Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Liebe ist ... | September 2010
Emma
von Ingo Pietsch

Emma liebte es, wenn Max mit seinen Händen über ihre Kurven fuhr. Wenn seine Finger zärtlich die Konturen nachfühlten und über jede Unregelmäßigkeit ihrer Lackierung glitten.
Jedes Mal durchfuhr sie ein wohliger Schauer, wenn sie seinen Atem spürte und Max anschließend die dreckige Stelle mit einem weichen Tuch säuberte.
Emma hatte ihren Namen von ihrer ersten Besitzerin, einer alten Dame, bekommen.
Irgendwann beim Rückwärtseinparken hatte sie einen Zaun gestreift und ein Teil des Schriftzuges des Typ-Schildes war abgebrochen. Nur die ersten beiden Buchstaben waren übriggeblieben: M und A.
Viel war die Frau mit dem Auto nicht gefahren, so dass sich Emma einen Garagenwagen nennen durfte.
In zehn Jahren hatte Emma nicht einmal sechzigtausend Kilometer auf dem Tacho gehabt.
Allerdings war Emma unglücklich geblieben, da die alte Dame sie niemals richtig ausfuhr.
Dann starb ihre Besitzerin. Emma fürchtete sich, auf den Schrottplatz zu kommen, weil sie schon so alt war und wahrscheinlich niemand mehr haben wollte.
So fand Emma schließlich ihren Weg über Max’ Eltern, die sie ihm zu seinem achtzehnten Geburtstag schenkten.
Emma ließ die Schalt- und Abbockorgien geduldig über sich ergehen.
Nachdem Max sie einigermaßen unter Kontrolle hatte, half sie ihm beim Fahren.
Immer wieder griff sie beim Schalten, Bremsen und Lenken mit ein, ohne dass er es merkte.
Max behandelte sie wie seinen größten Schatz. Nach und nach wurde Emma getunt und bekam Extras eingebaut, von denen das Auto nie zuvor geträumt hatte.
Emma wusste, dass sie geliebt wurde und gab diese Liebe durch ihre Hilfe zurück.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Max ein anderes weibliches Wesen, jedoch aus Fleisch und Blut, kennenlernte.
Aber das störte Emma nicht. Umso mehr Spritztouren machten die drei jetzt miteinander. Mit ein wenig Hilfe per Radio und Kuschelsongs sorgte Emma dafür, dass sich die beiden näher kamen.

Auf dem Rückweg von einer Feier war es merkwürdig still im Auto.
Irgendwann sagte Max’ Freundin dann: „Ich bin schwanger!“
Max durchlitt ein Wechselbad der Gefühle.
Er wusste nicht genau, ob er sich freuen sollte.
Seine Hände verkrampften sich am Lenkrad.
Sie sah ihn an und entnahm seinem Gesichtsausdruck, dass er nachdachte.
Ohne eine Antwort abzuwarten sagte sie: „Jetzt brauchen wir ein größeres Auto!“
Anscheinend hatte sie schon im Voraus geplant und sich dabei wesentlich besser gefühlt als es Max in diesem Moment ging. Dieser bremste ab und hielt an.
Er sah ihr direkt in die Augen und erkannte an ihrem Blick, dass sie ihn mehr liebte denn je.
Max sagte gar nichts, sondern umarmte und küsste sie.
Dann fuhr er wieder los.
Tränen liefen ihr übers Gesicht, so erleichtert war sie über seine liebevolle Reaktion.
Plötzlich platzte der vordere rechte Reifen. Emma zog Richtung Straßengraben.
Max trat mit voller Wucht auf die Bremse und versuchte gegenzulenken.
Das Auto wurde nur unmerklich langsamer.
Er drehte den Zündschlüssel, ließ ihn aber wegen des Lenkradschlosses stecken.
Außerdem hatte er Angst, dass sich das Gaspedal verklemmt hatte.
Emma riss wieder am Lenkrad und der Wagen flog über den flachen Graben.
In voller Fahrt rasten sie über ein Stoppelfeld.
Die beiden Insassen konnten nicht sehen, wohin sie fuhren, denn Emma hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet.
Max versuchte, den Schlüssel zu drehen, doch der klemmte.
Beide wurden in die Gurte gepresst und der Wagen kam ruckartig zum Stehen.

