Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Vor zwei Monaten zog Helene mit Louis, dem Rattenmann, daheim aus. Ihre Eltern kamen mit seiner Art nicht zurecht. Ständig bestimmte er, welches Fernsehprogramm anzusehen war, was auf den Tisch kommen sollte und vor allem, wie mit der Tochter umgegangen werden durfte. Nämlich höflich und respektvoll. Zudem hasst Helenes Mutter Ratten.
Schließlich kam es zu einem letzten großen Krach zwischen ihr und Louis. Als sie den Rattenmann zu Tode treten wollte, biss er sie in den großen Zeh. Die Wunde entzündete sich, begann zu eitern. Margarethe hatte große Schmerzen und nahm eines Abends mehrere Schlaftabletten, die sie in die Bewusstlosigkeit schossen. In dieser Nacht amputierte Louis ihr die kaputte Zehe.
„Damit Madame keine Blutvergiftung bekommt“, erklärte er, während er den Nagel ausspuckte, der sich zwischen seinen Vorderzähnen verfangen hatte.
Nun hausen sie in einer kleinen Mansardenwohnung im ersten Bezirk. Der Vater kommt manchmal auf Besuch und schaut Helene mit traurigen Augen an.
„Monsieur Konrad ist ein feiner Herr“, sagt Louis über ihn.
Die Mutter betritt die Wohnung niemals.
„Wenn Louis geht, spreche ich wieder mit dir“, hatte sie beim Auszug Helenes betont. Immerhin hat sie sich an das Fehlen des Zehs gewöhnt, denkt Helene und bereitet das Frühstück für Louis. Ein Schälchen Milch und Vanillekipferl. Erst dann streichelt sie ihn wach. Seine Barthaare beben vor Lust.
Seit einer Weile hat Helene das Gefühl, als würde Louis größer werden.
„Mon cher Louis“, bittet sie ihn, nachdem er ein Vollbad genommen hat – er liebt das Baden im Calvin Klein Schaum und singt dabei französische Rocklieder von Johnny Hallyday, „stell dich auf den Hinterbeinen neben mich vor den Spiegel.“
„Dein Wunsch ist mir Befehl“, schäkert er und tut es.
Sie hat sich nicht getäuscht. Louis legt den Arm um ihre Taille, seine Ohren reichen tatsächlich schon bis zu Helenes Brust.
„Du wächst!“, ruft sie erstaunt.
„Très chic“, sagt er und führt einen Freudentanz rund um sie auf. Immer schneller wirbelt der Rattenmann, Helene sieht nur einen grauen Schatten, der sie umkreist. Minutenlang wird das Schlafzimmer zum chaotischen Trudeln, Helene wird schwindelig, ehe sie umkippt.
„Ma Belle, wach doch bitte auf“, hört sie aus der Ferne durch die dunkelgraue Watte dringen, die sie umhüllt. „Alles ist gut, Helene, du hattest bloß einen Schwächeanfall.“
Ihr ist kotzübel, wenn sie die Augen öffnen würde, müsste sie bestimmt erbrechen. „Louis?“, flüstert sie.
„Ja, ich bin bei dir.“ Er fährt liebevoll durch ihr Haar.
Beinahe bleibt ihr das Herz stehen, denn es ist keine haarige Pfote, sondern eine große Menschenhand, die ihr die Strähnen aus dem Gesicht streicht! Sein Lächeln ist so breit, als hätte er fünfzig Zähne im Mund, die Fältchen um seine Augen sind wie Sonnenstrahlen.
„Liebste, warum weinst du denn?“
Helene zwinkert die Tränen weg und wagt es, die Lider ein wenig zu heben.
Ein Männergesicht beugt sich über sie. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und krümmt sich zusammen. Was ist jetzt los?
„Louis, bist du es?“
„Oui, naturellement“, sagt er.
Der Mann mit dem Namen Louis trägt einen Schnurrbart. Er ist Pariser und studiert in Wien Medizin und Psychologie. „Wir sind seit vier Monaten ein Paar, Helene. Ist dir das wirklich entgangen?“ Er hilft ihr aufs Sofa, sie zittert so sehr, dass ihre Zähne aufeinanderschlagen.
„Du bist doch eine Ratte“, sagt sie mit zusammengepresstem Kiefer, damit sie die Worte herausbringt. Sie wagt einen genaueren Blick auf Louis. Seine Haut schimmert seidig braun wie Kaffee mit Schlagobers. Das schwarze Kraushaar schmiegt sich um den Kopf. Groß ist Louis, schlank. Er lacht. „Du siehst mich ja an, als wäre ich ein Fremder.“
Helene senkt den Blick.
