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Verwandlung | Oktober 2010

Versuch(ung)
von Helga Rougui

Einige Jahrhunderte war es her, daß Orla von Orbit nichts mehr von Hero gehört hatte.
Nach der verpeilten Besiedlung des KEGP (zur Erinnerung: Kacke-Eisbahn-Glibber-Planeten), auch inoffiziell ERDE (zur Erläuterung: EkligRunzligDummeErbse) genannt, hatte sich Herr von Leander einen längeren Urlaub ausbedungen. Als Begründung hatte er etwas von lebensnotwendiger Auszeit und exklusiver Lilienzucht gefaselt, und er sei zu schade für diesen widerlichen Job, man verstünde ihn pausenlos nicht oder auch gerne nur falsch, und überall würde er besitzergreifende, schmachtende, wässrig-azurblaue, magerbewimperte Schildkrötenaugen halluzinieren, wo er ginge und stünde, und überhaupt, bevor er verrückt würde … er sei so allein, so sehr allein, daß es gar nicht zu beschreiben sei. Die gemurmelten abwiegelnden, tröstenden und beruhigend gemeinten Einwürfe von Orla überhörte er, weil er sie nicht hören wollte, und schließlich hatte sie nicht mehr die Kraft gehabt, weiter auf seinem rein automatisch funktionierenden Bleiben zu bestehen.

Nun waren die Sabbatsaecula vorbei. Orla zog an den drei Lieblingsfalten ihres faltigen Halses, leckte einmal mit ihrer zwei Meter langen lodengrünen Zunge über ihren glattpolierten Panzer – der demnächst durchaus eine Neulackierung in den akuten Modefarben Zipfelzitrooon und Weicheiweiß vertragen könnte, wie sie bei einem Blick in den ihr gegenüber angebrachten großen Ganzkörperwandspiegel kritisch feststellte (Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser) – und lächelte versonnen. Bald würde ihr Hero von Leander, der strenggenommen gar nicht "ihr" Hero war, wieder auftauchen, und sie wäre noch immer da, und diesmal, so hatte sie beschlossen, würde er ihr nicht entkommen. Galaxien mochten verglühen, Milchstraßen austrocknen, Schwarze Löcher zu Staub zerfallen – auf gewisse Reaktionen des ehemaligen Sternenführers konnte man sich blind verlassen wie auf das garantierte Pipimachenmüssen gegen fünf Uhr morgens nach dem Konsum zweier Flaschen Blubberwasser egal welcher Beschaffenheit.
Entschlossen schaute sie auf das lilaglitzernde Fläschchen, das sich neben der Magnumflasche mit Ewigkeitssaft auf ihrem Schreibtisch befand.
Lila war seine absolute Lieblingssuchtfarbe, und jegliches Glitzern verdrehte ihm den Verstand, das war mal klar! Die Farbe des absoluten Helden! Hero der Göttliche, der keinen anderen neben sich duldete, konnte beispielsweise durch den Anblick eines Waschlappens mit einem gestickten lila Borkenkäfer drauf oder durch ein Laserschwert mit kalter lilablitzender Lichtklinge in eine arg glückliche Verwirrung gestürzt werden!
Die Anziehungskraft dieser Flasche auf ihn war garantiert.

Und dann erst der Inhalt! Eine ihrer ältesten Freundinnen, Morgane vom DotComSe, hatte ihr versichert, er sei hochwirksam. Jeder, wenn er selbigen konsumiert hätte, wäre in der Lage, durch einen einfachen Blick auf das ihm im darauffolgenden Moment unter die Augen tretende Lebewesen dieses in seiner innersten Natur zu erkennen. Verständnis und Zuneigung könnten sich frei entwickeln, unbehindert durch triviale und entbehrliche Äußerlichkeiten aller Art.
So ihr hochgeschätzter Sternenkapitän denn bei ihrer nächsten Zusammenkunft einen Schluck aus diesem verführerischen Behältnis nähme, veranderte sich alles, alles in eitel Freude und zweisames Entzücken.
So war der Plan.
…

