Honigfalter
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Verwandlung | Oktober 2010
Ausweg
von Renate Hupfeld

Der Regionalexpress fĂ€hrt pĂŒnktlich.
Winterlandschaft fliegt vorbei.
Schneeflocken tanzen.
DĂ€cher weißgepudert.
WÀldchen mit blÀtterlosen BÀumen.
Blasse Sonne will sich durch das Himmelsgrau kÀmpfen.
GrĂŒner Kirchturm.
Schneeberge mit sanft gewellten Konturen.
Kleiner Bahnhof.
Es ist nicht weit zu laufen bis zur evangelischen Akademie im Park.
An der Rezeption gibt es ein Informationsblatt fĂŒr den Ablauf der Tagung. Ich bin spĂ€t dran, deshalb eile ich gleich zum Raum dreizehn. Der Moderator begrĂŒĂŸt mich mit einem freundlichen Blick, schaut in seine Liste, stellt sich als Dozent der Uni Dortmund vor und bittet die Teilnehmer, etwas zu sich und den Erwartungen an die Veranstaltung zu sagen.
Dann war ich wohl die Letzte, muss mich aber jetzt als erste vorstellen.
Auch gut.
„Rosie Schoppmann aus Castrop Rauxel, Lehrerin mit Schwerpunkt Literatur. Ich hoffe, dem Autor nĂ€her zu kommen, das heißt, ihn besser zu verstehen.“
Der Moderator nickt und weist mit dem Kopf auf den Herrn neben mir, ein Geschichtslehrer im Ruhestand, der seine Frau mitgebracht hat. Es folgen eine Frau aus SĂŒddeutschland, eine Deutschlehrerin in der Oberstufe, ein pensionierter Gymnasiallehrer, der seinen Stock unter den Stuhl gelegt hat, und einige Studenten der Uni Dortmund. Etwa zwanzig Teilnehmer mögen es sein.
Den Text haben alle gelesen. Ein VarietĂ©kĂŒnstler hĂ€lt einen Vortrag ĂŒber seine Verwandlung vom Affen zum Menschen. Er versucht auf sein Ă€ffisches Vorleben zurĂŒckzublicken, was ihm jedoch angesichts der Schwierigkeiten in der Menschenwelt zunehmend schlechter gelingt.
Die Diskussion nimmt ihren Lauf. Von Assimilation, Dekadenz und Apokalypse ist die Rede. Lange wird ĂŒber das Leeren der Schnapsflasche geredet, sozusagen als Beginn der Assimilation. Jeder profiliert sich so gut er kann. Die Deutschlehrerin mit dem zarten Stimmchen will unbedingt mithalten. Am besten gelingt das jedoch den Studenten. Ich versuche es erst gar nicht, erkenne ich doch schon bald, dass dieser Austausch mich auch nicht weiterbringt.
Irgendwo piepst ein HörgerĂ€t, ich kann es nicht orten und schaue hinaus. Schnee auf den TannenbĂ€umen. Glitzerteilchen wirbeln vom Dachvorsprung vor dem Fenster und ein Sonnenstreifen leuchtet auf dem Teppichboden in der Mitte des Kreises, wandert langsam weiter und liegt jetzt auf dem Gesicht eines Teilnehmers. Ich beobachte, wie er unaufhaltsam weiterzieht und kann mir ausrechnen, dass er irgendwann mein Gesicht erreicht. Bloß nicht. Ich kapiere ohnehin schon lange nicht mehr, worum es geht und frage mich: Was ist normal, was ist Wahnsinn? Deshalb schlage ich mein Textbuch auf, ohne zu lesen, und hoffe, dass der Streifen an mir vorĂŒberzieht.
Auf die Frage des Moderators nach dem AktualitĂ€tsbezug des Textes antwortet die Frau aus SĂŒddeutschland: „Die Frage isch net beantwortet.“
Dabei ist das doch ganz klar: Heutzutage wĂŒrde der Protagonist des Meisters womöglich als virtuelles Phantom mit einem Nicknamen, sagen wir mal „Odradek“, durch einen virtuellen Bau irren. Da wĂ€re kein Ausweg, es mĂŒsste ihn sich aber verschaffen. Ein Fragment also, das passt doch.
Der Glitzerwirbel vor dem Fenster ist verschwunden. Draußen ist es dunkel geworden. In der schwarzen Scheibe sehe ich mein Gesicht und erkenne, dass mich dieses Seminar doch ein kleines StĂŒck weitergebracht hat. Zumindest kann ich anfangen, auf mein Ă€ffisches Vorleben zurĂŒckzublicken.

Letzte Aktualisierung: 27.10.2010 - 15.49 Uhr
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