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Verwandlung | Oktober 2010

E = mc²
von Karl-Otto Kaminski

„Wer stets Gutes getan hat, kommt in den Himmel. Dem geht es anschließend gut bis in alle Ewigkeit“, hat der Pfarrer vorhin an meinem Bett gesagt. Das sollte ein Trost sein.
Daran glaubt man gern, wenn man es geschafft hat, immer Gutes zu tun, oder sich das zumindest einbildet. Ich bin da, was mich betrifft, nicht so sicher. Außerdem plagen mich auch noch einige andere Zweifel:
Können nur die wirklich Guten den Zustand der ewigen Glückseligkeit erlangen?
Wie wird man ein wirklich Guter?
Gibt’s den überhaupt?
Was geschieht mit den vielen, vielen Mittelmäßigen, den nicht immer ganz Guten, aber auch nicht stets richtig Schlechten?
Was wird mit den Bösen?
Gibt es neben dem glücklich andauernden Elysium wirklich diese apokalyptischen Höllenszenarien, die uns die Geistlichkeit seit Jahrtausenden als Strafe für ungutes Handeln androht?
Ist ewige Glückseligkeit überhaupt auszuhalten?

All das bewegte mich, als der Mann Gottes neben mir auf der Bettkante saß und für mich betete. Leider hatte er anschließend keine Zeit mehr zu einem klärenden Gespräch. Er müsse ganz dringend weiter, sagte er bedauernd, in die Entbindungsabteilung. Es ginge einer Erstgebärenden richtig schlecht.
Das verstand ich sehr gut. Dort ging es um ein neues Leben. Hier verlöschte gerade eines.

Ich weiß nicht, woher und warum dann dieser fremde Mann in mein Sterbezimmer kam. Plötzlich war er da, setzte sich auf den Plastikstuhl neben mein Lager und sah mich an.
„Na“, sagte er jovial. „Endlich auf dem finalen Trip?“
„Ja“, antwortete ich und versuchte mühsam, mich ein wenig aufzurichten. „Die Karte für die Reise habe ich wohl schon, aber die Strecke ist mir ein wenig unheimlich.“
„Da ist gar nichts Unheimliches dran“, behauptete er.
„Meinen Sie?“
„Ja. Sie vergehen ja nicht. Sie sind Energie, und Sie bleiben Energie.“
Ich schüttelte zweifelnd den Kopf, obwohl mir die Bewegung ziemlich weh tat.
„Aber ja“, beharrte der Mann. „Sie erinnern sich an die berühmte Formel E = mc²?“
„Kommt mir bekannt vor“, antwortete ich leise. Mein Puls machte gerade wieder einen Weltrekordversuch. Aber ich zwang mich, dem Besucher durch das laute Klopfen in meinen Ohren zuzuhören.
„Wie Sie wissen“, dozierte er, „unterscheidet die Wissenschaft mehrere Arten von Energie. Eine der bekanntesten ist die mechanische. Daneben existiert Wärmeenergie, Gravitation, Strahlungsenergie, chemische Energie, Bindungsenergie der Kernphysik und natürlich die Energie der Masse.“ Er machte eine rhetorische Pause. „Masse multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit ergibt Energie“, behauptete er. „Ist doch ganz einfach.“
Das war mir zu hoch. Ich habe noch nie begriffen, was die Formel bedeutet. Und jetzt, kurz vor meinem bevorstehenden Exitus, war mir das auch völlig egal.
Der Wissenschaftler – mein Besucher konnte ja nur ein Wissenschaftler sein – schien das bemerkt zu haben.
„Das ist überhaupt nicht egal“, sagte er mit Betonung. „Denn Energie geht nie und nirgendwo im Universum verloren. Sie wandelt sich allenfalls in andere Formen.“
„Und wie soll ich mir das konkret vorstellen?“, stöhnte ich, nun doch interessiert.
„Der Körper des Menschen“, antwortete der seltsame Mann, „besteht aus Masse. Also wird sein Leib auch nach dem Tode nie völlig verschwinden.“
Ich war zu schwach, um aufzubegehren. Das schien er zu fühlen. Er sagte beschwichtigend: „Nicht aufregen, bitte! Ich erkläre Ihnen die Zusammenhänge.“
Er zog fürsorglich meine Bettdecke ein wenig zurecht und fuhr fort: „Natürlich bleibt die Form nicht erhalten. Aber fast 70% des menschlichen Körpers bestehen aus Wasser. Und die bleiben auch Wasser. Die gehen ohnehin nicht verloren. Andere Moleküle und Atome werden nach dem Tod einfach zu neuen Gruppierungen zusammengefügt, oder sie wandeln sich, bei Verbrennung zum Beispiel, in Wärmenergie. Die scheint zwar flüchtig und vernachlässigbar, bleibt aber in der Summe aller Energien im All doch immer enthalten.“
Der Wissenschaftler machte eine kleine Pause, hielt mir das Wasserglas an die Lippen. Ich nippte dankbar.
„Nichts zu danken“, winkte er ab und redete weiter: „Und weil Energie nicht verloren geht und Sie aus Energie bestehen, sind Sie unsterblich, verstehen Sie?“
Ich schonte den Rest meiner Kräfte und schwieg, dachte aber: Und was habe ich davon? Körperlich doch gar nichts. Futsch ist futsch. Was für ein Wesen wird denn nach meinem leiblichen Tod existieren? Wie sieht es aus? Sieht es überhaupt aus? Entsteht da wirklich in einer, von mir jetzt nicht vorstellbaren Welt noch einmal das, was ich vor meinem Tode einmal war? Es werden sich ja wohl kaum Atome und Moleküle meines Körpers wieder irgendwo, irgendwie zusammenfinden, nur weil sie sich so aneinander gewöhnt haben.
„Das liegt daran“, antwortete der fremde Mann, der meine Gedanken offenbar lesen konnte, „dass Menschen sich kein körperloses Leben vorstellen können, sich für die Zeit nach ihrem Tode einen Astralleib wünschen, ähnlich dem, in dem sie gerade stecken. Ein Körper ist aber gar nicht nötig. Es gibt ja noch eine weitere Energie in ihnen.“
Ich versuchte meinem Gesicht einen fragenden Ausdruck zu geben.
„Nennen wir sie vereinfacht die Kraft der Gedanken“, antwortete er.
Und was soll das sein?
Wieder verstand mein Gesprächspartner meine unausgesprochene Frage und erklärte: „Sie wissen, dass Schlafforscher Veränderungen im Gehirn erkennen und aufzeichnen. Man misst Gehirnströme, ermittelt damit Schlaf- und Wachzustände und andere Befindlichkeitsmerkmale. Man kann aber doch nur etwas aufzeichnen, was Energie besitzt, nicht wahr? Das heißt, Gedanken sind messbare Energien, wenn auch minimale.“
So etwas hatte ich schon mal gelesen. Der Wissenschaftler gab mir noch einmal zu trinken und fuhr fort: „Alle Gedanken, Ideen, Erinnerungen und Emotionen werden energetisch abgestrahlt.“
Das Beruhigungsmittel, das die Schwester vor dem Besuch des Pfarrers in meinen Tropf gegeben hatte, begann langsam zu wirken. Dämmerig dachte ich, während der Mann am Bett rücksichtsvoll schwieg: Unser Gedanke ist also als Energiestrom unterwegs. Wir behalten ihn aber oft noch in uns, nachdem wir ihn gedacht haben. Schicken wir dann nur eine Kopie davon ins Unendliche, während das Original in unserem Kopfe bleibt? Was ist, wenn wir ihn längst vergessen haben? Reist er trotzdem weiter? Gedacht ist schließlich gedacht.
Ob Gedanken gut oder böse sind, spielt in dem Zusammenhang vermutlich keine Rolle. Energie kann töten oder heilen. Sie ist moralisch neutral. Gilt das auch für die Gedankenenergie?