Hero von Leander wälzte sich ächzend aus seinem RuZ-Taxi. Eine tolle Erfindung, diese Miniraumfähren, die Raum und Zeit innerhalb weniger Augenblicke unter Bereinigung aller Zeitsprung- und sonstiger anderer abgedrehter emotionaler Anomalien überwinden konnten. Wie sehr wünschte er sich, daß Orla von Orbit irgendwann mit einem solchen Gefährt führe, damit sie ihre schrägempfundenen Besonderheiten in Bezug auf ihn endlich auf die Reihe kriegte... Er packte seinen silbernen Trolley mit der Aufschrift „Latest Little Hero and Nicest Guy of All of the Worlds“, zog sein grünlila schillerndes samtenes Wämslein über seinem strammen Bäuchlein grade und versuchte sein Rückgrat durchzudrücken, was mangels desselben leider mißlang – stimmt ja – quelle misère - er hatte es an einen Freund verliehen, der seine Scheidung durchzukämpfen hatte.
Und was für eine Gegend war das hier! Das sah Orla in ihrer konsequent ignoranten Unberechenbarkeit allerdings ähnlich, ihr Hauptquartier mitten auf dem Planeten aufzuschlagen, dessen Existenz, Entdeckung und Inbesitznahme sie bis auf den heutigen Tag geleugnet hatte und leugnen würde bis an ihr niemals eintretendes Ableben – darin ihrem berühmten Vorfahren Chrissy C. durchaus ähnlich, der sich aus seinem Guanahani-ist-wohl!-China-Wahn zeitlebens ebenfalls niemals hatte befreien können. Und dann lag das Quartier noch in derart ambivalenter Umgebung - eine Werkstatt für Grabmäler befand sich direkt an der Ecke einer unfreundlichen Allee, die durch eine Dauerbaustelle blockiert war, die Straßen waren holperig und die Villen freistehend wie in Berlin-Pankow, die Winkelgasse lag drei Straßen weiter, und dahinter fing sofort der Fangornwald an, der sich für die Einheimischen als Bürgerpark tarnte und für einen fußkranken behäbig gewordenen WelTenRaumtänzer eine Lebensaufgabe hinsichtlich Körperertüchtigung darstellte, wenn er denn so dumm sein sollte, sie sich als solche zu erwählen...
Oh nein, diese Zeiten waren vorbei. Hero fluchte laut, als er auf dem matschigen bunten Herbstlaub beinahe ausgerutscht und fast auf seinem gut gepolsterten Allerwertesten gelandet wäre – vielleicht hätte er doch nicht die Zeitreise „Zweiunddreißig mittelalterliche Bankette in vierzehn Tagen“ buchen sollen – seinen natürlichen Hang zur Völlerei zu verstärken, war vielleicht nicht die besteste Reiseeingebung seines Lebens gewesen, war ihm doch manchmal recht träge und wenig luzide zumute in letzter Zeit.

Aber er mußte sich jetzt zusammenreißen, denn die wichtigste aller Fragen war – was wollte Orla wirklich von ihm? Sicherlich erst einmal, daß er sich über ihr gutes Aussehen exaltierte – dabei wußten doch sämtliche intergalaktischen Stalagmiten und Stalaktiten, Röhrenwürmer und NurLinksMilchstraßenFahrer, daß sie praktisch morgens, mittags und abends und auch noch zwischendurch in Ewigkeitssaft badete, ihn literweise konsumierte und ihn sich pausenlos ins Gesicht, ans Gesäß und aufs Butterbrot schmierte – wenn sie ihr fleißig konserviertes Aussehen für eine fulminante Überraschung hielt, dann mußte er sie leider enttäuschen – auch er guckte InterGalakTiVi, und keine Sendung verging ohne eine Folge „Orla kämpft gegen den Faltenwurf der Zeit“. Sie selbst schien nicht mitbekommen zu haben, daß sie täglich über alle Elektrolesewände flimmerte und daß längst heimlich winzige voyeuristische Augen ihr Büro wie kleine Wanzen durchbohrt hatten. Oder war es ihr etwa egal?
Wer wußte schon, was Orla dachte, fühlte, weinte...
Hero würde sich als außergewöhnlich guter Schauspieler geben müssen, Verblüffung der extremsten Art mimend.