Max war ohnmächtig geworden und erwachte erst im Krankenhaus wieder.
Seine Eltern erzählten ihm, dass seine Freundin ums Leben gekommen war.
Dass sie von einem Ast des gerammten Baumes aufgespießt worden war, erfuhr er erst später.
Er war nur leicht verletzt und konnte das Krankenhaus bald wieder verlassen. Eigenartigerweise war auch das Auto relativ glimpflich davongekommen.

Max erholte sich körperlich rasch, aber er zog sich sehr zurück.
Gelegentlich betrat er die Garage, in der sein Auto stand.
Die Schäden waren nicht einmal so groß wie angenommen: Eine zersplitterte Frontscheibe, zwei platte Reifen und ein defekter Scheinwerfer.
Ein halbes Jahr lang ging er jeden Tag, um nach dem Wagen zu sehen.
Langsam fing er an, den Staub abzuwischen und den Scheinwerfer zu ersetzten.
Dann folgten die Räder und die Scheibe. Zuletzt entfernte er das eingetrocknete Blut auf dem Beifahrersitz.
Max verbrachte mehr Zeit mit Emma als mit seinen Freunden und seiner Familie.
Er schlief sogar im Wagen.
Dann kam der Todestag seiner Freundin.
Er rollte den Wagen nach draußen und startete das Fahrzeug nach einem Jahr zum ersten Mal.
Nach mehrmaligen Versuchen sprang Emma schließlich an. Aus dem Radio ertönte Puff Daddy mit „I`ll be missing you“.
Max schaltete das Radio aus und fuhr los.

Emma freute sich, wieder gefahren zu werden. Sie hatte Max bei seinen Reparaturen beobachtet und festgestellt, wie niedergeschlagen er war. Sie konnte ja verstehen, dass er traurig war, doch musste sie an sich selbst denken. Er musste doch fühlen, dass seine Freundin nicht die Richtige für ihn gewesen war, wenn sie schamlos von einem anderen, größeren Wagen sprach. Deshalb hatte Emma gehandelt. Sie durften nicht getrennt werden!
Emma registrierte nur beiläufig, dass es dämmerte. Auch bekam sie nicht wirklich mit, dass er die gleiche Strecke wie vor einem Jahr abfuhr.
An der Straßeneinmündung zum Unfallort hin blieb Max stehen. Die Minuten dehnten sich.
Plötzlich gab er Gas, bis die Reifen durchdrehten.
Emma genoss es gefordert zu werden. Dadurch fühlte sie sich geliebt.
Mit viel zu hoher Geschwindigkeit rasten sie dahin.
Erst jetzt begriff Emma, was ihr Fahrer vorhatte.
Er wollte sie töten!
Nein! Sie würden für immer zusammenbleiben!
Sie passierten die Stelle, an der es zum Stoppelfeld ging.
Max schlug ein und Emma lenkte gegen.
Aber Max lenkte mit. Das Heck schlug aus und Emma drehte sich um die eigene Achse.
Jetzt bekam Max doch Angst. Er riss die Tür auf und versuchte den Gurt zu lösen. Doch Emma hielt ihn fest. Sie konnte nichts mehr gegen ihr Ende tun.
Mit einem kurzen Rumsen kam der Wagen an einem Baum zum Stehen und wickelte sich mit der Beifahrerseite um den Stamm.
Max atmete noch. Emmas Motor hingegen erstarb.
Langsam erloschen die Lichter am Armaturenbrett.
Max schüttelte die Benommenheit ab.
Wie hatte er nur auf die Idee kommen können, sich selbst zu töten? Das hätte seine Freundin sicher nicht gewollt.
Er versuchte sich aus dem Wrack zu befreien.
Dabei spürte er unten im Kreuz einen stechenden Schmerz. Als er sich vorsichtig umsah, bemerkte er ein langes, rasiermesserscharfes Metallstück, das ihn aus dem Blechknäuel hinter sich durch die Sitzlehne hindurch aufgespießt hätte, wäre der Aufprall heftiger gewesen. Erschrocken und erleichtert zugleich drehte er sich wieder nach vorn und löste seinen Gurt.
Das Radio sprang erneut an: Whitney Houston sang „I will always love you“.
In diesem Augenblick dache Emma ihre letzten Gedanken:
Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich niemand haben!
Und mit einem lauten Knall entfaltete sich der Airbag…

Letzte Aktualisierung: 19.09.2010 - 11.15 Uhr
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