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Verwandlung | Oktober 2010
Mutter
von Hank (derhank)

schossen die Tentakel wie Peitschenhiebe über die Kunstledersitze, Marie sprang vor und zurück, duckte sich und warf sich auf den Boden, rollte ab und verkroch sich zwischen zwei gegenüberliegenden Bänken. Aber das Untier setzte nach, packte mit seinen Schlangenfingern eine herrenlose Ledertasche und schleuderte diese längs durch den Waggon. Marie hatte kaum Zeit für einen Atemzug, schon zerbarst über ihr eine Querstange; der Tentakel wickelte sich darum und benutzte sie als Knüppel, drosch damit auf alles ein, auf was sich eindreschen ließ und es grenzte an ein Wunder, dass Marie nicht spätestens jetzt erschlagen wurde.
»Fahr doch!«, schrie sie, »Fahr doch endlich!«
Sie heulte, aber als das Prügeln für einen Moment aufhörte, wagte sie es dennoch, über die Sitzlehnen zu schauen. Das Tier hatte mit seinem unförmigen Körper das Rückende der U-Bahn komplett ausgefüllt und wühlte sich wie ein wachsender Hefeteig in den Zug hinein. Zahllose Facettenaugen glotzen Marie an, jedes Auge schillerte in einem anderen Licht, und mittendrin eine schmatzende Öffnung, sabbernd, blutig und voller winziger Zähnchen. Viel zu klein für so ein Monstrum, aber Marie hatte gesehen, wie ein Kind, das dort gesessen hatte, in dem Maul verschwunden war.
Der Bahnsteig war inzwischen evakuiert. Nur die, die es nicht geschafft hatten, lagen, erschlagen von THEMZIL, in ihrem Blut. Und einer von ihnen, ein fetter Kerl im Trainingsanzug, blockierte den Schließmechanismus der Tür.
»Fahr! Fahr! Fahr!«, schrie Marie.
Erneut rief die Lautsprecherstimme »Zurückbleiben!«, erneut tönte das Warnsignal, erneut blinkten die roten Lampen über den Türen - und erneut blieb diese eine Tür an dem Fettwanst hängen und schlug wieder auf. THEMZIL machte das Biepen offenbar wahnsinnig, noch wahnsinniger, als er ohnehin war, er brüllte irre und quetschte seine Körpermassen tiefer und tiefer in den Wagen hinein, kam Marie näher und näher. Sie sprang auf, wollte nach vorne, zum nächsten Wagen, zum Fahrer, weg von dem Biest, da traf sie ein Peitschenhieb und schleuderte sie über die Sitze hinweg direkt vor die blockierte Tür. Nur der füllige Bauch des Toten minderte den Aufprall, ließ sie auf eine ekelhafte Art weich landen. Dabei sah sie, dass der fast vollständig abgetrennte Kopf des Mannes draußen hing, zwischen Türleiste und Bahnsteigkante. Und dass es nur ein paar undefinierbare Stränge oder Adern waren, die das Schließen der Tür verhinderten.
Noch während Marie sich drehte und abrollte, um irgendwie von dem Toten wegzukommen, klatschte ein besonders mächtiger Tentakel auf den Bauch des Mannes und ließ dessen Eingeweide umherspritzen. Kreischend fuchtelte das Monster mit seinen zahllosen Armen, bekam wieder eine Stange zu fassen und schlug wieder um sich, doch Marie wusste in diesem Moment nicht, wovor sie mehr Angst haben sollte: vor THEMZIL, der ihr bei allem Wahnsinn doch vertraut war, oder vor dem Toten, der sie mit stumpfen Augen ansah. Sie wollte sich aufrichten, rutschte aber aus und plumpste zurück neben die Leiche. Sie hätte eigentlich nur rausspringen, wenigstens herauskrabbeln brauchen, aber dieser Kopf lag zwischen ihr und dem Bahnsteig. Marie schrie, als sie mit ihren Stiefeln vor den Schädel trat, schrie und trat und trat und schrie, so laut, dass sogar THEMZIL für einen Augenblick verharrte. Dann zerriss etwas, irgendetwas, und der Kopf kullerte wie eine Bowlingkugel davon.