Am liebsten wäre er sofort in seinen Bischofspalast in Civitavecchia zurückgekehrt
- die Bürger des Städtchens waren so überaus liebenswürdig gewesen, ihn als amtierenden Bischof zu bestätigen Jahr um Jahr und Jahrhundert um Jahrhundert – ob sie das durften, war ihm bis heute immer nie so ganz klargeworden – aber wer viel fragt, bekommt viel Antwort, hatte seine Großmutter immer gesagt, und manchmal war es echt besser, das Maul zu halten und sich einen anzusaufen als nachzufragen und eins auf selbiges zu kriegen. Er sehnte sich danach, einige willige Flaschen Vin mousseux rosé extra brut de Provence „Nu de Mlle Rose“ zu verschlingen und diverse weichgerundete knusprige wohlduftende Sahneschnitten zu köpfen - oder auch gerne andersherum – aber nein, die Alte zitierte ihn her, obwohl es sonnenklar war, daß er seinen Dienst nicht wieder antreten würde nach seinen wunderbaren Zeiten im Italienischen Mittelalter – sein Fernbleiben und all das und der ganze Rest waren schon beantragt und genehmigt und gestempelt und erledigt und abgeheftet bei der OIZ (Obersten Intergalaktischen Zentralkommandostelle) – nur die alte Frau Orla dachte immer noch, daß sie Macht über ihn hätte, die sie nicht besaß.
Ihm wirrte der Kopf.
…

Hero, der sich vor Orlas Schreibtisch in einen Sessel hatte fallen lassen – Frau von Orbit habe noch einen wichtigen Termin, sei aber gleich nach Beendigung ihrer Mittagspause… äh… ihres Meetings bei ihm - , starrte fasziniert auf das Fläschchen, das seine ehemalige Chefin (voraussschauend) quasi vor seiner Nase plaziert hatte. (Nur ihre eigene spontane, von Gefräßigkeit fehlgeleitete Abwesenheit hatte sie nicht einkalkuliert…)
Lila. Glitzernd. Lilaglitzernd. Geilglitzernd. Oberlilageil. Oberlilageilglitzernd. Er war immer ein kreativer Geist gewesen, der auf grelle Farbenreize stand. Diese Flasche war einfach – hypnotisierend lilaglitzernd überirdisch schön.
Hero versuchte noch mal auf die Reihe zu kriegen, worum es bei diesem Fläschchen ging.
Sein Inhalt sollte also laut doch offensichtlich auffällig vor seiner Nase ausgelegtem Beipackzettel eine spektakuläre und einschneidende Wirkung haben? Welche Wirkung? Wo war der Trick?

Er mußte es tun, Trick hin oder her, er konnte nicht widerstehen und ergriff das Fläschchen, setzte es an seine kräftige Kehle und trank es gierig aus. Während er sich noch die Lippen leckte, hörte er hinter sich an der Tür, neben der Orlas Ganzkörperwandspiegel hing, ein Geräusch.
Er drehte sich um… und sah…
…

Orla steuerte zufrieden rülpsend ihr Büro an. Sie mußte sich beeilen, Hero würde bald eintreffen – vielleicht wäre er sogar schon da und sie käme gerade im rechten Moment…
Sie öffnete die Tür.
Sah das leergetrunkene Fläschchen auf dem Boden, den umgekippten Stuhl, die angeknabberten Blattpflanzen (ach nee, das war sie ja vorhin selber gewesen), den zerbrochenen Wandspiegel, Rasierschaum auf der Erde (?), den abgeschnittenen Telefonhörer….
Was um aller Äonen willen war geschehen?
Und wo war Hero?

Sie hatte da so eine Vermutung.
Und sie würde warten.
Auf ein paar Jahrhunderte mehr oder weniger kam es nicht an.

Letzte Aktualisierung: 22.10.2010 - 19.49 Uhr
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