Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Liebe ist ... | September 2010
Auf Herz und Gewissen
von Gisela Reuter

Die Tür geht auf und ein Golden Retriever schreitet ins Wartezimmer. Am anderen Ende der Leine befindet sich ein Herr, bei dessen Anblick ich um ein Haar das Atmen vergesse. Richard Gere!
Natürlich nicht persönlich, aber die Ähnlichkeit mit ihm ist derart verblüffend, dass mir die Spucke wegbleibt. Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich mich im Kino sitzen. Julia Roberts im Hotel. Auf der Pferderennbahn. Beim Shoppen. Eine herzergreifende Romanze.

Während Richard freundlich grüßt und Platz nimmt, versuche ich angestrengt, meinen Blutdruck und gleichzeitig meinen Pudel unter Kontrolle zu halten. Mit solch einem Mann im Wartezimmer zu sitzen, ist schon ein ausgesprochener Glücksfall und ich stiere ihn an wie einen Außerirdischen.
Amüsiert grinst Richard zu mir herüber und ich spüre, dass ich erröte. Verschämt wende ich den Blick ab, zerre meinen nervösen Pudel auf den Schoß und starre zur Abwechslung auf seinen Golden Retriever. Wie brav er zu Richards Füßen liegt. Ein Ohr umgeklappt und die Vorderpfoten übereinander geschlagen. Richard beugt sich zu ihm herab und gräbt seine wunderschön geformten Hände ins Hundefell. Hinreißend sieht das aus. Überhaupt geben die beiden ein herrliches Bild ab. Herrchen und Hund. Partner und Kumpel.
Richard, in Jeans und weißem Hemd, riecht außerdem verdächtig gut nach herbem Rasierwasser.
„Hach“, seufzt mein Herz.
„Wie albern“, stöhnt mein Gewissen.
Und mein Pudel zittert wie Espenlaub. Wie immer, wenn wir beim Tierarzt sind. Hoffentlich pieselt er mir nicht auf die Hose. Er quiekt erbärmlich. Zärtlich drücke ich ihn an meine Brust, tätschele seinen Rücken und stelle mir vor, er sei Richard. Ich schließe einen Moment die Augen, doch mein Gewissen holt mich augenblicklich in die Realität zurück.
„Reiß dich zusammen“, schimpft es, „so einer wird verheiratet sein.“
„Spaßbremse!“ zischt Herzchen.

Richard schaut derweil aufmunternd zu uns herüber.
„Na, da hat aber jemand Angst.“
Seine sonore Stimme jagt mir eine dreifache Gänsehaut über den Rücken. Sein Blick drückt echtes Mitleid aus und es gelingt mir lediglich stumm zu nicken. Meine Zunge klebt am Gaumen, mein Magen macht einen Flik-Flak, und wie ich jemals wieder Spucke in meinen Mund kriegen soll, ist mir ein Rätsel.
„Los, sag was“, fordert Herzchen mich ungeduldig auf.
„Bloß nicht!“ Mein Gewissen hält sofort energisch dagegen
„Doch“, kräht Herzchen, „sonst denkt er noch, du seiest unfreundlich.“
Ich werfe zur Speichelflussanregung ein Bonbon ein, räuspere umständlich meinen Frosch aus der Luftröhre und versuche gleichzeitig, meine Anspannung wegzuatmen.
Richard sieht mich erwartungsvoll an.
Mein Herz drängelt energisch, und unfreundlich will ich nun wirklich nicht erscheinen. Das Bonbon befördere ich vorübergehend mit der Zunge in die rechte Wangentasche und trommele allen Mut zusammen. Zaghaft blicke ich zu Richard, der noch immer hingebungsvoll seinen Hund krault.
„Ifft Ihr Hund auch frank?“, höre ich mich gleichdrauf nuscheln.
Scheiße.
Dämlicher geht’s nicht. Natürlich ist er krank. Sonst wäre er ja nicht hier.
„Vermasselt“, jammert Herzchen.
„Bescheuert“, schimpft mein Gewissen.
Aber Richard lächelt amüsiert. „Nein, nein, Arco wird geimpft.“
Puh. Schwein gehabt.
Arco, hach, welch schöner Name. Und bei Richards Lächeln schmelze ich augenblicklich dahin wie Gorgonzola in heißer Sahnesoße.
Mein Pudel äugt derweil vorwitzig zu Arco. Der legt den Kopf schräg und schaut mit treuem Hundeblick zurück.
„Siehste“, brabbelt Herzchen, „die mögen sich auch.“
Ich zerkaue nervös den Bonbonrest und schicke ein Stoßgebet in den Himmel, dass sich der Tierarzt bitte um Einiges verspäten möge.