„Pernod?“, fragt Louis und reicht ihr das Glas mit dem milchig gelben Getränk.
„Ich muss jetzt etwas von dir wissen!“ Pernodtröpfchen sprühen von ihren Lippen, „Sind wir wirklich die ganzen Monate zusammen gewesen?“
Er macht runde Augen. „Aber ja! Seit ich dich am Wienfluss im Frühling angesprochen habe, was ist los?“
Das Glas bricht, so fest stellt Helene es hin. „So geht das doch nicht ...“
Sie heult los. Louis will sie in die Arme nehmen, aber Helene schlägt ihn weg, ruft schluchzend ihre Mutter an. „Hast du deine Zehen? Alle, alle?“
„Du wirst immer verrückter, Kind.“ Mehr sagt sie nicht, sondern legt auf. Wie immer stößt sie Helene zurück.
„Louis hatte recht, ihr die Zehe abgenagt zu haben“, sagt sie zu Louis, der erschrocken zurückfährt.
„Was habe ich?“
„Ich meine die Ratte.“ Helene springt vom Sofa auf, drückt sich im Vorzimmer den hellrosa Strohhut aufs Haar und schlüpft in ihre Schuhe. „Adieu“, ruft sie und knallt die Tür zu.
*
Helene hat sich auf Margarethe gestürzt und ihr den Schuh ausgezogen.
„Du bist verrückt wie deine Mutter!“, kreischt die Mutter und versucht, Helene wegzustoßen.
Helene kann nicht glauben, was sie eben gehört hat. Dass die Zehen vollzählig sind, ist wenig überraschend. Ihr sind die Worte ausgegangen. Still sitzt sie neben der Frau, die sie bisher für ihre Mutter gehalten hat. Aber sie denkt. Zum Beispiel daran, dass Margarethe – nur mehr so will Helene sie ab heute nennen – die Blumen im Garten streichelt, doch nie das Kind Helene in den Armen hielt. Sie erinnert sich, Berührungen gab es zur Körperpflege oder für einen Klaps auf den Hintern. Helene rächte sich, indem sie das Frühbeet mit dem sorgfältig gezogenen Lavendel zertrampelte. Dafür wurde sie kräftig abgewatscht.
„Ach, Kind“, sagt Margarethe mit ihrer rauen Stimme.
„Was hast du da gesagt?“, fragt Helene. „Wer bist du?“
Margarethe zittert überall, sie verschwimmt zu einer grauen Gallertmasse, die auf den Teppich schwappt und sich davonschlängelt, hinaus will.
„So kommst du mir nicht davon“, schreit Helene empört und erwischt sie am Schwanzende, zerrt sie zurück, packt sie aufs Sofa. „Und wo ist meine Mutter?“
Margarethe sieht jetzt bleich aus. Sie schweigt beharrlich und Helene wird immer verzweifelter und wütender.
„Bitte“, fleht sie. Sie kratzt am Stoffbezug, die Nägel brechen einer nach dem anderen ab. Wenn diese Frau da nicht gleich redet, wird Helene sie in den Hals beißen. Margarethe öffnet den Mund, aber es kommt nichts heraus. Helene setzt zum Sprung an, doch in dem Moment hört sie die Tür und der Vater steht im Zimmer.
„Wo ist meine Mutter, Papa?“ Sie fliegt ihm in die Arme.
Nun wird auch er blass im Gesicht, stöhnt auf, schwankt.
„Was ist denn los mit euch?“, schreit Helene.
Der Vater lässt die Arme sinken, schlurft zum nächsten Sessel, fällt hinein.
Vielleicht war meine richtige Mama somnambul, denkt Helene. Sie ist über die Dächer spaziert im langen Nachthemd und in eine Stromleitung geraten.
„Ist meine Mama gestorben?“, fragt sie die Blassgesichter.
Ihr Herz bricht fast, als der Vater antwortet. „Sie ging fort, als du zwei Monate alt warst. Ich bat Margarethe, mir zu helfen.“
„Warum hat sie uns verlassen, Papa?“
„Ein Land reichte nicht. Ein Mann reichte nicht.“ Er steht auf und geht aus dem Zimmer.
Letzte Aktualisierung: 17.10.2010 - 23.48 Uhr Dieser Text enthält 10140 Zeichen.