»Zurückbleiben!« Wieder das Signal, wieder rote Lämpchen und wieder THEMZILs kreischende Antwort. Doch nun schlug die Tür zu und die U-Bahn setzte sich in Bewegung, ruckelte, stampfte und zog mit aller Macht an dem Pfropf, an THEMZIL, der nicht zu begreifen schien, was geschah. Metall knirschte, die Hülle, der Boden, die Decke, Fenster, Sitze, alles zerbarst mit einem ohrenbetäubenden Scheppern, das ganze hintere Drittel des Wagens löste sich vom Rest und mit ihm THEMZIL, der zuckend und fuchtelnd in der Dunkelheit verschwand, der zurückblieb am U-Bahnhof Herrmannplatz und dessen Schreie mit zunehmender Entfernung wie Kindergeheul klangen, wie die Schreie eines zurückgelassenen Kindes, ihres Kindes, alleingelassen von Marie, die sich die Ohren zuhielt und weinte.

Nach einigen Minuten war nichts mehr zu hören als das gleichmäßige Rumpeln der Bahn und der rauschende Hall aus dem aufgerissenen Rückende. Marie öffnete ihre Augen, schaute zurück in die Dunkelheit des Tunnels, schaute den nach hinten wegtauchenden Schienen nach, den Notlichtern und Kabeln. Nichts folgte, keine Tentakel, nichts mehr, nicht einmal mehr THEMZILs schreckliches Klagen.
Sie stand auf, zitterte, musste sich festhalten, dann sah sie sich um. Der Wagen war vollkommen verwüstet. Die Stangen verbogen, auseinander gerissen oder ineinander verkeilt, die Sitzpolster zerfetzt, überall loser Schaumstoff, die Bänke zertrümmert und die meisten Fenster eingeschlagen. Und außer dem kopflosen Fettwanst sah sie noch mindestens drei oder vier weitere Leichen; außerdem Handtaschen, Mützen, Schuhe - und Pfützen voller Blut. Auch Marie war am ganzen Körper besudelt und hatte nur noch einen Wunsch: ein heißes Bad, und alles, alles vergessen.
Der Anblick der Zerstörung, die Toten, der Geruch von Metall, Öl und Verwesung, all das zerrte an ihr, zerrte an ihren Eingeweiden, ihr wurde übel, und so torkelte sie nach vorne, zum nächsten Wagen, zur Durchgangstür, stieß diese auf und fiel hindurch. Die Tür schlug hinter ihr wieder zu und dann war es ruhig. Marie lag auf einem weichen Teppich und hörte - Musik. Beruhigende, fast sphärische Klänge einer Panflöte. Sie befand sich in einem dieser VIP-Waggons. Marie hatte davon gehört, aber noch nie einen betreten. Wie auch, die VIP-Fahrkarten kosteten ein Vermögen.
Hübsch war es hier, geräumige, lederne Sitzecken, eine mit dunklem Holz vertäfelte Bar, und hinten ein Separee, mit Toilette und Bad. Ein Bad! Ein unglaublicher Luxus; in schlichtem, rustikalem Kolonialstil; warmgraues Steinzeug, gebürsteter Messing und die Wanne ein nostalgisch frei stehender Emaillezuber!
Der VIP-Wagen war leer. Wie wahrscheinlich der ganze Zug. Alle waren geflohen, als Themzil aufgetaucht war.
Themzil, mein Themzil, wie bist du ...?
Marie wollte darüber nicht nachdenken. Ein heißes Bad, das war es, was sie brauchte. Noch einmal sah sie sich um. Niemand. Die Türen vorne und hinten zu, das Licht angenehm gedämpft und die Flaschen leise klirrend im Barschrank, wie zur Untermalung der Panflöte, die Marie an Lamas und freundliche Indios denken ließ.
Ein Bad. Sie drehte an den Messinghähnen, befühlte die Temperatur des einlaufenden Wassers, prüfend, bis es dampfte und rauschte. Dann roch sie an den verschiedenen Fläschchen und entschied sich für ein rotes, nach Melone duftendes Badesalz, wovon sie eine Handvoll in das ansteigende Wasser rieseln ließ. Sie zog ihre Jacke aus, öffnete den Gürtel, streifte die Stiefel ab und betrachtete den sich bildenden Schaum.