Mein Gebet wird unverzüglich erhört und die Tür zum Wartezimmer fliegt auf.
„Der Doktor muss zu einer gebärenden Schäferhündin“, verkündet eine resolute Stimme im weißen Kittel, „möchte jemand einen neuen Termin? Möchte jemand warten?“
„Warten!“, kräht Herzchen.
„Neuen Termin!“, befiehlt mein Gewissen.
Aus dem Augenwinkel schiele ich zu Richard, der gelassen die Schultern zuckt. „Ich warte.“
„Ich auch!“, pariere ich wie aus der Pistole geschossen und ziehe damit unweigerlich den Zorn meines Gewissens auf mich.
Ich bilde mir ein, dass Richard eben erleichtert ausgeatmet hat und lehne mich erlöst zurück. Erste Runde geschafft. Ich darf seine Anwesenheit noch ein wenig genießen.
„Gut gemacht“, wispert Herzchen.
„Du wolltest doch gleich noch zu den Eltern fahren“, mahnt mich mein Gewissen eindringlich und vorwurfsvoll.
„Wir schicken ne SMS“, schlägt Herzchen vor.
SMS ist gut. Unschuldig tippe ich meine Entschuldigung ins Handy und habe somit alle Zeit der Welt.
Ich genieße die wohlige Wärme, die meinen Körper erfasst und flehe mein Herz an, etwas gleichmäßiger zu schlagen.

Draußen scheint die Sonne und ich überlege, dass man sich die Wartezeit gut mit einem kleinen gemeinsamen Spaziergang vertreiben könnte.
Verstohlen äuge ich zu Richard und er äugt genauso verstohlen zurück.
Offensichtlich scheint er dasselbe zu denken.
„Ich drehe eine Runde“, verkündet er und steht auf. Arco erhebt sich auf der Stelle. Ich springe ebenfalls hoch. Mein Pudel erschrickt und plumpst auf’s Linoleum.
„Juchhu, wir gehen mit Richard spazieren“, jubelt Herzchen aufgeregt.
„Bleib, wo du bist!“, befiehlt mir mein Gewissen streng.
„Nö, vergiss es“, kräht Herzchen keck, „wir gehen raus!“
Natürlich gehen wir. Unsere Hunde werden Pipi müssen.
Ich lasse mir von Richard in den Mantel helfen und überlege, mein Gewissen für die nächsten zwei Stunden zu ignorieren.

„Einen Spaziergang in Ehren kann niemand verwehren“, trällert mein Herzchen unschuldig daher, während mein Gewissen schmollt.
Ach, vielleicht ist Richard ja gar nicht verheiratet.

Arco geht brav bei Fuß und mein Pudel zeigt sich von seiner schlechtesten Seite. Er zerrt an der Leine, stranguliert sich beinah und pieselt mitten auf den Bürgersteig. Nachdem eine ältere Dame seinetwegen fast vom Rad gekippt wäre, schlägt Richard vor, in den nahegelegenen Wald auszuweichen.
„Huch“, ruft mein Gewissen erschrocken, „du wirst doch wohl nicht etwa mit einem fremden Mann in den Wald gehen?“
Unschlüssig bleibe ich stehen und Richard lächelt.
Ach, er wird mir schon nichts tun.
„Aber vielleicht wollen wir ja, dass er uns was tut“, meldet sich Herzchen kichernd und vorlaut, worauf mein Gewissen nur ein abfälliges Knurren übrig hat.

Wir lassen unsere Hunde frei laufen und gehen schweigend nebeneinander her.
Wie wohl seine Frau aussieht? Ob er Kinder hat? Mein Hirn rattert auf Hochtouren. Was mag er beruflich machen? Wie fängt man ein Gespräch mit einem fremden Mann an? Wie machen andere das eigentlich?

