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Liebe ist ... | September 2010

Celeste († 1734)
von Kerstin Jauer

Atemlos hastete Valentin vorwärts. Der Pfad, dem er folgte und der sich zwischen den hohen Fichtenstämmen hindurchschlängelte, lag unter einem feinem Nebelschleier verborgen, in den seine Schritte unruhige Muster zeichneten. Nur wenige Strahlen Mondlicht fanden ihren Weg durch die dichten Baumkronen und Valentin hoffte inständig, nicht vom Weg abzukommen. Ihren Zettel hielt er ordentlich gefaltet in der rechten Hand. Er hatte das Papier heute Morgen auf seinem Schreibtisch gefunden und ihre filigrane Handschrift sofort erkannt.
Triff mich um Mitternacht.
Das war ihre Botschaft an ihn. Mehr nicht. Kein Wort der Entschuldigung. Keine Bitte. Und dennoch spürte Valentin ihre Verzweiflung, die in dieser Nachricht mitklang wie der Duft ihres Parfums. Beim Lesen des Zettels und auch jetzt kam es ihm vor, als flüsterte ihre Stimme ihm die Worte direkt in sein Ohr, mit einer Dringlichkeit, die ihn schaudern ließ.
Seit Monaten hatte er sie nicht mehr gesehen. Stattdessen waren ihm diese aberwitzigen Gerüchte zu Ohren gekommen, die manch anderen davon abgehalten hätten, sie zu treffen. Aber nicht ihn. Während er überlegte, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, trat er zwischen zwei Fichten hindurch auf die schmale Schneise, die an dieser Stelle in den Wald geschlagen worden war. Gut vier Meter von ihm entfernt ragten die steinernen Überreste eines verfallenden Klosters in den Nachthimmel. Das grobe Mauerwerk sog das silbrige Mondlicht in sich auf und strahlte eine bedrohliche Schwärze aus. Es war Unsinn, aber es kam Valentin so vor, als würde der Ort, der ihnen beiden als geheimer Treffpunkt gedient hatte, sie mit seiner Kälte für ihr langes Fortbleiben bestrafen.
Sie sah er erst, als sie sich aus den schwarzen Schatten der Mauern löste. Ihre langen schwarzen Haare trug sie offen und ihr Gesicht schimmerte weiß in dem kaltem Mondlicht. Sie trug ein Kleid aus blassblauem Leinen, das zu groß für sie wirkte, und beim Anblick ihrer zarten Gestalt verspürte er wie so oft den drängenden Wunsch, sie zu beschützen. Valentin wollte zu ihr stürmen, doch sie hob die Hand.

