Honigfalter
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Verwandlung | Oktober 2010
Kommen und Gehen
von Farida Halib

Dieser strahlende Oktobertag schenkt mir eine Auszeit. Ohne mich lange zu besinnen, schnappe ich mir meine Gummistiefel und verlasse das Haus. Ich laufe forschen Schrittes dem Laubwald entgegen, der sich gleich oberhalb unseres Zuhauses auf dem HĂŒgel ausdehnt.

Noch bevor ich ihn betrete, erreicht mich der Atem des Waldes. Er duftet nach frischer, feuchter Erde und nach Pilzen. Die ersten Esskastanien liegen zwischen einigen schon rot und gelb verfĂ€rbten BlĂ€ttern vor meinen FĂŒĂŸen. In wenigen Wochen wird es hier ein vielfarbiges, rauschendes BlĂ€ttermeer geben, das ich mit besonderer Vorliebe durchfurche.

Leider ist sie vergĂ€nglich, diese Zeit, wie alles auf dieser Erde. Die großen RegenfĂ€lle werden die BlĂ€tter vermodern, der Frost sie schließlich zu Staub zerfallen lassen, die Erde wird sie aufnehmen und die BĂ€ume damit nĂ€hren, auf dass im nĂ€chsten FrĂŒhling die zarten Sprösslinge wieder keimen können und dieses Wunder seinen Lauf nehme. Alles ist im Wandel begriffen, alles Irdische vergĂ€nglich, im Kreislauf, kehrt wieder.

WĂ€hrend ich meinen Rundweg mache, und mich in meine Anschauungen vertiefe, fĂŒhle ich mich plötzlich um Jahre zurĂŒckversetzt. Im Alltag verblasste Erinnerungen holen mich
ein und bekommen wieder frische Farben ...

Ich liege auf dem Behandlungstisch. Meine Therapeutin ist eine junge Frau. Sie hat meinen Kopf massiert, eine Anwendung, die mich in einen Zustand tiefer Entspannung versetzt. Ihre angenehme Stimme bringt mich langsam zurĂŒck in meine Kindheit. Es entstehen Bilder vor meinem geistigen Auge, von denen ich berichte. Langsam begleitet die Stimme mich immer weiter in die Vergangenheit zurĂŒck. FilmĂ€hnliche Bilder entstehen vor meinen Augen. Es fĂ€llt mir nicht schwer, sie zu beschreiben.

Beim Zeitpunkt meiner Geburt angelangt, lÀsst mich die Stimme frei wÀhlen. Ich werde angewiesen, dort hinzugehen, wo es mich hinzieht und zu berichten, was ich sehe.

Ein kleiner Junge ist da. Ein Junge, der auf der staubigen Erde spielt, inmitten eines Hofes, der von allen Seiten von flachen GebĂ€uden umgeben ist. Ich weiß, dass er elternlos ist ... in einem Unfall sind beide ums Leben gekommen. Er lebt bei einer Großfamilie auf einer Art Hacienda, wie mir scheint. Er beschĂ€ftigt sich selbst inmitten dieses großen Hofes, wo jeder seinen Aufgaben nachgeht und keiner auf ihn achtet. Andere Kinder sehe ich keine. Er ist ein Außenseiter. Er ist ein einsames Kind. Ich spĂŒre seinen Schmerz. Ich möchte es nicht glauben und wehre mich innerlich dagegen, ... aber der Junge bin ich! -

Ich mag den Bildern, die ich sehe, keinen Glauben schenken, aber ich kann sie mit meinem Willen weder beeinflussen noch löschen. Solange ich nicht darĂŒber rede, bleiben sie beharrlich vor meinen Augen, und ich muss davon sprechen, um sie loszuwerden. –

Als kleiner Junge habe ich ein krankhaftes BedĂŒrfnis, Einfluss auf meine Umwelt zu nehmen. Das tue ich, indem ich Tiere fange und sie quĂ€le. Das gibt mir ein GefĂŒhl von Macht, und ich koste diese Momente aus, in denen ich spĂŒre, dass mein GegenĂŒber sich mit mir auseinandersetzen muss.

Als der erste Nager, eine Art Chinchilla, von meinem rostigen Nagel durchbohrt, stirbt, fĂŒhle ich mich betrogen. Ich bin wieder einsam. Der Tod hat mir entrissen, wonach ich so lechzte.

Ich wachse heran und trete in den Dienst eines mĂ€chtigen Mannes. Ich foltere Menschen fĂŒr ihn. WĂ€hrend der Prozeduren nehme ich mich als lebendig und geachtet wahr. Wenn meine Opfer dabei sterben, fĂŒhle ich mich genarrt und hintergangen, und ich bleibe einsam zurĂŒck. Die Grenze nicht ĂŒberschreiten zu können, das beschĂ€ftigt mich.