„Ich heiße übrigens Peter“, sagt Richard nach einer Weile und ich stolpere vor Schreck über eine Wurzel. Peter hieß mein erster Freund. Der Trennungsschmerz steckt mir noch heute in den Gliedern. Aber dafür kann Peter-Richard ja nichts. Ich stelle mich ebenfalls vor und erwähne beiläufig, dass ich alleine lebe, wie alt ich bin und dass ich übermorgen Geburtstag habe. Peter lacht.
„Übermorgen? Interessant. Ich auch.“
Das ist jetzt nicht wahr.
„Der lügt“, zischt mein Gewissen, „solche Zufälle gibt’s nicht.“
„Gibt’s wohl“, zischt Herzchen zurück.
Wie sich herausstellt, ist Peter genau ein Jahr älter als ich und vor vier Monaten aus Brasilien zurückgekehrt. Drei Jahre Auslandskorrespondent in Sao Paulo. Wow. Der Mann hat ja schon echt was von der Welt gesehen. Aber ich weiß noch immer nicht, ob er eine Frau hat.
Es fühlt sich verdammt gut an, an seiner Seite durch den Wald zu laufen. Zu gut. Wenn er mir gleich von seiner Frau erzählt, werde ich mich allerdings auf dem Absatz umdrehen müssen.

Diese Ungewissheit halte ich nicht aus. Ich will es wissen. Jetzt. Sofort!
Ich stolpere schon wieder über eine Wurzel. Peter grinst. Dann fasse ich mir ein Herz.
„Und Ihre Familie? War sie mit in Brasilien?“.
Peter nickt und meine Atmung stellt augenblicklich ihre Funktion ein. Er hat genickt. Er hat Familie. Aus der Traum. Mein Herz und mein Gewissen schweigen.
Die grüne Farbe weicht aus den Bäumen. Und die blaue aus dem Himmel.
Die Sonne ist hinter einer Wolke verschwunden und ich wünsche mir, ich könnte das auch. Einfach so verschwinden.
Wieso bin ich eigentlich mitgegangen? Wieso hatte mein Pudel gestern Durchfall? Wieso war ich bei diesem unzuverlässigen Tierarzt? Der erste Peter hat mich verlassen und der zweite hat Familie. Natürlich.

„Ja“, höre ich Peter plötzlich sagen, wobei ich doch eigentlich gar nichts mehr hören will, „meine Eltern waren im letzten Jahr in Brasilien. Und meine Schwester ebenfalls.“
Eltern? Schwester? Hab ich das jetzt richtig verstanden?
Um Zeit zu gewinnen, umlaufe ich die nächste Wurzel großräumig.
Außer einem freudig verdatterten „Aha?“ kriege ich keinen Ton heraus.
Peter klärt mich auf. „Mein Vater ist Schriftsteller und hat die Zeit dort genutzt, einen Roman zu schreiben. Und meine Schwester hat nach dem Abitur ein Jahr lang in Rio gejobbt.“

Leichtfüßig hüpfe ich über den Waldboden. Mein Gewissen hält sich dezent zurück. Herzchen jedoch klatscht vor Freude in die Hände und trällert bereits die schönste Komposition von Richard Wagner.
„Treulich geführt – “
Juchhu! Er ist frei!
„– ziehet dahin – “
Ich bin frei!
„ – wo euch der Segen der Liebe bewahr.“

Ich sehe auf die Uhr. Eigentlich ist es schon wieder Zeit umzukehren. Gerade nimmt Peter meinen Arm, um mich vor der nächsten Wurzel zu bewahren und ich überlege, was wohl nach dem Tierarzttermin geschieht.
„Sag bloß nicht nein, wenn er fragt, wegen Kaffee und so“, kräht Herzchen aufgeregt.
Oh nein, das werde ich nicht tun.
Auf gar keinen Fall.
Ich schwöre.
Auf Herz und Gewissen.

„ – eint euch in Treue zum seligsten Paar!“


© 2010, Gisela Reuter

Letzte Aktualisierung: 27.09.2010 - 16.55 Uhr
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