Der himmelblaue Schmengeling
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Verwandlung | Oktober 2010
My Dental Diaries
von Jochen Ruscheweyh

Junge: „Mama, alle sagen, ich hab´ so komische Zähne.“
Mutter: „Unsinn! Aber mach´ bitte den Mund zu, du zerkratzt mir den Fußboden.“

Dieser Witz ist der meisterzählte im Sommer 1978 und wir lachen uns regelmäßig tot, wenn jemand davon anfängt. Aber bald schon erscheint mir die Sache weniger lustig. Denn plötzlich bin ich wie dieser Junge, der dort im Fokus steht. Genauer gesagt, als mich unser Schulzahnarzt in der dritten Klasse über mein gestörtes Zahnbild in Kenntnis setzt.
Wir kriegen einen Arztbrief für unsere Eltern mit. Mein Freund Uli zerreißt seinen und stellt einfach alle Zahnarztbesuche bis zur Musterung ein.

„Na herzliches Beileid, dann kriegst du so ´ne Ami-Klammer wie der Meinhard aus der 3b, die mit 500 Grad Temperatur in deinen Mund gepresst wird. Mit kleinen Nägeln, die Säure abgeben, damit du nicht mit der Zunge dagegen drückst!“, klärt mich mein bis heute unbeplombter Freund Uli auf. Aus seinen Worten trieft Wissenschaft, schließlich hat er das „PM-Magazin“ abonniert und kann mit seinem „Kosmos-Experimentierkasten“ flüssigen Sauerstoff herstellen. Sagt er.
Also hänge ich mich auf unserer Jahrgangsfahrt an den verschrobenen Meinhard dran und lasse mich von ihm als Rekrut über die Herbergswiese jagen. Ich kann ihm gerade entlocken, dass Klammertragen viel mit militärischer Disziplin zu tun habe. Zähne müssten eben in Reih und Glied stehen. Dann hat er keine Ruhe mehr. Zu stark drängt die Frage, wie er seine Ami-Truppen auf seinem Gips-Toporama am günstigsten gegen die Japse positionieren kann.

„Für so einen Schnickschnack zahlt unsere BKK nix, da gibt´s den normalen Kassendraht auf Schweinchen-Kunststoff!“, klärt mich mein allzeit gut informierter Vater auf. Ich könnte ihn küssen, spare mir einen so heftigen Emotionsausbruch aber lieber für eine oder mehrere positive Antworten auf die Fragen Mofa, Auto und Eigentumswohnung auf.

Einige Tage später verliebe ich mich ziemlich heftig in Simone, weil sie uns nachmittags beim Garagentor-Fussball eröffnet, sie wünsche sich dringend eine Zahnklammer, obwohl sie meiner Meinung nach die perfektesten Zahnreihen im ganzen Vorort besitzt.
Mein Plan: Wenn ich vom Kieferorthopäden komme und meine Querdrähte blitzen lasse, gehört die Kleine mir. Denn auch wenn Metaphern laut Lehrplan erst in der siebten Klasse dran sind: Simones Wunsch nach einer Zahnklammer steht für den Wunsch nach mir, das ist so klar wie der Färbetest von „Blendax-Antibelag“, der harmlose Zähneputzer im ZDF-Werbeblock bloßstellt, weil sie die falsche Zahnpasta benutzen.

Aber vor das Mahl hat der Herr die Mühen gelegt und vor die Zahnspange den Abdruck. Ein traumatischer Augenblick, wenn man eine empfindliche Zungenwurzel hat und weder Kaugummi noch Minze ausstehen kann, jene Hauptzutaten des fiesen Klebebreis.
Ich würge, während mein Kieferorthopäde die enorme Haftkraft des Breis anpreist. Wie zur Beweisführung versuchen drei Helferinnen nacheinander, die Abdruckform wieder aus meinem Mund zu lösen. Dann erst erscheint Dr.P. und zieht den Stahlbrocken in bester Excalibur-Tradition heraus. Ich nenne ihn übrigens hauptsächlich deshalb so, weil Dr.P´s vollständiger Name wie der lateinische Ausdruck für das männliche Geschlechtsteil klingt.

