Der Tod aus der Teekiste
Der Tod aus der Teekiste
"Viele Autoren können schreiben, aber nur wenige können originell schreiben. Wir präsentieren Ihnen die Stecknadeln aus dem Heuhaufen."
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Liebe ist ... | September 2010
Klebestärke: permanent
von Harry Michael Liedtke

Oh wei, was hatte er getan? Ingo schlug sich genervt gegen die Stirn. Hätte er doch bloß seine Klappe gehalten. Was hatte ihn bloß geritten? Er hätte sich doch denken können, dass seine Angetraute bei dem despektierlichen Spruch an die Decke gehen würde.
„So, so, der Herr meint, er als Alleinverdiener sei hier der große Boss, der alles bestimmen dürfe? Sag mal, Ingo, bist du noch bei Trost? Nur, weil wir von deinem Verdienst die Rechnungen bezahlen, heißt das nicht, dass dir alles hier gehört.“ Henrietta tobte – und das bereits seit Stunden.
„Schatz, bitte ...“
„Was ich hier im Haus mache, das zählt wohl gar nicht?“, unterbrach Henrietta ihren Gatten schrill.
„Natürlich zählt das was. Sehr viel sog...“
„So haben wir nicht gewettet“, funkte Henrietta ihrem Mann abermals dazwischen. Wie sie so vor Ingo stand – die Hände in die Hüften gestemmt, mit glühenden Wangen und funkelnden Augen – sah sie aus wie eine Rachegöttin. Und zwar wie Megaira, die schlimmste von allen.
„Ich arbeite mir die Finger wund – koche, putze, erledige die Einkäufe ...“
„Ja doch, Schatz ...“
„... kümmere mich um die Kinder ...
„Stimmt. Du hast ...“
„Unterbrich mich nicht ständig!“, schrie Henrietta. Ihre Stimme überschlug sich. Die Nachbarn hatten sicher wieder ihren Spaß. Ingo rieb sich leise stöhnend die Schläfen.
„Der Mann verdient die Kohle, deshalb hat er das Sagen“, resümierte Henrietta bitter. „Aber da bist du schief gewickelt! Die Zeiten haben sich geändert.“
Ingo schwieg. Es hatte ja doch keinen Sinn.
„Wir können den Spieß ja mal umdrehen“, redete sich seine Angetraute weiter in Rage. „Ich gehe arbeiten und du kümmerst dich um den Haushalt und die Kinder. Willst du das?!“
„Nein“, antwortete Ingo lahm.
„Weißt du, was wir jetzt machen?“, fauchte Henrietta. „Wir legen jetzt ein für alle Mal fest, was Dein ist und was Mein.“
„Bitte, Liebling, so beruhige dich doch“, bat Ingo händeringend. Doch es war bereits zu spät. Henrietta hatte ihn stehen lassen und war in die Küche gestürmt, wo sie in den Schubladen kramte.
Ingo ließ sich in die weichen Polster der Wohnzimmercouch sinken. Das kommt davon, wenn man seine bessere Hälfte provoziert. Fahrig fuhr er sich durch seine kurzen schwarzen Haare. Er hatte den Bogen überspannt.
Ob sie morgen das Auto haben könne, hatte Henrietta heute Vormittag gefragt. Seine Antwort war „Nein“ gewesen, verbunden mit dem Hinweis, dass er den Wagen selbst brauchen würde. Wieso er eigentlich auf die Idee käme, dass es ausschließlich sein Gefährt wäre, hatte seine Frau schnippisch nachgehakt. Sie habe das Auto schließlich mitausgesucht. Richtig, so seine kecke Erwiderung, aber er habe es bezahlt. Und wer bezahlt, dürfe nun mal bestimmen!
Danach war er nicht mehr richtig zu Wort gekommen. Ingo machte dicke Backen. Nach einem stundenlangen Vortrag über den mühevollen Alltag einer Hausfrau und Mutter war Henrietta erst richtig warm geworden. Dass sie ganz schön fuchtig werden konnte, hatte er in ihrer sechsjährigen Ehe zwar schon ein paar Mal erlebt, aber mit dieser Intensität war sie noch nie explodiert. Da hatte er wohl einen Nerv getroffen.
„So, du Macho Man, jetzt machen wir mal Nägel mit Köpfen.“ Henrietta war wieder ins Wohnzimmer gerauscht. Sie pustete sich wutschnaubend ein paar Haare aus dem Gesicht. Ihr ausgedehnter Zornesausbruch hatte ihre Frisur völlig durcheinandergebracht. Mit ihrem wirren blonden Haar sah sie ein bisschen aus wie Catweazle, aber Ingo hütete sich, ihr das zu sagen.
„Nun geht’s ans Eingemachte!“, blaffte Henrietta. Der angriffslustige Ton in ihrer Stimme gefiel Ingo gar nicht. Mit einem abfälligen „Da!“ warf sie ihm einen Packen Aufkleber zu. Sie selbst hielt einen weiteren Stapel der kleinen, rechteckigen Abziehetiketten in ihren Händen. Ihre waren gelb, seine rot.
