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Liebe ist ... | September 2010

Ein schöner Abend
von Martina Bracke

Er liebte dieses Schauspiel. Jeden Abend zog er sich in das schützende Dunkel zurück, um sie live zu sehen. Sogar ein Opernglas hatte er sich zugelegt, um ihr nah zu sein. Ihre Bewegungen waren so geschmeidig, in ihren Gliedern steckte unendlich viel Energie. Fasziniert verfolgte er jeden Schritt, erschauerte, wenn sie nur die Tischdecke glatt zog, und fieberte mit, wenn der Schauplatz wechselte.
Die Abläufe kannte er ganz genau. Und doch zog ihn der Abend immer wieder in seinen Bann, konnte er nie genug bekommen und spürte eine Enttäuschung, wenn nicht sogar Leere, wenn das Licht ausging. Allein blieb er zurück, packte sein Opernglas ein. Im Dunkeln setzte er seinen Weg fort, bis er sich wieder einsam in den kalten Laken wälzte.

Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie beobachtet wurde. Abend für Abend. Alles Unsinn, musste sie sich jedes Mal sagen. Sie ertappte sich dabei, wie sie im Dunkeln in ihre Wohnung schlich und halb hinter der Wand verborgen durch das Fenster die andere Straßenseite absuchte. Auf der Straße war niemand zu sehen. Die meisten Häuseraugen lagen im Dunkeln. Die wenigen erleuchteten zeigten übliche Szenen. Jemand las, telefonierte, aß, sah fern – nichts Außergewöhnliches. Seufzend knipste sie das Licht an, schalt sich kindisch und begann ihre Einkäufe auszupacken.

Für sie legte er sich ein neues Hobby zu. Fotoutensilien türmten sich im Regal. Am häufigsten benutzte er das Teleobjektiv. Ganz nah zog er sie zu sich heran, entdeckte schon erste Fältchen um Mund und Augen. Jedes einzelne davon liebte er. Tagsüber saß er vor dem neuen Computer und arbeitete sich durch das Programm. Intensiv konnte er ihr zu jeder Zeit in die Augen schauen. Immer wieder strich er sanft über den Bildschirm.

Sie dachte darüber nach, sich endlich Gardinen anzuschaffen, die sie bislang nie vermisst hatte, die sie für spießig hielt, die sie in ihrer Freiheit einschränken würden. Aber diese war längst nicht mehr dieselbe. Sie wollte nicht beobachtet sein und sich auch nicht beobachtet fühlen. Immer öfter setzte sie sich mit dem Rücken zum Fenster an den Küchentisch, wenn sie aß.

Er war eifersüchtig auf die Tage, die sie ohne ihn verbrachte. Schier endlos zogen sich die Stunden, und der Computer reichte ihm schon lange nicht mehr. Fertig angezogen wartete er hinter seinem Fenster eines Morgens darauf, dass sie das Haus verließ. Als sie sich die Jacke anzog, eilte er die Treppe hinunter und verließ kurz nach ihr das Haus. Mit dem Fahrrad war sie ihm überlegen, er konnte ihr nur bis zur nächsten Ecke folgen, dann sah er auch schon, wie sie in einer Querstraße verschwand.

Langsam kam sie sich paranoid vor. Schon zum zweiten Mal fand sie ihr Fahrrad morgens platt vor. Auch Aufpumpen half nichts. So musste sie den Weg zur Arbeit mit der Straßenbahn zurücklegen und kam zu spät. Dabei hasste ihre Chefin kaum etwas mehr als Unpünktlichkeit. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Es lief im Moment in der Firma sowieso nicht rund. Außerdem war sie fahrig, schreckte hoch, wenn andere in ihr Büro kamen. Einmal hatte sie auch ihre Kaffeetasse fallen lassen, als ein Kollege sie von hinten angesprochen hatte.