Als ich das erste Mal mit Klammer den Garagenplatz betrete, erfahre ich schmerzhaft, dass sprachliche Stilmittel doch reichlich Interpretationsspielraum bieten. Simone wünscht sich nämlich gerade nichts dringender, als beim nächsten Training des TSV dabei zu sein. Was liegt da näher, als sich an TSV-Stürmer Holger ranzuschmeißen?

Als guter Freund erkennt Uli mein seelisches Tief und verzichtet darauf, nachzubohren. Stattdessen erzählt er mir lieber von dem Porno, der immer an meinem Geburtstag im Fernsehen läuft. Auf den kann ich mich schon mal freuen, meint er, weil er, Uli, den schon zwei Mal gesehen hat, wo die Männer am Ende wegen des vielen Sex ganz kleine Geschlechtsteile kriegen.

Wir Klammer-Gebeutelten sind eine unauffällige Gemeinschaft. Wir nicken uns wie Yps-Geheimagenten zu, wenn wir bei anderen Leidensgenossen das rot-weiße Band um den Hals entdecken. Denn kaum jemand trägt die mobile Plastikgarage so aggressiv zur Schau wie die Brustbeutel mit integriertem Busfahrkarten-Fach.

In Italien verliebe ich mich in Sabrina, deren Dosen-Klappern am Band in meinen Ohren präpubertär-erotisch klingt. Doch unsere platonische Liebe währt, wie der Urlaub, nur eine Nachstellperiode lang. Das ist genau die Zeit, bis der Kieferorthopäde die Mechanik einer Klammer mit einem kleinen Schlüssel weiter stellt, weil die Zähne inzwischen dem Druck nachgegeben haben und ein Stück weiter in die gewünschte Position gewandert sind. So die Theorie.

Ich fühle mich wie der inoffizielle Gewinner von „Jugend forscht“, als ich eines Abends entdecke, dass sich die Spitze einer Heftzwecke super in ebendiese Mechanik einführen lässt. Ich stelle meine beiden Klammern erstmal drei Umdrehungen zurück; sanft gleiten Ober- und Unterteil in meinen Mund.
Mein Doktor ist beim nächsten Termin so begeistert, wie gut sich mein Zahnbild geweitet hat, dass ich die Klammern fortan nur noch nachts tragen muss.
Mein schlechtes Gewissen, ihn hintergangen zu haben, quält mich nur kurz. Denn bei jedem Folgebesuch präsentiert er mir die gute Nachricht brandheiß neu.

Im Juni 1980 ist mein Geschlechtsteil-Zahnarzt dann endgültig von seinem Behandlungserfolg überzeugt, entlässt mich als geheilt und ich verliebe mich nacheinander ziemlich hoffnungs-, sinn- und erfolglos in eine weitere Simone, eine Karin und schließlich eine Martina mit amerikanischer Klammer, bei der ich aber trotz ähnlichem Kieferorthopädie-Background nicht landen kann.
Uli philosophiert daraufhin, die Ursache könnte eventuell auch in mir begründet liegen. Ich scheuer´ ihm ein paar und spreche drei Monate nicht mehr mit dem Klugscheißer. Das scheint ihn weniger zu stören als mich, kann er doch in dieser Zeit bei einer Karin, einer Barbara, einer Silke, und zwei Martinas punkten.

Weitere fünf Jahre später tendieren meine Fortschritte bei Frauen immer noch ziemlich gegen Null. Trotzdem hat sich Einiges bewegt: Nämlich meine Zähne, die konspirativ wieder in die ursprünglichen Positionen zurückgekehrt sind. In einem pubertätsbedingt zugegebenermaßen recht konstruierten Kausalzusammenhang werfe ich meinen Eltern vor, mich vorsätzlich gequält zu haben und drohe damit, das Jugendamt einzuschalten. Mein Vater bringt seine Gefühle mit dem Satz „Junge, du bist ja nicht ganz dicht!“ zum Ausdruck, meine Mutter heult.