Ich öffnete die Augen, und der Wissenschaftler nickte ernst.
„Sie sind dabei, das Wesentliche zu erfassen“, lobte er.
Wohin aber, dachte ich weiter, finden die Mikro-Energien unserer Gedanken, wenn unser Körper sie nicht mehr hält? Fliegen sie für ewig durch ein unvorstellbares Raum-Zeit-Gefüge als unbeachtetes, bedeutungsloses Energiegewirr? Oder gibt es dafür vielleicht irgendwo eine Art Auffangbecken?
„Ja“, lächelte mein Gesprächspartner.
Eine wunderschöne Vorstellung, ging es mir durch meinen betäubten Kopf. Alles Wissen in uns, all unsere Gefühle, Gedanken, Einsichten, Erinnerungen, werden in einer Art Seelenvase gesammelt, von den unguten Anteilen gereinigt, um das Wissen bereichert, das uns zeitlebens verborgen blieb, und alles wird zu einem Geistwesen zusammengeschweißt, das dann ewig in glückseliger Harmonie mit dem unendlichen Sein weiterlebt.
„Nicht ganz so, aber ähnlich“, kommentierte der Wissenschaftler meine Gedanken. „Warten Sie es einfach ab. Es ist übrigens Ihre freie Entscheidung, ob Sie das überhaupt wollen.“
Ich sah ihn fragend an.
„Wie bitte?“
„Es gibt eine Alternative zu dieser Zukunftsversion: das Nirwana. Das ist das Versinken in eine Art schwarzes Loch, in ein neutrales, gnädiges Nichts, das zwar auch einerseits mit Ihrem Tode alles Schwere, Unangenehme dieses unvollkommenen Erdenlebens von Ihnen nimmt, Sie andererseits aber auch aller gehabten positiven und beglückenden Erfahrungen, Gefühle und Gedanken für immer beraubt. Aber Sie haben ja die Wahl …“

Der seltsame Wissenschaftler verschwand in dem Augenblick spurlos aus meinem Zimmer, als Schwester Immaculata die Tür eine Handbreit öffnete, um zu sehen, ob der Patient auf 208 noch lebt.
Er lebt noch, denn er denkt lauter Fragezeichen:
Was ist erstrebenswerter, ein glücklich verklärtes, ewiges Weiterleben nach dem Tod oder ein erlösendes, alles auslöschendes, finales Aus?
Wieso, wann und wie kann ich mich entscheiden?
Was wird kommen?
Werde ich es erleben?
Wahrscheinlich nicht, denn dann bin ich ja doch tot. Oder? …

Letzte Aktualisierung: 22.10.2010 - 12.09 Uhr
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