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Verwandlung | Oktober 2010

Bleib doch!
von Ingeborg Restat

Altersmäßig sollte Toni eigentlich längst erwachsen sein, aber noch immer trug er die Kluft derer, denen in ihren jungen Jahren die Kraft der Faust wichtiger war als die Stärke des Geistes. Zusammen fühlten sie sich unschlagbar. Auch Toni gehörte zu einer Gang, wie die Halbwüchsigen es nannten. Lärmend zogen sie umher und forderten die Gesellschaft heraus. Dabei war Toni fast der Schlimmste von ihnen, wenn es galt, der Welt zu trotzen. Sie berauschten sich an dem Gefühl des Sieges, wenn man ihnen auswich oder jemand Furcht zeigte. Am liebsten aber bedrängten und erschreckten sie junge Mädchen. Gellend johlten sie dann den Fliehenden hinterher.
Als Toni Britt zum ersten Mal begegnete, durchquerte er einen Park. Ohne seine Freunde und ohne den Halt der Gruppe, verriet nur sein Aussehen, wozu er gehören wollte.
Britt kam ihm entgegen. Ihre Blicke trafen sich und blieben aneinander haften, wie gebannt.
Toni verlangsamte seinen Schritt. Er wollte dieses Mädchen am liebsten festhalten, nicht mehr aus den Augen verlieren. Was war nur los mit ihm? Eine andere hätte er sofort angerempelt, um auf seine Art mit ihr anzubandeln. Bei dieser hier vermochte er das nicht.
Auch Britts Schritt wurde zögernder. Wartete sie darauf, dass er sie ansprach? Doch als sie sich zum Berühren nah waren, schlug sie ihre Augen nieder und lief hastig an ihm vorüber.
Toni sah ihr nach, sah ihre enge, über der Hüfte viel zu knapp sitzende Hose und die kurze Bluse dazu. War dadurch ihr Bauchnabel frei gewesen? Er wusste es nicht. Er machte die ersten Schritte, um ihr zu folgen. Dann blieb er stehen und fuhr sich verwirrt durch seine kurzen Haare. Was war los mit ihm? Noch nie war er einem Mädchen nachgelaufen, hatte es nicht nötig gehabt. Aber hier … diesmal war es anders, das fühlte er.
Bald kannte er viele ihrer Wege und richtete es in der nächsten Zeit so ein, dass er ihr oft begegnen musste. Auch sie schien seine Nähe zu suchen. Er fieberte jeder Begegnung entgegen. Er hatte sich in dieses Mädchen unsterblich verliebt.
Doch wenn er es wagen wollte, sie anzusprechen, errötete Britt und wandte sich ab. Wie sollte er nur mit so einem Mädchen umgehen, das so anders war als alle, die er bisher kannte?