Ich heule auch. Ziemlich oft sogar in den folgenden Wochen. Warum genau, weiß ich nicht. Außerdem quälen mich permanente Magenschmerzen. Und langsam beschleicht mich die Befürchtung, mein Vater könnte mit seiner Vermutung bezüglich meines Geisteszustands nicht ganz Unrecht haben.

Selbst mein Freund Uli weiß nicht konkret weiter. Er hat sein P.M.-Abo inzwischen gekündigt, dafür legt er - zum Zeitvertreib, wie er sagt - die Bräute jetzt reihenweise flach.
Unser Hausarzt hat Rat, den ich nicht hören möchte: „Das ist psychosomatisch, Junge, da kann ich nix machen, aber ich schreibe dir hier mal die Adresse von einem hervorragenden Analytiker auf!“

Ich tausche den Zahnarztstuhl gegen eine klischeemäßige Liege in einer pastellfarbenen Praxis und fange wieder an zu würgen. Diesmal allerdings Worte, erst einzelne, dann ganze Sätze, die Herr Dr.O. hinterfragt oder im Raum stehen lässt.
Und plötzlich wünsche ich mir, mein Ex-Doktor mit dem Geschlechtsteilnamen käme, würde mir seine Abdruckform gegen den Bauch drücken, fest werden lassen und diese ganze Psychosomatik würde sich darin manifestieren, damit ich sie ausklopfen und wegschmeißen kann.
Aber so einfach ist das nicht.

Nach acht Sitzungen diagnostiziert mir Dr.Johannes O.: „Sie haben nicht genug Biss, junger Mann, und machen Sie sich nicht immer so klein.“
Aber daran, meint er, der übrigens eine riesige Nase hat, kann man arbeiten. Und dass das weitaus weniger schlimm wäre als ein vereiterter Weisheitszahn. So seine Theorie.
Von der Theorie gehe ich zur Praxis über, versuche gleichzeitig, originell zu sein, meiner Umwelt die Zähne zu zeigen und niemanden meinen Schmelzpanzer durchbohren zu lassen. Besser fühle ich mich nicht dadurch. In Ulis Fahrwasser gelingen mir zwar sogar ein paar Bissattacken. Was sie hinterlassen, schmeckt allerdings fad.

Wenn es so etwas wie einen Drehbuchschreiber oder Ghostwriter hinter meinen Dental Diaries geben sollte, schickt er mir plötzlich genau zum richtigen Zeitpunkt Erlösung, die mich an die Hand nimmt, mir auf den Zahn fühlt, sich beißen lässt, aber auch zurückschnappt.
Langsam fallen tatsächlich einige fest gewordene Dinge aus der Abdruckform. Und ich merke, wie ich wachse. Etwa zeitgleich wechsele ich - unbewusst oder nicht - die Zahnpasta. Die neue schmeckt nach Minze.

Mittlerweile habe ich meinen Eltern verziehen. Die von ihnen erhoffte Verwandlung vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan ist zwar ausgeblieben und auch sonst habe ich irgendwie mehr von Donald Duck als von Gustav Gans. Aber vielleicht besteht die eigentliche Verwandlung mehr darin, dass ich gelernt habe, dass Menschen mich so mögen wie ich eben bin. Und dass ich mit vielen Dingen umgehen kann. So auch mit meinen schiefen Zähnen. Im Gegensatz zum verbitterten Meinhard, der wegen seiner Beißruinen keine Jagdpilotausbildung machen konnte.
Natürlich wird es immer Leute wie Uli geben, denen alles so einfach in den Schoß fällt. Und auch wenn - oder besser gesagt: gerade weil - er mein Freund ist, frage ich mich manchmal, ob er wirklich zufrieden damit ist.

Ihr wollt jetzt sicherlich hören, ob ich einen Rat für Euch habe, eine “Moral von der Geschicht“ oder so was.
Aber, hey, ich bin doch einfach nur ´n Kerl, der nach einer durchzechten Nacht morgens mit Muskelkater in der Unterlippe aufwacht, weil sein oberer Schneidezahn im Schlaf daran hängen geblieben ist.
Was kann ich schon groß wissen?

Letzte Aktualisierung: 24.10.2010 - 09.15 Uhr
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