Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Verwandlung | Oktober 2010
Ein neues Verwandlungssofa
von Anne Zeisig

„Wir haben deinem Vater auf dem Totenbett versprochen, dass sein antikes Sofa immer einen Platz in unserer Familie behalten wird.” Meine Mutter blickte um sich. „Hier in dem Zimmerchen kann ich es nicht aufstellen. Ich hätte unsere große Wohnung mit dem Ausblick auf die herrlichen alten Kastanienbäume behalten sollen.”
Ich setzte mich ihr gegenüber an den kleinen Tisch. „Jetzt wohnst du bereits vier Monate im Seniorenstift. Hast Freunde gefunden und fühlst dich wohl. Außerdem steht vor deinem Fenster sogar ein Prachtexemplar von Kastanienbaum, bei dem du keine Arbeit mit dem Laub hast.”
Sie schob ihre Unterlippe vor wie ein trotziges Kind. „Aber das Sofa hat hier keinen Platz! Du willst es ja plötzlich nicht mehr und wirfst es womöglich auf den Sperrmüll.”
Ich stand auf, ging zum Fenster und blickte hinaus. Der Herbstwind wehte Blätter und Kastanien vom Baum. Einige lagen bereits auf Mutters Balkon. „Ich will eine moderne Couch kaufen. Eine, auf der man nicht nur sitzen, sondern auch schlafen kann.”
Mutter riss ihre Augen auf. „Eine Schlafcouch? Aber du hast doch ein Bett!”
Ich setzte mich wieder zu ihr an das Tischchen. „Um ehrlich zu sein, ich habe bereits einen Käufer. Er zahlt sehr gut und holt morgen das alte Möhrchen ab.”
Mutter nahm ihren Gehstock, schlurfte zum Bett und ließ sich stöhnend nieder. „Kind! Das geht nicht gut! Es passiert ein Unglück, wenn man den letzten Willen eines Angehörigen nicht respektiert.”
Was sollte ich tun, als mit meinen Schultern zu zucken?
Seit drei Monaten führte ich mit Andreas eine perfekte Wochenend-Beziehung. Aber er schnarchte. Was lag also näher, als ihn nachts ins Wohnzimmer auszuquartieren.
„Steckt da etwa ein Mann dahinter?”, unterbrach Mutter meine Gedanken.
Ich stand auf, schlüpfte in meinen Mantel, nahm die Handtasche und murmelte. „Das Besuchersofa ist eine sinnvolle Anschaffung.”
. . .

Endlich stand das gute Stück im Wohnraum. Eine vollelektrische Designercouch. Tagsüber ein unscheinbarer Dreisitzer - aber nachts -
Ich betätigte den Taster, und schon klappte sich das Sofa mit elegantem Schwung auseinander.
Ähnlich wie das Klappdach meines Cabrios. Und verwandelte sich in ein komfortables Schlafmöbel.
Ich setzte mich und drückte mit den flachen Händen auf die Liegefläche. Die Federkernpolsterung schien robust zu sein. Nicht zu hart und nicht zu weich. Genau richtig für heiße Nächte zu zweit. Ich legte mich auf den Rücken, starrte an die Decke und schloss für einen Moment die Augen. Das Klingeln des Handys unterbrach mein Relaxen.
Es war meine Mutter. Sie schluchzte. „Der Wind hat die Kastanien so stark vor mein Fenster geschleudert, dass es in tausend Scherben zerbrochen ist!”
„Bist du verletzt?” Schweigen. Also war ihr nichts passiert.
„Kind! Das ist ein schlechtes Omen!”
„Aber Mutts! Das war der Herbststurm!”
„Oh nein! Ich sage nur Sofa!”
Ich blickte zum verstaubten Deckenstrahler und verdrehte meine Augen. Mutter und ihre Vorahnungen.

„Das Sofa kommt im Wohnraum des neuen Besitzers übrigens sehr gut zur Geltung. Es steht direkt vor einem großen Fenster. Ein Ehrenplatz. So würde es auch Paps gefallen.” Ich
rollte mich auf den Bauch. „Vom Erlös könntest du eine kleine, gemütliche Reise unternehmen. Ihr seid immer so viel verreist. Ein Tapetenwechsel täte dir gut.”
„Was?”, kreischte Mutter in den Hörer. „Eine Reise von ‘diesem’ Geld stünde unter keinem guten Stern. Spende das Geld lieber für einen wohltätigen Zweck.”
. . .

Meine Wochenend-Liebe Andreas zog sich die Decke bis unter sein Kinn und nuschelte. „Tut mir leid. Ich weiß auch nicht. So einen Aussetzer hatte ich bisher noch nie.”
Ich nahm mir mein Glas Rotwein vom Couchtisch und leerte es in einem Zug. Ich war enttäuscht.
Die Einweihung des neuen Möbels hatte ich mir anders vorgestellt.
„Bist sicherlich überarbeitet”, hörte ich mich sagen und stand auf, um ins Bad zu gehen.
„Das Sofa riecht komisch. Irgendwie ekelhaft! Total abturnend.”
Was? Sollte etwa der Geruch, von dem ich nichts bemerkt hatte, als Entschuldigung für ihn dienen?
Ich drehte mich abrupt herum und stemmte die Hände in die Hüften. „Ach so! Das Sofa soll schuld sein, dass du nicht ...”
Er stand auf und umarmte mich. „Lass uns ins Schlafzimmer gehen. Dort wartet dein kuscheliges, gewohntes Bett auf uns.”
Meine Stimmung war dahin.
Also lag ich lustlos ... Andreas war lieb und einfühlsam ... vergebens.
Jetzt hätte auch ich sagen können, dass mir so ein Aussetzer noch nie passiert sei. Aber Andreas hatte sich längst zur Seite gerollt und schnarchte.
Ich nahm mein Bettzeug und machte es mir auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem, fand aber schlecht in den Schlaf.
. . .

