Diese Seite jetzt drucken!

Liebe ist ... | September 2010

Paris...
von Eva Fischer

Er legte seinen Arm um ihre Schultern und schaute ihr zärtlich und voller Leidenschaft in ihre grünen Augen. Sie war „sein“ in diesem Augenblick. Er, ihr Beschützer, der strahlende, jugendliche Held, würde bald untergehen in den eisigen Fluten des Meeres, weil das Drehbuch des Filmes Titanic es so verlangte, aber im Herzen seiner Geliebten blieb er ewig, so wie in den Herzen tausender seiner jugendlichen weiblichen Fans.

Leonardo nahm die Fernbedienung des DVD-Players und drückte auf Stop. Er musste jetzt seinen Rucksack packen für die Parisfahrt, die er heute Abend mit seinem Französischkurs antreten würde.
Der fünfzehnjährige Leonardo, der vor zehn Jahren aus Portugal gekommen war, hatte nichts mit seinem berühmten Namensvetter gemein. Er war kleinwüchsig und unscheinbar. Noch in der fünften Klasse wurde er von seinen Mitschülern gehänselt, aber durch seine kumpelhafte Art hatte er sich mittlerweile bei beiden Geschlechtern einen Platz ergattert. Die Mädchen duldeten ihn in ihrer Nähe, weil er freundlich und unaufdringlich war. Sie belächelten sein etwas altmodisches, ritterliches Verhalten, wenn er ihnen eine Cola brachte oder sich zu allen anderen Diensten einspannen ließ. Mit den Jungen zusammen spielte er den Lehrern gerne Streiche, und es war immer Leonardo, der sich von ihnen erwischen ließ. Die Lehrer sahen in das gutmütige Gesicht von Leonardo. So fiel die Strafe meist glimpflich aus, die er heldenhaft und ohne zu murren oder zu petzen auf sich nahm.

Leonardo steckte eine große Flasche Cola und eine große Tüte Chips in seinen Rucksack. Den Rat seiner Mutter, sich Butterbrote zu schmieren, überhörte er geflissentlich. Er schaute auf seine Armbanduhr. 22 Uhr 30. Er hatte noch eine Stunde Zeit.
Es war ein sonniger Tag im Mai gewesen. Mittlerweile war es dunkel und still draußen geworden. Leonardo fühlte sich frei und unbeschwert, als er allein durch die Nacht zum Busbahnhof ging.

Der Französischkurs war vollzählig, fünf Jungen und zwölf Mädchen.
Die Mädchen kicherten aufgeregt und drängten zur Tür, als der Bus kam.
Leonardo war es gleichgültig, neben wem er sitzen würde.

Isabella war Sizilianerin. Ihre beste Freundin, eine Marokkanerin, hatte im letzten Augenblick von ihrem Vater keine Erlaubnis bekommen, an der Parisfahrt teilzunehmen. Obwohl klein und mollig, war Isabella immer sexy angezogen. Ihr Mund stand selten still. Sie wusste immer genau, was sie wollte. So stand es für sie fest, dass sie nach ihrem Realschulabschluss eine Friseurlehre machen wollte, um dann in Neapel einen Frisiersalon aufzumachen.

„Hi, Leonardo, setzt du dich neben mich?“, forderte sie ihn auf.
„Wenn du meinst“, antwortete er lässig.
„Magst du ein paar Chips?“ bot ihr Leonardo an, als sie im Bus saßen.
„Ja, gern“, stimmte Isabella zu.
Das war ein kluger Schachzug, denn Isabellas Rucksack war voll mit italienischen Köstlichkeiten gefüllt, in deren Genuss nun Leonardo seinerseits kam.
An einem selbstgebackenen Cantuccino kauend sah Leonardo aus dem Fenster und betrachtete die Lichter der belgischen Autobahnlaternen. Isabella erzählte ihm irgendwelche Geschichten, bis die Lehrerin sie streng aufforderte, ruhig zu sein. Man brauche ein bisschen Schlaf, wenn man den ganzen Tag in Paris auf den Beinen war.
Erstaunlicherweise hielt Isabella wirklich den Mund.
Ihre Augenlider wurden schwer, und sie sank an Leonardos Schulter.
„Geht doch in Ordnung , Kumpel?“, schien sie schlaftrunkenen zu fragen.
„Na, klar.“ Er dachte an Kate. An wen Isabella dachte, wusste er nicht.

Leonardo und Isabella trotteten nebeneinander her und reihten sich in die Schlange vor der gläsernen Pyramide ein. Sie sollten sich das berühmte Bild von Leonardo da Vinci ansehen.
„Ich gebe euch eine Stunde Zeit, den Louvre zu erkunden. Mona Lisa ist ein einzigartiges Kunstwerk, aber nicht das einzige hier,“ merkte die Lehrerin an. „Wir treffen uns um elf Uhr am Ausgang.“
Zuerst versuchte Leonardo, Isabella zu folgen, aber als er sich das Bild von einer Schönen am Hofe Ludwigs des Vierzehnten näher betrachtete und sich wieder umdrehte, war Isabella verschwunden. Eigentlich interessierte ihn diese alte Malerei nicht. Er sah die Sonne durch die hohen Fenster scheinen, schaute hinaus in den Park, auf die geometrisch geschnittenen Buchsbaumhecken, die sich wie ein Labyrinth wanden. Eine viertel Stunde vor der verabredeten Zeit stand er am Ausgang.
Die Lehrerin zählte die Schüler. „Isabella fehlt. Warum seid ihr Mädchen nicht zusammengeblieben?“, fragte sie ärgerlich.
Sie ging zur Kasse, um Isabella per Lautsprecher ausrufen lassen. Doch sie wartete vergebens auf ihre Schülerin.

