Diese Seite jetzt drucken!

Liebe ist ... | September 2010

Einklang
von Karl-Heinz Manier

Er kann sich Zeit lassen.
Hier, wo er steht, ist er vor Überraschungen sicher. So früh am Morgen sind nur Übernächtigte, Waidmänner oder Selbstmörder unterwegs.
Die kühle Luft durchflutet mit jedem Atemzug seinen Körper. Schärft seine Gedanken, löst sie ab vom Alltagsbetrieb.
Er hat seinen Frieden gefunden.
Schon lange.
Es ist ihm gleichgültig, ob der Mensch handelt weil er mit seiner Geburt so programmiert ist, oder weil er selbst entscheiden kann, was er tut. Das, was dabei herauskommt, ist ausschlaggebend.
Was hat er zu verlieren, was er nicht schon längst verloren hat? Seinen guten Ruf? Den guten Namen? Welchen? Den, den ihm seine Eltern gaben, oder den, den ihm seine Freunde verpassten?
Ist nicht alles austauschbar?
Außer der Liebe?
Außer dem Leben?

Hohe Bäume hatten ihn immer geängstigt, früher. Bis sie zu einem Symbol wurden; zu Trost; zu Freunden. Unter der Buche, hoch oben über dem Dorf, lernte er seine große Liebe kennen. Bei einem Gewitter, nass und verängstigt. Sie redeten miteinander, versuchten sich gegenseitig Mut zu machen. Später ritzten sie die Anfangsbuchstaben ihrer Namen in die Rinde des Stammes, umgeben von einem großen Herzen, machten den Baum zu ihrem Vertrauten. Zum Paten ihrer Leidenschaft.
Sie wurde sein Leben. Sein Kosmos. Nichts lief mehr ohne einander. Auch nicht, als die Krankheit sie von innen auffraß.
Harmonie, trotz schwerer Tage.
Liebe. Sie kommt und sie geht. Sie wird genommen. Wie viel davon hat der Mensch? Er hatte nur eine. Vierundfünfzig Jahre Gleichklang, besiegelt durch einen letzen Atemzug.

Ein Baby schreit.
Wieder erhellt sich ein Fenster in dem kleinen Dorf, das verschlafen zu seinen Füßen liegt. Verträumt das Haus, in dem er geboren.
Vögel begrüßen den Tag.
Sanft streicht der Wind durch das Laub. Entlockt ihm leises Rauschen, das sich anhört wie abertausend glänzende Fischleiber die sich an der Wasseroberfläche reiben.
Ein Fuchs schleicht an ihm vorbei.
Taufrisches Gras wiegt sich hin und her, versucht die ersten Sonnenstrahlen des Tages einzufangen.
Schüchtern erheben sich vereinzelt Nebelschwaden.
Die endlose Weite der Wiesen und Wälder ist nur einen Knacks entfernt von der Unendlichkeit des Universums. Überwunden durch Hölzer, die unter seinen Füßen nachgeben.

Letzte Aktualisierung: 19.09.2010 - 11.16 Uhr
Dieser Text enthält 2278 Zeichen.


www.schreib-lust.de