War er danach mit seinen Freunden in der Gang zusammen, so befiel ihn jetzt oft ein unerklärliches Unbehagen. Noch machte er alles mit, auch als sie eines Tages am Badestrand des Sees vor der Stadt entlang zogen, um Leute zu ärgern. Sie grölten vor Vergnügen und fanden es geil, wenn jemand schnell seine Sachen nahm und das Weite suchte. Toni lief auch mit, als sie die drei Mädchen entdeckten, die abseits vor einem Wäldchen am Strand saßen.
„Los! Das wird voll krass“, rief einer und sofort rannten sie alle darauf zu.
Die Mädchen fanden keine Zeit mehr, ihre Sachen zusammenzuraffen.
Entsetzt erkannte Toni unter ihnen das Mädchen aus dem Park. „Halt, halt!“, rief er.
Doch schon warfen seine Kumpel die Sachen der drei unter Gejohle wahllos in der Gegend herum. Unter dröhnendem Gelächter stießen sie sich die kreischenden Mädchen in ihren knappen Badeanzügen gegenseitig zu. Atemlos hatte Toni zugesehen, bis auch er sich ins Getümmel stürzte. Einmal diese Fremde im Arm zu halten und zu spüren, das wollte er sich nicht entgehen lassen. Ein Griff und er hatte Britt gepackt. Entsetzt sah sie ihn an, zerrte, wollte weg. Er ließ nicht los, tat ihr weh, zog sie näher zu sich heran. Aufgepeitscht durch die hysterischen Schreie der anderen Mädchen, durch das triumphierende und lüsterne Johlen seiner Kumpane, wusste er nicht mehr, was er tat.
„Nein“, schrie Britt, „nein!“
Nackte Angst erkannte er in ihren Augen. Sie zitterte, fürchtete sich vor ihm. Das sollte sie nicht. Er kam zu sich und ließ sie los.
Britt kam nicht weit. Ein anderer hielt sie fest. Toni sah, wie der an ihrer Badehose zog, als wollte er sie ihr herunterziehen. Sie schrie und wehrte sich. Toni sah rot, hob die Faust und schlug ihm mitten ins Gesicht.
Verblüfft stutzte der, ließ Britt los und schlug zurück. „Du spinnst wohl?“
Sofort ließen alle von den Mädchen ab.
Wie gejagt rannten die in den nahen Wald.
„Euch hat wohl einer ins Hirn geschissen?“, meinte einer und ging zwischen die Streithähne.
„Was ist denn in dich gefahren?“, wollte ein anderer von Toni wissen.
„Komm! Lass ihn! Der hat se nicht mehr alle“, antwortete der Angegriffene mit verachtendem Blick, ehe sie alle davongingen.
Toni blieb allein zurück. Unglücklich setzte er sich in den Sand ans Wasser. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht und merkte nicht, dass er damit auch Tränen abwischte. Was war nur geschehen? Dieses Mädchen sollte sich doch nicht vor ihm fürchten. Wie konnte er das nur zulassen?
Hinter seinem Rücken kamen die drei vorsichtig aus dem Wäldchen zurück und rafften ihre Sachen zusammen. Als Toni das bemerkte und sich umdrehte, stoben sie schreiend davon, nur ein Paar Schuhe blieben zurück, Britts Schuhe.
Toni nahm sie mit. Das war ein Pfand für ihn, um ihr wieder begegnen zu können. Er musste mit ihr reden, ihr alles erklären, sagen, wie gern er sie hatte.

