Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Liebe ist ... | September 2010
Die unversehrte Liebe
von Farida Halib

Sie fuhr aus dem Schlaf. Da war er wieder, dieser Traum! Der Zweifel hatte sich bis in ihren Schlaf genagt, und er wurde geradezu unerträglich.

Auch heute waren sie sich in ihrer Welt der Träume so nahe gekommen, wie sie sich in der Wirklichkeit nie gewesen waren. Er hatte ihre Hand in die seine genommen. Sie hatte sich geschützt, geborgen und glücklich gefühlt ... ,und als sie ihm schließlich gegenüberstand, war es unübersehbar: Er war einen ganzen Kopf kleiner als sie!

Sie trafen sich im gelben Schulbus, der sie aus den Außenbezirken Ricciones zum sechs Kilometer entfernten Schulgelände brachte. Als er Ärger mit dem Busfahrer bekam, weil er akrobatische Übungen im Bus vollführte und schließlich von einer Sitzreihe zur nächsten sprang, war er ihr aufgefallen.

Es waren ihre ersten Schultage in Italien.

Es bedurfte mehrerer Busfahrten, bis sie durchschaute, dass der enthusiastische Ausruf „Allemagne!“, den er während der Fahrten im Fond des Busses von sich gab, ihr galt. Unauffällig begann sie, das Werben und den Werbenden zu beobachten. – Er, der von seinen Mitschülern „Robi“ gerufen wurde, besuchte die Parallelklasse, französische Sektion; ein glücklicher Umstand, denn, dass sie auf der italienischen Schule als „la tedesca“, die Deutsche, bezeichnet wurde, verstand sie gegenwärtig noch nicht, aber „allemagne“ ließ sie unmissverständlich an Deutschland denken.

Die Schulbusfahrten waren aufregend, untermalt vom milden Herbst. Während sich die Kakis in den Gärten an der Straße erst goldgelb und dann beinahe rot färbten, begann sie, die Gesten und Anspielungen ihres Verehrers mit flüchtigen Blicken zu quittieren. Von den kühnen Sprüchen, die ihr galten, verstand sie wöchentlich etwas mehr, obwohl sie ihnen weiterhin mit ahnungsloser Unschuldsmiene begegnete. Schließlich konnte ihr dieses Verhalten nicht als Arroganz ausgelegt werden ... sie war, wie alle wussten, „la tedesca“, die nicht verstand. In der Tat verstand sie nicht viel von dem, was in ihrer Gegenwart gesprochen wurde. Im Unterricht kamen seltener Zweifel auf: „Raggio, circonferenza, tangente“ waren Ausdrücke, die schnell gelernt waren, zumal auch noch durch Zeichnungen untermalt. Die Bemerkungen, die immer in ihrem Rücken im Fond des Busses fielen, ließen hingegen die romantischsten und tiefgründigsten Auslegungen zu, und beflügelten die Phantasien der Zwölfjährigen, die sie war.

Die drei Wochen, in denen ihre Klassen die Sporthalle miteinander teilen mussten, waren die schönsten und aufregendsten ihres Lebens. Sie spürte immer genau, wo er sich befand, fühlte seine Blicke oder hörte seine Stimme. Die damit verbundenen Adrenalinschübe verliehen ihr Flügel. Sie verhalfen ihr zu Spitzenleistungen im Hochsprung, zu der sich Mädchen und Jungen um die Matten eingefunden hatten und applaudierten. Ganz unverbindlich konnte sie nun ihr triumphierendes Lächeln in die Menge der Umstehenden werfen und ihren Blick auf dem Gesicht verweilen lassen, das ihr am meisten bedeutete, das aus der Kulisse hervorstach.

In jenen Tagen entdeckte sie, dass ihr Verehrer eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Schauspieler und Sänger Adriano Celentano hatte. Nach den Hausaufgaben versäumte sie keinen von Celentanos Filmen, die wiederum Futter für romantische Phantastereien und Schmachtgefühle hergaben. Sein freches Lachen verfolgte sie in ihre Träume.

Die Weihnachtsferien sollten dieser Aufeinanderfolge von aufregenden Treffen erst einmal ein Ende setzen. Dieser traurige Umstand veranlasste ihren Verehrer zu außergewöhnlich deutlichen Sympathiebekundungen aus deutlich geringerer Distanz ... und da fiel es ihr zum ersten Mal auf ... er war von kleinem Wuchs, möglicherweise kleiner als sie selbst!