Auch ĂŒber meine Aufgabe hinaus bin ich gewalttĂ€tig. Ich verschleppe eine junge Frau. Im Galopp schnappe ich sie mir, zwinge sie auf mein Pferd und vergewaltige sie schließlich in einem nahegelegenen Feld. – Trotz allem fĂŒhle ich mich ohnmĂ€chtig. Als ich hinterrĂŒcks erdolcht werde, spĂŒre ich den bohrenden Schmerz ... Ich gehe ... -

„Löse dich von dieser Erfahrung und finde in die Gegenwart!
Du bist an einem sicheren Ort, du bist entspannt und fĂŒhlst dich wohl“, weist mich die beruhigende Stimme meiner Therapeutin an und verhilft mir wieder zu innerem Abstand. Dann lĂ€sst sie mich erneut frei, und ich folge den Bildern, die da kommen. -

Ich bin eine weise Frau, eine KrĂ€uterfrau. Ich lebe zurĂŒckgezogen, in einem kleinen HĂ€uschen inmitten meines KrĂ€utergĂ€rtchens auf einer Waldlichtung. Menschen, die Hilfe brauchen, kommen zu mir. Insbesondere Frauen sind es, denen ich mit dem Geist der Pflanzen weiterhelfen kann. Als man mich zu einer bedĂŒftigen Frau in der Stadt ruft, weiß ich, dass ich ein großes Risiko eingehe. Frauen wie ich, sind in der Stadt nicht gerne gesehen. Aber ich muss es tun; das weiß ich. Im StĂ€dtchen werde ich prompt gefasst, werde einige Tage im Turm festgesetzt und warte dort auf meine Hinrichtung. Auf dem Scheiterhaufen soll ich brennen. Ich habe keine Angst vor dem Tode. Das Schlimmste jedoch, was mir passiert, ist die Fahrt auf dem Karren zum Marktplatz, wo ich hingerichtet werden soll. Ich werde von den Menschen am Straßenrand beschimpft und bespien. Ich fĂŒrchte und verabscheue die Bestie, zu der die Menschenmasse wird. Sie ist wie von einem bösen Geist besessen. Endlich sehe ich das Reisig Feuer fangen. Ich spĂŒre nichts, doch ich bin froh zu gehen ...

Ich komme wieder. Ich bin ein indischer Elefantenhirte. Ich beginne schon als kleiner Junge, die Tiere morgens an den Fluss zu treiben und den Tag mit ihnen zu verbringen. Ich liebe sie. Sie sind meine besten Freunde. – Als ich erwachsen werde, heirate ich und habe zwei Kinder. Meine Kinder sind erst halbwĂŒchsig, als ich beschließe, mich der Verpflichtungen zu entledigen, die eine Familie mit sich bringt. Ich verlasse sie und kehre nun mit meiner ganzen Energie zu meinen Elefanten an den Fluss zurĂŒck, wo ich endlich wieder die Nacht verbringen kann, wann immer ich das möchte. Ich gehe ...

Ich komme und gehe noch viele Male und die Bilder sind unerschöpflich, wie mir scheint. Drei Tage geht das so und als ich die „sessions“ abschließe, kann ich mich nie wieder ĂŒber andere erheben, nie wieder jemanden verurteilen. Das Bild des Todes ist verblasst. Es gibt ihn schlichtweg nicht. Alles erscheint vergĂ€nglich, doch alles kommt wieder im zuverlĂ€ssigen Kreislauf der Natur. -

Eine Kastanie trifft mich an der Schulter, als sie vom Baum fĂ€llt, und holt mich in die Gegenwart zurĂŒck. Ja, alles ist Verwandlung, nichts geht je wirklich verloren, stirbt in dem Sinne, wie es uns gelehrt wurde.

Nach dem Sonnenstand zu urteilen, wird es Zeit, zu meinen Verpflichtungen nach Hause zurĂŒckzukehren. Mein Rundgang ist beendet, und ich wende mich heimwĂ€rts. Diese geschenkte Stunde in der Natur hat mich erfrischt und erneuert, ein bisschen verwandelt.

Verwandelt haben sich auch meine FĂŒĂŸe. Als ich meine Stiefel abstreife, stelle ich fest, dass ich mir Blasen gelaufen habe. Beim nĂ€chsten Mal muss ich mich unbedingt erinnern, die Turnschuhe zu benutzen.

Letzte Aktualisierung: 14.10.2010 - 16.59 Uhr
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