Das heiße Wasser aus der Dusche lief meinen Körper hinab und tat mir gut. Von nebenan drang immer noch Andreas´ Schnarchen zu mir hinüber. Selbst unter dem Rauschen des Wassers war es hörbar.
Ich griff nach der Seife, rutschte ab und fiel in die Duschwanne.
Plötzlich!
„Autsch!” Mit dem Wasser prasselten Kastanien auf mich hinab. Ich war unfähig, mich aufzurichten.
„Andreas!”
Ich zog die Knie eng an meine Brust bis unters Kinn und hielt beide Arme schützend über meinen Kopf. Die Kastanien prasselten auf mich ein und mit jedem Schlag steigerte sich der Schmerz. Andreas schien mein Rufen nicht zu hören.
„Hilfe!”
Abermals versuchte ich aufzustehen. Die Duschtasse war voll mit nassen, sehr glitschigen Kastanien.
Endlich gelang es mir, mich an der Armatur hochzuziehen.
Schnell stieg ich aus der Dusche, griff nach einem Badetuch und hüllte mich ein. „Andreas!”





Das Prasseln des Wassers und der Kastanien war ohrenbetäubend. Ich presste mir die Hände auf meine Ohren und setzte mich zitternd auf den Badezimmerhocker.
Andreas erschien schlaftrunken in der Tür. „Was ist denn los?” Er stellte das Wasser ab.
Ich sah in die Dusche und traute meinen Augen nicht. „Wo sind die Kastanien?”
Mein Freund führte mich ins Wohnzimmer und hüllte mich auf dem Sofa in eine Decke.
Ich erzählte weinend von meinem Erlebnis.
Er tippte sich an die Stirn. „Das ist unmöglich! Kastanien aus dem Duschkopf!”Andreas zog mir sanft die Decke hinunter. „Du müsstest Blutergüsse haben und Schmerzen von den Prellungen.”
Er hatte wohl recht. Nur mein Knie schmerzte, weil ich ausgerutscht war.
Andreas lachte und schüttelte den Kopf. „Und wo sind die Kastanien? Haben sie sich in Luft aufgelöst?” Er küsste mich leicht auf die Wange. „Meine kleine Träumerin.”
Innerlich zitterte ich immer noch und zog mir die Decke bis über meine Nase.
Andreas stand auf. „Ich koche dir einen starken Kaffee.”
„Mutter”, flüsterte ich.
„Was ist?”, rief er aus der Küche herüber.
„Bei meiner Mutter hat der Herbststurm die Kastanien vors Fenster geschleudert. Die Scheibe ist sogar zersplittert!”
„Siehste! Deshalb hat dein Unterbewusstsein im Traum Kapriolen geschlagen.”
Mein Telefon klingelte.
Es war der Käufer des alten Sofas.
. . .

„Aufwachen! Wach endlich auf!”
Ich spürte etwas Nasses, Kaltes auf meiner Stirn und schlug die Augen auf. „Paps!”
Er drückte mich sanft zurück und legte seinen Zeigefinger auf meine Lippen. „Pst.”
Ich ergriff seine Hand. „Ich hätte dein Sofa nicht verkaufen dürfen.”
„Du musst aufwachen!”
„Vater!”
Er gab mir jeweils leicht einen Klaps auf die Wangen. „Aufwachen! Du hast schlecht geträumt.”
Ich rieb meine Augen und sah verschwommen Andreas über mir. Er tupfte meine Stirn mit einem feuchten Waschlappen ab. „Du bist kreidebleich und hast gejammert. Ein Albtraum?”
Andreas nahm mein Telefon vom Kopfkissen, legte es auf den Couchtisch und ging ins Bad. „Bin leider spät dran! Muss mich noch rasieren.”
„Ein Traum?”, stammelte ich. „Aber ich habe doch geduscht, und dann kam dieser Anruf vom Käufer des alten Sofas.”
Genau so muss es gewesen sein.

Ich spürte wieder den stechenden Schmerz in meinem Knie, nahm zitternd mein Telefon und wählte die Nummer meiner Mutter. „Mama, der Käufer hat erzählt, dass gestern Nacht seine Wohnraum-Fensterscheibe klirrend zusammengekracht sei. Als er in den Raum kam, sollen auf dem Sofa Scherben und unzählige Kastanien gelegen haben.”
„Der Herbststurm! Wie bei mir.”
Mein Körper bebte: „Aber vor seinem Fenster steht kein Kastanienbaum!”
Ich hörte, wie es im Badezimmer schepperte und klirrte.
Das Wasser rauschte ungewöhnlich laut.
Ich fröstelte bei der Erinnerung an ... warf das Telefon aufs Sofa und stürzte ins Bad.

„Andreas!”
Er lag gekrümmt in der Duschwanne und war übersät mit Glassplittern und Kastanien.

Letzte Aktualisierung: 22.10.2010 - 12.17 Uhr
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