Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Sie muss sich beeilen, in zehn Minuten soll das Essen auf dem Tisch stehen. Der Duft von Gemüse und Reis schwängert die ganze Küche. Der Fisch brutzelt im Ofen seinen letzten Minuten nach. Alles ist voller Dampf, die Fenster sind beschlagen, so dass der Regen draußen hinter einem Nebel verschwindet. Das Blubbern in den Töpfen ist als einziges einlullendes Geräusch zu vernehmen. Sie hätte jetzt auch nichts anderes hören können, sie riecht nur den Reis und das Gemüse. Ihre Nase irrt sich nie. Genau das ist der Duft und sie wird immer wieder davon ergriffen...
Dann sieht sie ihn im Dampf auf sich zukommen, sieht sein Gesicht, spürt in seinen Händen die Gier mit der Zartheit verschmelzen, die sie jedes Mal erschaudern lässt.
Sie fühlt seinen Körper, warm und weich und stark. Er hat große und zarte Hände, die ihr bei jeder Berührung dieses Gefühl der Vollkommenheit geben.
Ihre Haut vergisst niemals und lechzt nach immer neuen Erinnerungen. Er kann jeden Zentimeter ihres Körpers berühren als wäre es das erste Mal, seine Finger ziehen langsam Bahnen auf ihrer Haut, lassen kleine Sternchen zurück, die prickelnd zerplatzen. Er spürt jeder Rundung nach, langsam und schnell, spielt mit harter Nähe und zartem Umfangen.
Das Essen kann warten. Neben der Hitze des brodelnden Wassers lassen sie die Lust zu, fordern sie heraus, fliegen davon. Von wegen: „Liebe geht durch den Magen“. Das wissen sie besser. Sie fanden für sich den Namen Liebesmahl. Die Liebe, der erste Gang, Vorspeise und Hauptgericht in einem, manchmal auch nur ein eiskaltes Dessert mit flambierten Honigkirschen, das ihnen die Schädeldecke schier platzen lässt.
An den Küchenscheiben kullern Perlen den einzigen Weg, den sie nehmen können, nach unten. Die salzigen Perlen an ihrem Körper, die stets in neue Pfade münden, findet er alle und nimmt sie mit seiner Zungenspitze auf.
Der Dampf findet keinen Ausweg, bleibt im Raum stehen, staut sich, die Temperatur steigt. Er umarmt sie und schiebt sie küssend auf ihr Lager, das ihre Körper in jedem Nebel finden. Die Luft ist erfüllt mit dem Duft des bevorstehenden Mahls, der sich in alle Poren schleicht. Duft, Hitze, Begehren – danach erst das Mahl.
Wenn durch wollüstig heiß geküsste Lippen etwas auf ihre Zungen trifft, die zuvor ein Feuerwerk entfachten, schmeckt jede Speise himmlisch. Wenn der Wein langsam die Kehle hinunter gleitet und seinen Weg in ihren Bauch findet, ist es als spüre sie noch einmal seinen Mund über ihren Körper gleiten...
Der Duft wird stärker, das Blubbern lauter, der Dampf immer dichter.
Bis alle Eindrücke sich vermischen, plötzlich störend wirken und ihre Stirn sich in Falten legt.
Er macht immer den gleichen Lärm, kommt zur Tür herein, für die er seit ihrem letzten Schwächeanfall vor drei Monaten einen Schlüssel besitzt, setzt sich ans Klavier und spielt eines dieser neuen Lieder, die er Jazz-Rap nennt. Dann erst kommt er zu ihr in die Küche. Gesehen hatte er sie aber sofort, doch sein Taktgefühl lässt ihr noch ein wenig Zeit, sich wieder zu finden.
„Omi“, ruft er zwischen ein paar leiser gespielten Rhythmen, „Wann erzählst du mir endlich die Geschichte, an die du immer denkst, wenn du beim Kochen so ganz der Welt entfremdet bist?“
„Heute, mein Großer, heute, es wird Zeit – das Essen ist fertig“
Sybille Schwarz, September 2010
Letzte Aktualisierung: 12.09.2010 - 11.48 Uhr Dieser Text enthält 3369 Zeichen.