Ein paar Tage später hängte er sich Britts Schuhe an die Lenkstange seines Fahrrades und fuhr los.
An der Straßenecke standen seine Freunde. Vergessen war die Schlägerei am Strand. „He, Toni!“, riefen sie.
Er winkte ab. Sie waren ihm plötzlich fremd geworden.
Bei dem Park hielt er am Straßenrand an und blieb im Sattel sitzen. Hier musste sie vorbeikommen.
Geduldig wartete er Stunde um Stunde. Der Tag begann zu dämmern.
Ein hübsches Mädchen mit Stöckelschuhen lief in einem allzu kurzen Rock an ihm vorüber. Ein aufreizendes Lächeln. Die könnte er haben. Er brauchte ihr nur zu folgen. Sonst hätte er es getan. Doch diesmal? Es widerte ihn an. Er dachte an die scheuen Blicke dieser einen aus dem Park, wenn sie sich begegnet waren. Wie gern würde er sie in seine Arme nehmen und streicheln. Streicheln! Wann hatte er ein Mädchen liebevoll gestreichelt? Was war nur los mit ihm?
Die Laternen flammten bereits auf. Endlich sah er sie kommen.
Sein Herz schlug bis zum Hals.
Schnellen Schrittes, den Kopf gesenkt näherte sich Britt. Erst als sie Toni fast erreicht hatte, bemerkte sie ihn und ihre Schuhe an seinem Fahrrad. Abrupt blieb sie stehen.
„Haste deine Schuhe nicht vermisst?“, rief er ihr zu.
Sie rührte sich nicht. Fürchtete sie sich noch immer vor ihm?
„Hab dich nicht so, Komm her!“
Sie machte einen Schritt zur Seite. Ließ ihn nicht aus den Augen. Dann schlug sie einen Bogen und lief, ohne ein Wort, hastig an ihm vorbei.
Was hatte er sich erhofft? Enttäuscht wendete er sein Rad und fuhr neben ihr her.
Sie beschleunigte ihren Schritt.
„He! Was ist los?“
Britt begann zu rennen.
Mit einem Satz fuhr Toni auf den Bürgersteig und dicht an sie heran. „Bleib cool, Mädchen!“, redete er auf sie ein und versuchte, sie am Ärmel festzuhalten.
Britt riss sich los, rannte weiter wie um ihr Leben.
Toni fuhr nebenher. „Ich will doch bloß … So höre doch!“ Er versperrte ihr mit dem Rad den Weg. „Bleib, bleib! Ich mag dich. Hörst du, ich will dir sagen … wir könnten doch …“
Sie versuchte zu entkommen.
Fast war es ihr gelungen, da packte er sie. Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Sie wand sich unter seinem Griff. „Lass mich los!“, zischte sie atemlos und schlug ihm ins Gesicht.
Bestürzt ließ er sie gehen.
Vor Panik schreiend hetzte sie davon.
Entsetzt, mit hängenden Schultern, sah er ihr nach. Ihre Schreie gellten in seinen Ohren und trafen ihn wie Hiebe.
Ein Mann kam aus dem Park und stürzte auf ihn zu, packte ihn, schüttelte ihn und schrie: „Lass das Mädel in Ruh und mach, dass du weg kommst!“
Toni versuchte ihn abzuschütteln. „Halt die Schnauze!“, blaffte er zurück.
Da stieß der Fremde ihn mitsamt seinem Fahrrad zu Boden. „Wird’s bald? Oder soll ich erst die Polizei rufen?“, drohte er.
Verachtend blickte er auf Toni herab, der am Boden hockte, mit den Zähnen knirschte und seine Fäuste ballte. „Los, erheb’ dich und hau ab!“, forderte der Mann.
Toni überkam Lust, den Kerl seine Fäuste spüren zu lassen. Sie waren allein hier im Schein der Laternen. Ehe der es sich versah, würde er ihn zu Boden schlagen. Aber würde es ihm das Mädchen zurückbringen? „Mist!“, quetschte er zwischen den Zähnen hervor, rappelte sich auf und ging in den Park. Er spürte, dass der Fremde ihm noch drohend nachsah, bis er aus seinen Augen verschwunden war.
Mutlos fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn und wischte sich den Schweiß ab. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er fühlte sich so elend. Die Beine zitterten ihm. Er lehnte sein Rad an eine Bank, setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte einen schalen Geschmack im Mund. Wieso war das Mädchen nur davongelaufen? Vor ihm musste sie sich doch nicht fürchten. Er schnäuzte sich heftig und fuhr sich über die nassen Augen.
War es Enttäuschung, war es Zorn? Er fühlte sich verletzt, seine Liebe verschmäht. Jede könnte er haben, und diese hier … Er verstand es nicht. Wie hatten sie in der Gruppe immer gelacht, wenn die Mädchen vor ihnen aus Furcht geflüchtet waren. Und nun? Würde er das Vertrauen dieser einen nie gewinnen können? Würde sie immer vor ihm fliehen?
Er verwünschte die Leute seiner Gang und den Tag, an dem er sich mitreißen ließ, die Mädchen am Strand zu erschrecken. Was brachte das ein? Er verstand plötzlich nicht mehr, weshalb es ihm Spaß machen konnte, mit seinen Freunden alle um sich herum zu provozieren oder sich an der Ohnmacht eines Menschen zu ergötzen. Waren sie dann wirklich stark gewesen und hatten sich Respekt verschafft, wie sie sich gegenseitig versicherten? War es nicht eher so, dass sie Angst mit Respekt verwechselten? Er verstand das nicht mehr.
Toni wischte sich die letzte Träne aus den Augen, stand auf und schob sein Rad den Fußweg durch den Park entlang, vorbei an Leuten, die er sonst dicht vorbeiradelnd nur zu gern erschreckt und geärgert hätte.
Und das Mädchen? Er hatte noch immer ihre Schuhe. Vielleicht, wenn er es sanft und vorsichtig anging …

Letzte Aktualisierung: 27.10.2010 - 19.56 Uhr
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