Isabella hatte die Mitschülerinnen verflucht, die schnellen Schritts ihr davongeeilt waren. Auch sie hatte nicht vor, stundenlang Bilder zu betrachten.
In einem der Säle entdeckte sie eine Bank. Sie steuerte darauf zu, und ließ sich auf das weiche Polster fallen. Sollten sich die anderen doch alle zum Teufel scheren!
Sie fühlte die Müdigkeit in sich hochsteigen. Das letzte, was sie sah, war eine italienische Landschaft mit einer Frau, die einen langen Rock trug, und einem Mann in Kniehosen, der ihr eine Rose überreichte. „Wie kitschig und altmodisch“, dachte sie gähnend .
Plötzlich hörte sie ihren Namen. Hatte sie geträumt?
Wie spät mochte es sein? Isabella hatte keine Ahnung. Auf ihrem mit Perlen geschmückten Arm war kein Platz für eine Uhr. Doch sie musste zurück zur Gruppe. Woher war sie bloß gekommen? Alles sah so gleich aus.

„Soll ich Isabella suchen gehen?“ bot Leonardo der Lehrerin an.
Mit schnellen Schritten ging er zur Mona Lisa und versuchte wie ein Spürhund den Weg nachzugehen, den die Gruppe dann genommen hatte. Er schaute in alle Ecken und auf alle Bänke. Da sah er die vertraute kleine, rundliche Gestalt vor sich durch die Hallen gehen.
Er legte seine Hand auf ihre Schultern.
„Stopp! Wo willst du hin?“
Isabellas Gesicht leuchtete sichtlich auf. „Gut, dass ich dich hier treffe, ich finde den Ausgang nicht mehr.“
„Treffen ist gut. Ich bin auf der Suche nach dir.“
„Hast du mich vermisst?“ Kokett strich sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Das auch. Aber vor allem Frau Seifert sucht dich.“
„Ist es schon elf Uhr?
„Es ist schon halb zwölf, meine Liebe.“
„Das kann doch gar nicht sein“, wehrte sich Isabella.
Leonardo hielt ihr seine Armbanduhr vor die Nase. Isabellas Schritte wurden nun schneller.
Leonardo fand, sein Arm ruhte gut auf Isabellas Schultern. Sie schien nichts dagegen zu haben. Bald fanden sie den gleichen Rhythmus.
„Ach, da ist ja unser Liebespaar“, höhnte Patrick, als er die beiden kommen sah, und stupste seinen Nachbarn an.
.
„Ich gebe euch eine Stunde Zeit für eure Mittagspause“, sagte Frau Seifert, als sie auf dem Forum des Halles angekommen waren. „Aber seid pünktlich!“ mahnte sie mit einem Blick auf Isabella. „Am besten bleibst du mit Leonardo zusammen. Dann gehst du uns nicht verloren.“

„Lass uns zu Mc Donald’s gehen!“ schlug sie ihm vor. „Wie du willst, Isabella,“ sagte er, während er überlegte, wie er nach dem Essen seinen Arm wieder unauffällig um Isabellas Schultern legen könnte. Irgendwie verspürte Leonardo gar keinen Hunger und auch Isabella begnügte sich mit einer kleinen Portion Pommes frites.
„Komm! Wir sonnen uns etwas!“ schlug sie vor. Leonardo fand das eine gute Idee. Auf dem Rasen gab es bestimmt eine gute Gelegenheit, sie zu berühren.
Geschmeidig wie eine Katze sank sie auf die Wiese und bedeutete ihm, sich neben sie zu legen. Sie schloss die Augen und lächelte.
„Du siehst aus wie Mona Lisa“, entfuhr es ihm.
„Du willst mich doch nicht mit diesem hässlichen Weib vergleichen“, protestierte sie.
„Nein, du bist viel schöner.“
„Meinst du das ernst?“
Ja, er meinte es ernst. Warum war ihm das nicht früher aufgefallen? Und wie zur Bestätigung drückte er ihr galant einen Kuss auf den nackten Oberarm.
„Du bist süß, Leonardo, wirklich,“ gurrte sie nun ihrerseits.
„Aber ich kann dir nichts versprechen. Ich habe nämlich einen Freund zu Hause.“
„Sooo“, sagte Leonardo gedehnt und Enttäuschung schwang mit.
„Das braucht dich doch jetzt nicht zu stören“, besänftigte sie ihn.
„Jetzt sind wir in Paris.“
Er küsste sie leidenschaftlich auf den Mund, wie er es sich immer bei Kate Winslet vorgestellt hatte.
Für heute war er der Held, ihr Held.

Letzte Aktualisierung: 21.09.2010 - 21.16 Uhr
Dieser Text enthält 8439 Zeichen.


www.schreib-lust.de