Während ihr Rock über dem Stoff ihrer Strumpfhose hinabglitt, knöpfte sie die Bluse auf. Das Salz löste sich und bildete am Wannenboden eine dunkle Wolke, einen tiefroten Schleier, der sich träge ausbreitete.
Marie band ihr Locken hoch und sah in den Spiegel. Zu spät, um die abtauchende Bewegung eines Schattens zu bemerken. Aus dunklen Augenhöhlen starrte sie sich an. Sie sah furchtbar aus. Mager war sie geworden, knochig, das blasse, dünnhäutige Gesicht blutbeschmiert, und ihr Haar stumpf vom Staub und grau nach diesen fürchterlichen Wochen der Angst. Sie wandte sich ab.
Das sprudelnde Wasser übertönte die Schritte, die sich langsam dem Separee näherten. Marie schlüpfte aus der Strumpfhose und prüfte noch einmal die Wassertemperatur.
Ein Geräusch ließ sie hochfahren.
Rauschen, Panflöte und leises Flaschenklirren. Vorsichtig schlich sie zum Ende der Trennwand, sah um die Ecke, in den Wagen. Nichts. Da war niemand. In beide Richtungen nur Sitze, Tischchen und die Bar. Und die Bahn fuhr schnell, zu schnell auch für Themzil, davon war sie überzeugt.
Marie schüttelte den Kopf und ging zurück zur Wanne, die sich allmählich füllte; und unter dem Schaum rot leuchtete. Sie zog ihr Unterhemd aus, dann den Slip und tauchte einen Fuß in das heiße, prickelnde Wasser.
»Mutter ...?«
Ihr Herz stockte. Machte sie sich jetzt verrückt? Sie widerstand dem Impuls, erneut hinter die Trennwand zu schauen. Stieg stattdessen nun auch mit dem anderen Fuß in die Wanne und ließ ihren Körper langsam hinabtauchen, setzte sich in die unendlich wohltuende Hitze.
»Mutter!«
Sie zuckte zusammen. Atmete einmal tief durch, noch einmal, dann drehte sie das Wasser ab. Stille. Die Panflöte war von einem gregorianischen Choral ersetzt worden, tragend und besinnlich und leise, und irgendwo klimperten immer noch Flaschen aneinander, und der U-Bahn-Zug summte, ansonsten ...
»Themzil?«, fragte Marie.
Plötzlich ein Schatten. An der Trennwand, neben, über ihrem eigenen Schatten die Silhouette eines Mannes, eines Mannes, der beide Hände angehoben hatte, der ...
»Mutter ...«
Marie wagte nicht, sich umzusehen, schielte nur mit einem Auge nach rechts. Der Apparat in der Ecke, das war ... ein überdimensionierter Krankenfahrstuhl, ein Ungetüm mit hohen Rädern, Fußrasten, Kopfstütze und gepolsterten Armlehnen. In dem niemand saß. Mutter?
»Mutter, wo ... was machst du da ...?« Die Stimme hinter ihr unangenehm hoch, beinahe schrill, und jetzt sah Marie, dass da noch was war, zwischen seinen Schattenhänden ...
»MUTTER!«
»Dem... d... dsemsil?«
Als der Mann einen Schritt näher an sie herantrat, wurde die Schattenkontur schärfer, verschmolz mit ihrem Schatten, ragte aus ihrem Schatten heraus.
»Wer - bist - du ...?«, flüsterte er, aber es war ein harsches Flüstern, ein Zischen, das jedes Wort wie einen Windstoß über ihre Nackenhaare fahren ließ. Die Schattenfinger spielten mit einer Art Leine oder Draht.
»Was - hast du - mit Mutter gemacht?«
Ihr letztes »semsl...« erstickte in einem unkontrollierten Schluchzen, während die Bahn ohne Halt durch das Tiefengestein der Stadt rumpelte; Maries Heimatstadt, die seit der Verwandlung

Letzte Aktualisierung: 22.10.2010 - 12.04 Uhr
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