„Schatz, Liebling, komm bitte wieder runter. Es war doch nicht so gemeint“, startete Ingo einen letzten Vermittlungsversuch. Er ahnte, was nun geschehen sollte.
Henrietta ignorierte ihn. „Wir werden jetzt mit diesen Stickern kennzeichnen, wer was aus diesem Haus für sich haben will. Pappen wir beide einen unserer Kleber auf einen Hausratsgegenstand, wird nachher geschachert. Na los, auf geht’s. Diese Vase hier gehört zum Beispiel mir. Die hat mir meine Mutter hinterlassen. Untersteh dich, da was draufzukleben.“ Sprach’s und drückte ein gelbes Etikett auf den Blumenbehälter.
„Muss ich einen Sticker auf dieses Päckchen Aufkleber anbringen, wenn ich es haben will?“, fragte Ingo scheinheilig. Er konnte es nicht lassen.
Henrietta stieß ein Zischeln aus, das eine Klapperschlange vor Neid hätte erblassen lassen. Ergrimmt wandte sie sich von ihrem Ehemann ab und begann mit der Beschlagnahmung der Wohneinrichtung. Nichts war vor ihr sicher. Bald erstrahlte nahezu das gesamte Mobiliar in Sonnengelb – der Fernseher, die Stereoanlage, das Bücherregal inklusive aller Folianten, die Teppiche, die Schränke, die Sessel, die Tische, der Computer, die Bilder, das Geschirr, jeglicher Nippes. Sogar das Treppengeländer wurde nicht verschont. Und auch nicht die Couch, auf der Ingo saß. Er war noch tiefer in die Polster versackt und besah sich mit wachsender Migräne das wirbelwindartige Treiben seiner Frau, das nun schon fast eine halbe Stunde andauerte.
In ihrer Raserei war Henrietta völlig entgangen, dass ihr in Ungnade gefallener Lebensgefährte bei der Sicherstellungsaktion nicht mitgemacht hatte. Erst jetzt fiel es ihr auf. Verblüfft fragte sie ihn: „Willst du denn gar nichts haben?“
Ingo erhob sich mit einem Ächzen. Ein gequältes Lächeln umspielte seine Lippen, als er zu Henrietta trat. Er nahm einen seiner roten Aufkleber, knibbelte ihn vom Trägerpapier ab und pappte es Henrietta mitten auf die Stirn. „Das da“, antwortete er verschmitzt auf ihre Frage. „Ich will nur dieses eine Stück.“ Ihm entging nicht, dass Henrietta plötzlich mit einem dicken Kloß im Hals zu kämpfen hatte, der sich einfach nicht hinunterschlucken ließ. Den nächsten Aufkleber setzte Ingo ihr auf die Nasenspitze. Dann waren die Wangen dran, danach der Hals, anschließend die Ober- und Unterarme, der Bauch, die Schenkel. Natürlich wurde der Busen beklebt und der Po ebenfalls. Wie vom Donner gerührt, stand Henrietta da und erduldete reglos, dass Ingo ihr Sticker um Sticker auf den Körper klatschte. „Alles, was ich will, bist du“, säuselte er und meinte es vollkommen ehrlich. Inzwischen war Henrietta fast komplett zugepflastert. Zu den Füßen kam Ingo indes nicht mehr. Die so ungewöhnlich bandagierte Mumie löste sich aus ihrer Starre und fiel ihm in die Arme. Ingo spürte, wie seine nicht immer holde Gattin unter ihrer roten Schale bebte. Auch konnte sie ein verräterisches Schniefen nicht unterdrücken.
„Ach, Schnucki! Du kannst ja richtig romantisch sein“, hauchte Henrietta gerührt. Mit diesen Worten klebte sie ihm ihren letzten gelben Sticker auf die Stirn. Beide mussten sie kichern. „Was meinst du?“, fragte Henrietta nach einem langen, sehr langen Kuss. „Wollen wir heute Abend ins Kino? In diese neue Liebeskomödie mit Sandra Bullock? Und anschließend gehen wir dann noch hübsch essen.“
Ingo wollte eigentlich nicken, aber der Schalk in seinem Nacken blockierte die Bewegung. „Aber Schatz! Heute Abend ist doch das große Fußballspiel!“, erwiderte er mit todernster Miene. „Halbfinale Champions League: AC Milan gegen Bayern München.“
Er biss sich auf die Lippen, um nicht loszuprusten, als er sah, wie Henriettas Mundwinkel schlagartig nach unten rutschten. „Nein, nein, keine Sorge, wir gehen heute aus. Erst Kino, dann Essen. Wie du es vorgeschlagen hast“, beeilte er sich zu sagen, bevor das nächste Stimmungsgewitter aufziehen konnte. „Und weißt du was, Schatz? Diesmal darfst du bezahlen, emanzipiert wie du bist.“

Letzte Aktualisierung: 22.09.2010 - 16.12 Uhr
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