Endlich wusste er, wo sie arbeitete. Er schlürfte seinen Tee und überlegte seine nächsten Schritte. Allmählich hatte sich in seinem Kopf ein Plan geformt. Zufrieden schaltete er den Computer aus, warf noch einen Blick auf die dunklen Fenster gegenüber und legte sich unter ihrem Bild über dem Bett schlafen.

Sie blieb jetzt länger im Büro. Zum einen gab ihr die Chefin mehr Arbeit, zum anderen ließ ihre Konzentration nach. Oft musste sie noch einmal alles durchchecken, um keinen Fehler zu machen. Von Entlassungen tuschelten die Kollegen, und manche sahen sie dabei merkwürdig an. Ledig, keine Kinder – sie würde bestimmt eine der ersten sein. Sorgen hatte sie schon genug. Aber sobald sie das Licht im Büro auslöschte, kam noch eine hinzu. Am liebsten wäre sie nicht nach Hause gegangen. Einmal hatte sie sogar schon Immobilienanzeigen durchgeblättert. Vielleicht sollte sie umziehen.

Auf der Heimfahrt in der Straßenbahn schaffte er es, den Platz neben ihr zu ergattern. Er hatte sich vorher keine Gedanken gemacht, was es in ihm auslösen könnte. Ihr Duft strömte in ihn. Für einen Moment schloss er die Augen und genoss eine blühende Sommerwiese mitten im regnerischen Oktober. So nah neben sich fühlte er ihre Wärme. Er konnte es kaum glauben. Gleichzeitig verstand er die Wirklichkeit, denn sie sah müde und abgekämpft nach diesem Arbeitstag aus.

Der Typ kam ganz schön nah heran. Sie wünschte sich ihr Fahrrad zurück, auf dem sie immer den Wind genoss und die Einsamkeit. Betont unbeteiligt widmete sie sich dem Fenster, das aber nur das Innere der Straßenbahn spiegelte. So übel sah er gar nicht aus. Zumindest seitenverkehrt. Ihre Gedanken wanderten zurück zu einer Zeit, in der sie sich einen Partner gewünscht hatte. Lange her, fast gar nicht mehr wahr.

Lange durfte er nicht mehr warten, bald erreichten sie die Haltestelle. Aus der Jackentasche zog er eine Tüte mit seinem Lieblingslakritz und bot ihr einfach etwas an.

Bei Lakritz konnte sie kaum widerstehen. Aber sie wagte erst noch den Blick ins Gesicht des Mannes, der offenkundig den gleichen Geschmack wie sie hatte. Er sah wirklich ganz passabel aus. „Danke“, murmelte sie und nahm tatsächlich ein Stück. Schweigend kauten beide den Rest der Fahrt. Beim Aussteigen bemerkte sie sein steifes Bein und stutzte einen Moment. Irgendwie kam er ihr bekannt vor.
„Hätten Sie noch Lust auf einen Kaffee?“, traute er sich zu fragen.
Ihre Antwort kam schnell und überraschte beide: „Ja, gern.“
Unversehens fanden sie sich im Café an der Ecke und unterhielten sich tatsächlich nach einigen ersten schweigenden Augenblicken.
Er brachte sie bis zur Haustür und verabschiedete sich erst, als sie ihm den Samstagabend versprach.

In ihrer Wohnung musste sie über sich selbst den Kopf schütteln. Das war flott gegangen. Gerade erst kennengelernt, schon Kaffee getrunken und ein zweites Date. Lächelnd trat sie ans Fenster, ließ ihren Blick über die Straße schweifen. Ein schöner Abend.

Durch sein Teleobjektiv sah er sie lächeln und wusste, dass er schon fast gewonnen hatte. Bald würde sie mit ihm kommen, in seinen Laken wühlen, bei ihm bleiben. Sie löschte ihr Licht, und er legte für heute die Kamera zur Seite. Morgen wollte er den Notartermin festmachen. Ein kleines Häuschen weit draußen auf dem Land, für das er bereits ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem im Kopf hatte. Ein schöner Abend.

Letzte Aktualisierung: 27.09.2010 - 09.31 Uhr
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