Am sonnigen Weihnachtsmorgen erwachte sie durch das Tuckern eines alten Mofas. Sie sprang aus dem Bett. Ans Ende der Sackgasse, hier draußen im Industriegebiet, verirrte sich nie jemand! Am Fenster sah sie ihn gerade noch, wie er um die Ecke bog. Noch im Pyjama erreichte sie den Briefkasten am Gartenzaun und darin lag tatsächlich ein gelber Briefumschlag, auf dem ihr Name stand. Bevor sie jemand in diesem glückseligen Moment stören konnte, floh sie in ihr Zimmer. Sie folgte der Eingebung, den Briefumschlag zu beschnuppern. Ein seltsamer Geruch ging von ihm aus, nicht eigentlich angenehm, aber doch einprägsam, so markant, dass sie sich dreißig Jahre später noch daran erinnern sollte. Dann riss sie ihn voll freudiger Erwartung auf und sah ihre kühnsten Träume dadurch bestätigt, dass ein silbernes Kettchen mit Anhänger daraus fiel. Der Anhänger war ein winziger Umschlag mit dem eingravierten Schriftzug „Al mio grande amore“, meiner großen Liebe. Das Brieflein war zu öffnen und beinhaltete ein silbernes Plättchen mit der Aufschrift „ti amo!“. Sie genoss liebestrunken die Erfüllung eines Traumes, diese triumphale und doch auch süße Bestätigung.

Als der Schulalltag wieder seinen Lauf nahm, waren die Umwerbungen weniger aggressiv, dafür aber durch ein beruhigendes, stummes Einvernehmen gekennzeichnet.

Im folgenden Sommer fiel ihrer Mutter der kapriolenschlagende Mitschüler am Strand auf. Da entschloss sie sich schließlich, ihre Mutter einzuweihen und sie nach ihrem Urteil hinsichtlich des Größenunterschiedes zu befragen. Diese berief sich jedoch auf Kurzsichtigkeit und mangelndes Schätzungsvermögen und half nicht weiter.

Im zweiten Schuljahr, als es keine Sprachbarrieren mehr gab, sorgten ihre Mitschülerinnen dafür, dass jeglicher Zweifel aus der Welt geschafft wurde. Da auch ihnen die Werbungen nicht verborgen geblieben waren, brachten sie zur Sprache, dass ihr Verehrer hoffnungslos zu klein sei. - Da tröstete auch die Ansicht ihrer Mutter nicht, in einem Paar müsse nicht immer der Mann der Größere sein, in der Tierwelt sei es sogar meist umgekehrt. Aber das Bild einer schwarzen Witwe tötete ihre romantischen Vorstellungen von der Liebe. Da half schon eher die Aussicht, dass ein Dreizehnjähriger, aller Wahrscheinlichkeit nach, noch wachsen werde.

Ihre hoffnungslose Liebe machte nun ihre nächtlichen Träume zu traurigen Gebilden. Er nahm ihre Hand nicht mehr in die seine ...

Schließlich aber schlich sich erneut Hoffnungsschimmer in ihre Liebesträume zurück. Immer wieder stellte sie mit tiefster Freude fest, dass sich alle getäuscht hatten, dass er keineswegs kleiner als sie selbst war ...

Als zuguterletzt auch ihr Traumbewusstsein keinen Selbstbetrug mehr zuließ, da schenkte ihr die Hoffnung eine neue, sich nun ständig wiederholende Version ihres Traumes: Plötzlich durfte sie feststellen, dass er wunderbarerweise gewachsen, ja geradezu von stattlicher Größe war. Ihrer Liebe stand nun nichts mehr im Wege, und sie konnte ihren Gefühlen freien Lauf lassen.

Dann kam sie auf die weiterführende Schule. Es gab keine gemeinsamen Fahrten im gelben Schulbus mehr. Sie sahen einander nicht mehr. Die Träume wurden immer seltener. Die ersten Disko-Besuche, während derer sie sich an den Anblick knutschender Horden Jugendlicher gewöhnte, gaben dem Thema Liebe einen pragmatischeren Aspekt. Für Romantik blieb nur wenig Raum. Sie lernte die Notwendigkeit, Kompromisse einzugehen.

Zwei Jahre waren vergangen, als sie sich plötzlich im Gedränge einer Disko genau gegenüberstanden. Überrascht blickte sie in das einst so geliebte Gesicht und nahm wahr, dass er in die Höhe geschossen war, wie in ihren letzten Träumen! - Aber sie wusste nicht, was sie mit diesem pickligen Jüngling, der ihr da gegenüberstand, anfangen sollte. Die Erinnerung an ihn war zum Inbegriff für Romantik geworden. Aber wann hatten sie schon je miteinander gesprochen? Was wussten sie überhaupt voneinander? Sie entschloss sich im Bruchteil einer Sekunde, ihren Traum unversehrt zu lassen, ihn in ihrem tiefsten Inneren zu verschließen und zu pflegen, unantastbar. - Sie gab kein Zeichen des Wiedererkennens, drängte sich in der Menschenmenge an ihm vorbei.

Das silberne Kleinod ist einem ihrer zahlreichen Umzüge zum Opfer gefallen. Die romantischen Erinnerungen an das Hofieren ihres Märchenprinzen jedoch, die tiefen Gefühle bewahrt sie noch wie einen Schatz in ihrem Inneren. Voll Dankbarkeit erinnert sie sich der undankbaren Rolle, die er für sie gespielt hat. Sein Name ist für immer mit Liebessehnsucht verbunden: Roberto Del Medici, die unversehrte Liebe!

Letzte Aktualisierung: 17.09.2010 - 09.02 Uhr
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