schon bestätigt! Aber mit keiner ging es länger als ein paar Wochen gut. Geschmack scheint die Lektorin also zu haben, aber fachlich kann auch sie ihm nicht das Wasser reichen. Ein verächtliches Lächeln tritt auf seine Lippen:
An dieser Stelle wĂĽrde ich zu einem Komma raten, Herr Kaufmann.
Ein Komma! Ha! Es war ihm ein Genuss, ihr die Grenzen aufzuzeigen. Seither hat die Lady nicht mehr aufgemuckt.

Kürzlich hat sie ihm Blumen hingestellt. Gelbe Narzissen. Etwa eine Anspielung? Gesundes Selbstbewusstsein mag er sich nicht absprechen. Nun ja, auch nicht eine kräftige Portion Selbstverliebtheit, oder? Wenn schon: Krankhafte Störungen sehen anders aus. Wer kann sich denn mit ihm messen? Der Bertuleit etwa? Pah! Der weiß doch gar nicht, was Leistung ist. Was es heißt, Tag und Nacht zu malochen. Wie kein anderer für den Erfolg zu schuften, so dass die Bücher reißenden Absatz finden und die Rezensionen sensationell sind. Auch heute Abend werden die Fans wieder Schlange stehen, um sich die Neuerscheinung handsignieren zu lassen. Der Verlags-Chef wünscht guten Erfolg und die Meurer drückt ihm am Ausgang wie immer ihren Glückszettel in die Hand. Mit einem flüchtigen Blick auf das bekannte „Viel Erfolg“ steckt er ihn großzügig ein: Ergebenheitsrituale ist er gewohnt.

Abends: Die Begrüßungsreden sind abgehakt, die Kritiker halten Papier und Bleistift bereit. Er blickt in die still werdende Runde. Ein kleiner Schluck aus dem Glas, ein vernehmliches Räuspern, der letzte prüfende Kontrollblick in den unauffällig platzierten Taschenspiegel: Justin weiß um seine Ausstrahlung und schenkt dem dicht gefüllten Saal ein breites Lächeln. Der Gastgeber, das Verlegerehepaar und andere Prominente schauen ihn erwartungsvoll an. Viele Autorenkollegen und -kolleginnen sitzen dahinter: So viele unfähige und kleinkarierte Neider! Zwischen ihnen und den zahlreichen Fans auch noch die Belegschaft des Verlages. Sogar Bertuleit, sieh an. Die Meurer fehlt. Er kann leicht auf sie verzichten.

Nach einer knappen halben Stunde hat er souverän den ersten Auszug hinter sich. Während des lauten Beifalls wieder der kurze Blick in den Taschenspiegel. Ein neues Lächeln wie zuvor, jedoch unauffällig mehr dem Spiegel geltend. Der zweite Auszug, anhaltender Applaus, Verbeugung nach allen Seiten.
„Danke. Danke vielmals. Wir machen nun eine Pause von fünfzehn Mi…“

Mitten im Wort passiert es. Wie ein Blitz trifft es ihn, schießt in die Wange, in den Kiefer. Schmerzen – unvorbereitet, unvorstellbar heftig und ihn brutal in die Knie zwingend. Er krümmt sich, umklammert das Pult. Doch es zieht ihn nieder, reißt ihn vom Stuhl, bis er auf dem Boden liegt. Die Zeit bleibt stehen. Das Aufspringen vieler Zuhörer nimmt er nicht wahr. Ebenso wenig hier und da einen Aufschrei und Rufe nach einem Arzt. Jemand ist auf das Podium gestürzt, stützt ihn. Die Welt besteht nur aus gnadenlosem Schmerz. Erst nach einer kleinen Ewigkeit weicht die Attacke einem dumpfen Ziehen, das ihn wieder zu Atem kommen lässt. Er erkennt Bertuleit an seiner Seite, der beruhigend auf ihn einredet und ihm den Kopf hält. Verlagsleiter und Gastgeber sind hinzugekommen. Weitere Besucher haben sich nach vorne gedrängt. Man richtet ihn auf, setzt ihn behutsam auf den Stuhl. Die Lesung ist beendet. Aus einer kurzen Pause werden beinahe zwanzig Monate.

***

Nach langer Zeit fühlt er sich jetzt schmerzfrei und imstande, wieder menschliche Gesellschaft zu suchen. Hitzegesteuerte Sonden hatten ihn endlich von den Schmerzen befreit. Bisher hatte er sich zurückgezogen, von seinem Vermögen gelebt und außer einer Haushälterin in den letzten Monaten nur noch die Ärzte und einen Psychotherapeuten an sich herangelassen. Trigeminusneuralgie, hervorgerufen durch eine verschleppte Nebenhöhlenentzündung.

Er, der Schönling, war durch eine feuerrote Gesichtshälfte gezeichnet, durch tränende Augen und laufenden Speichel gepeinigt. Das Gesicht bei den häufigen Anfällen verformt zur hässlichen Fratze. Welcher Tiefschlag für seine Hybris! Doch die Katastrophe war eine heilsame. Zwang ihn zur Aufdeckung ihrer Ursachen sowohl in seinem Körper als auch in seiner Seele. Es war so, wie sein Therapeut erklärte: Hat man die Seele erst mal unverhüllt betrachtet, macht es Klick, rasten die Zusammenhänge ein, erhält man die Chance für ein neues Leben.

Die wenig schmeichelhaften Bilder des alten Lebens aber, die Justin mit Scham erfüllen, laufen langsam aus. Während Schostakowitsch in ein monotones Summen übergegangen ist, spült dieses jedoch den Auftritt einer Gestalt aus den verblassenden Erinnerungen heraus. Sie schreitet im Gang des ICs langsam auf ihn zu. Zuerst wie ein Schemen, dann Kontur gewinnend. Steht direkt vor seinem Sitz. Nahaufnahme: Aus den vergangenen Jahren schält sich ein vertrautes Gesicht. Justin deutet auf den freien Platz vor sich. Sein imaginäres Gegenüber und er schauen einander an. Während der Intercity langsam das Tempo drosselt, gesteht Justin seine wahre Liebe, nämlich zu eben dieser Person im IC.

Die Melodie des Schienenstrangs geht in ein Adagio über und verstummt allmählich. Eine weite Reise mit der Reha als letzter Zwischenstation geht zu Ende. Der Platz vor ihm ist leer, aber bald wird er diesem Menschen in Fleisch und Blut gegenüberstehen. Der es damals wagte, ihm wenigstens schriftlich ein Liebesgeständnis zu machen und zu dem alle Züge seines Lebens schicksalhaft hingefahren sind. Bevor Justin aussteigt, überfliegt er zum letzten Mal die Schlusszeilen auf der Zettelrückseite:

„… denn um geliebt zu werden, bedarf es keines Verdienstes und keiner Leistungen. In Liebe, Ihre Irene Meurer“.

Letzte Aktualisierung: 20.09.2010 - 09.32 Uhr
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