„Bleib stehen.“
Ihre Stimme zitterte und obwohl ihn ihre Aufforderung verletzte, tat er, was sie verlangte.
„Du bist gekommen.“
„Du hattest Zweifel?“
Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Damals nie.“
„Es war dein Wunsch, mich nicht mehr zu sehen.“
Gegen Valentins Willen schwang all seine Enttäuschung darüber in diesem Satz mit. Für einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber.
„Ich möchte dich um etwas bitten.“
Valentin ballte seine Hände zu Fäusten. Der Zettel in seiner Hand knisterte leise.
„Es geht dir nicht um uns?“
Sie schwieg.
„Habe ich keine Erklärung verdient?“
Er machte einen Schritt auf sie zu. Hastig wich sie zurück. Die Mauer in ihrem Rücken streckte ihren schwarzen Schatten nach ihr aus.
„Bitte, nicht.“
„Celeste, ich kann meine Gefühle für dich nicht verleugnen. Wenn du sie nicht mehr erwiderst, werde ich das akzeptieren. Aber ich will es aus deinem Mund hören.“
Erneut machte Valentin einen Schritt auf sie zu.
„Bleib stehen!“
Ihre Stimme klang ungewohnt hart.
„Ich bin krank.“
„Und ich bin Arzt.“
„Du kannst mir nicht helfen.“
„Warum bin ich dann hier?“
„Du sollst etwas für mich tun.“
Valentin schwieg.
„Du bist der Einzige, den ich darum bitten kann.“
„Celeste, was immer dich quält, ich kann dir helfen. Die Medizin hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht.“
„Ich habe nicht den Arzt zu mir gebeten.“
Die Kälte in ihrer Stimme überraschte ihn.
„Du sollst etwas für mich tun.“
„Dazu müsste ich wissen, was es ist.“
Celestes Lippen bewegten sich und ein Windhauch trug ihm ihre gehauchte Antwort entgegen, aber den Sinn ihrer Worte wollte er nicht verstehen. Valentin starrte sie an.
„Bitte!“
Ihre Verzweiflung traf ihn wie ein Faustschlag und grub sich tief in seinen Magen. Er schüttelte langsam den Kopf.
Ihre Stimme klang nun hektisch.
„Bitte, Valentin.“
„Warum?“
Er war zu sehr Arzt, als dass er diese Frage hätte zurückhalten können.
„Valentin“, die Zärtlichkeit in ihrer Stimme versetzte ihm einen Stich, „weißt du es nicht?“
„Ich gebe nichts auf abergläubischen Dorftratsch. Und ich verbiete jedem den Mund, der es wagt, etwas über dich zu sagen.“
Ihre Gesichtszüge wurden weich.
„Du wirst dich nie ändern.“
Sie schwieg einen Moment.
„Und wenn es wahr ist?“
Valentin lachte wütend auf. Ihr verletzter Gesichtsausdruck ließ es ihn bereuen, aber er war zu sehr der Wissenschaft verschrieben, um einen solchen Unsinn zu glauben.
„Du scheinst nicht zu wissen, was erzählt wird“, spie er ihr entgegen. „Im Dorf fürchten sie dich. Du sollst nachts dein Unwesen treiben. Getrieben von der Gier nach fremdem Blut. Celeste, soll ich das glauben?“
Ihr Schweigen steigerte seine Wut.
„Celeste, ich bitte dich.“
Wie konnte sie so töricht sein?
„Ich hätte dich nicht fragen dürfen.“
An der Art, wie Celeste ihren Kopf leicht nach unten senkte, erkannte Valentin, dass sie weinte. Er hastete zu ihr und zog sie in seine Arme. Der sorgsam gefaltete Zettel glitt langsam zu Boden. Celestes Kopf lehnte an seiner Schulter und er spürte, wie sie zitterte.
„Es tut mir leid.“
Valentin wusste nicht, ob sie dieses sonderbare Treffen meinte oder die Tatsache, dass sie ihm seit Monaten aus dem Weg ging und jeden seiner anfänglichen Briefe unbeantwortet gelassen hatte. Sanft schob er sie ein Stück von sich, legte ihr die Hand unters Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Als er Celeste ins Gesicht blickte, widerstand er dem Drang, seine Hand zurückzuziehen.
Ihre zarte Haut war blass und wirkte zerbrechlich, so dass er Angst hatte, sie durch seine Berührung zu verletzen. Die helle Haut bildete einen starken Kontrast zu ihren schwarzen, kalten Augen, in denen sich ein wenig Mondlicht spiegelte. Ihr Mund war tiefrot und ließ sie unglaublich schön und zugleich gefährlich aussehen.
„Armer Valentin.“
Celeste verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. Ein Ausdruck, den Valentin an ihr nicht kannte. Er taumelte einen Schritt zurück, als sie lächelte und blutrot verfärbte Zähne entblößte. Ihre Eckzähne sahen aus wie die eines Raubtiers.
„Töte mich.“
Die gewisperten Worte hingen zwischen ihnen und zwei schwarze Augen funkelten Valentin entgegen. Er kannte den Aberglauben der einfachen Leute, die Geschichten der Untoten, die nachts auf der Suche nach Blut aus ihren Gräbern krochen. Aber er kannte auch das Traktat* von Michael Ranft, der die Symptome dieser angeblichen Vampire wissenschaftlich erklären konnte. Dennoch traf ihn der Anblick von Celeste völlig unvorbereitet. Unfähig, etwas zu sagen oder sich zu rühren, sah er zu, wie sie einen dunkelroten Umhang vom Waldboden aufhob und mit anmutigen Bewegungen etwas auswickelte. Ihre schwarzen Augen bohrten sich in seine. Als sie ihm einen groben Holzpflock entgegenhielt, der überhaupt nicht zu ihren zarten Händen passen wollte, spürte er ihre Bitte in jeder Faser seines Körpers.
„Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.“
Ein wehmütiges Lächeln umspielte Celestes Lippen.
„Ich wollte dich schützen.“
So sehr sich Valentin eine Erklärung für Celestes Verhalten gewünscht hatte, so sehr hoffte er nun, dass es eine andere Begründung dafür gab. Sie war kein Vampir, das machte ihm keine Angst, aber ihre Symptome konnten von einer Seuche herrühren und er kannte kein Heilmittel, das ihr helfen könnte. Er konnte Celeste nicht zurückgewonnen haben, um sie an eine Krankheit zu verlieren.
„Celeste, du bist kein Vampir. Du bist krank. Komm mit mir. Ich werde dich untersuchen und mich mit Kollegen in dem Fall beraten.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Es ist die einzige Hilfe, die ich dir geben kann.“
„Ich habe mich entschieden.“
Mit gesenktem Kopf wickelte Celeste den Pfahl zurück in den schweren Umhang. Am liebsten hätte Valentin sie an den Schultern geschüttelt.
„Ich bin kaum noch ich selbst. Ich weiß nicht, wann es vollständig von mir Besitz ergreifen wird.“
Sanft berührte sie seine Hand.
„Leb wohl, Valentin.“
Ohne ihn anzusehen, wandte sie sich von ihm ab, um mit dem Schatten der Mauern zu verschmelzen. Valentin rannte hinter ihr her und hielt sie an den Schultern fest. Er ertrug den Gedanken nicht, sie könne sich etwas antun. Sie musste doch zu überzeugen sein. Notfalls mit Gewalt.
„Celeste!“
Ihre Bewegung war so schnell wie das Aufleuchten eines Blitzes und er wusste nicht, was ihn mehr verwirrte. Die Schnelligkeit, mit der sie sich bewegte, oder die Kraft, mit der sie ihn am Hals gepackt hielt. Ihre Augen funkelten boshaft und ihre Stimme klang viel kälter als noch vor einem Augenblick.
„Du hättest mich töten sollen.“
Celeste lächelte ihm kaltblütig ins Gesicht. Ihre rechte Hand presste seinen Hals zusammen. Valentin wurde schwindelig. Während ihr Daumen sein Kinn nach links schob, um eine Stelle seines Halses freizulegen, fing er ihren Blick ein. Eine tiefe Trauer funkelte kurz darin auf, die augenblicklich von einem kalten Glanz verschlungen wurde.
Als sich ihre Zähne in sein Fleisch schlugen, strahlte der Schmerz in seinen Körper aus und er spürte, wie sein Leben Stück für Stück aus ihm herausgesaugt wurde. Selbst wenn er es gewollt hätte, er konnte ihr keine Gegenwehr leisten. Der schmatzende Laut, der in seinem Kopf zu sein schien, und die Gewissheit, dass ihn die Frau tötete, die er liebte, begleiteten ihn ins Dunkel.


*Traktat: eine kurze schriftliche Abhandlung über ein Thema

Letzte Aktualisierung: 27.09.2010 - 16.54 Uhr
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