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Verwandlung | Oktober 2010

Die Vestica
von Bernd Kleber

Der Fluch hat eine gute Weise;
wo er zum Maule aussfahret,
da kreucht er zur Nasen wieder hinein,
damit er nicht weit wandern dürffe.

Fluch. Deutsches Sprichwörter-Lexikon



Die ganze Fahrt hatte er über die arrogante Assistentin seines Kollegen gewettert, die ihm ohne mit der Wimper zu zucken einen Korb gegeben hatte. Das Lachen klang ihm immer noch schmerzhaft im Ohr.
Als er seine Wohnung aufschloss, war seine Putzhilfe mit Wischen des Flurs noch nicht fertig. Er sah auf den spiegelnden Boden des Eingangsbereiches, der glänzte wie in einer Fernsehwerbung, über die gleich ein kleiner Polyboy Schlittschuh laufen würde. Aber hier kam der Glanz nicht vom Wischwachs, sondern von dem Wasserfilm. Dieser führte zu einem Aquaplaning-Effekt, der Joachim beim ersten energischen Schritt lang hinsegeln ließ.
Irgendwie doch wie der Polyboy, aber wesentlich ungeschickter, denn der Fall auf sein Steißbein verursachte ein Schimpfkonzert.
„Du blöde Schlampe, du dämliche Jugo-Bitch, ich will dich hier nie wieder sehen, verpiss dich du Kuh, du bist gefeuert! Sanjaaa!“ schrie er unter Jammern durch den Flur.
Nach einigen Minuten der wüstesten Verbalattacken steckte eine bekopftuchte Frau ihr Haupt in den glänzenden Flur:
„Lele, Lele, kuku meni!“ ,
wimmerte es wehklagend ihrerseits, wobei sie, restlos aus der Küche getreten, die Arme weit über ihren Kopf hob und wedelte.
„Wer sind Sie denn?“, schnauzte Joachim, als er sich stöhnend das Hinterteil rieb.
Die jammernde Frau murmelte „Snezana Kohnsevic.“
Und erklärte im Fortlauf des krampfhaften Wortwechsels, sie sei die Vertretung ihrer Nichte, die leider eines ihrer kranken Kinder hüten müsste. Das Ganze dauerte zwanzig Minuten, da er kaum ihren Akzent verstehen konnte und der Meinung war, dass das, was sie sprach, so viel mit Deutsch zu tun hatte, wie eine Zitrone mit Zucker.
Er fluchte.
„Mit welchem Recht schickt Sanja eine Verwandte? Ich werde das nicht bezahlen und die Ausländerbehörde benachrichtigen. Gehen Sie mir aus dem Dunstkreis, Sie hässliche Hexe und verlassen Sie mein Heim!“
Die Frau, die bei näherem Hinsehen die stechend blauen Augen ihrer Nichte hatte, wollte ihm beim Aufstehen behilflich sein.
Er attackierte sie weiterhin verbal. Sie schlug bei seinen Flüchen immer wieder hastig Kreuze vor der Brust. Als sie ganz dicht vor ihm stand, gewahrte Joachim eine riesige schwarze Warze auf ihrer Nasenspitze. Er hob beide Arme vor seinen Kopf und schrie: „Komm mir nicht zu nahe! Geh weg Du Hexe.“
Er stützte sich auf und hinkte in die Küche, wobei er weiter die Frau anschrie.
„Sehen Sie jetzt zu , dass sie Land gewinnen, raus aus meinem Haus, ich will sie hier nie wieder sehen und Sanja kann auch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ich hole mir ne Polin, Ihr Jugos seid doch alle nicht sauber!“
Dabei hatte er zu dem am Kühlschrank lehnenden Besen gegriffen und der Alten gedroht.
Diese sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an, sprang auf ihn zu. Ehe er reagieren konnte, hing sie auf seinem Rücken in Huckepackstellung. Er drehte sich wie ein Stier hin und her und wollte die Alte abschütteln. Er rammte sie rücklings gegen die Schränke, kippte vorn über und prallte mit ihrem Kopf gegen die Wand. Es gelang nicht, sie loszuwerden. Er keuchte und schwitzte, konnte die absurde Situation nicht begreifen.
Plötzlich wisperte die Frau ihm direkt ins Ohr.
„Haslesita cum rados, via cito um herbae. Likura zutuma harlema bitum senses. Karolu schepa zerassumm wiedus kleramatellis.“ Dabei riss sie ihm drei Haare aus.
Dann sprang sie ab und verlies ruhigen Schrittes die Wohnung. Kurz vor der Wohnungstür hob sie den linken Arm und rief noch etwas Unverständliches.
Joachim hockte am Küchenblock und keuchte. Schweiß rann ihm in die Augen, dass sie wie Feuer brannten. Er hustete heftig. Als er damit fertig war, stützte er sich auf und erhob sich.
An der Bar im Salon goss er sich einen Whisky ein, in der Rückwand des Büfetts sah er vielfach sein Gesicht in den kleinen Spiegelfliesen und erschrak über seine Augenränder.
Joachim schleppte sich ins Schlafzimmer, setzte sich aufs Bett, trank seinen Drink in einem Zug aus und kippte nach hinten.

Nach einigen Stunden kam er zu sich. Der Wecker spielte ein Radioprogramm. Wie lange der schon dudelte, konnte er nicht erkennen. Seine Sicht der Dinge war verschwommen. Gesicht und Brust juckten, als wäre er in einen Mückenschwarm geraten. Wenn er sich mit der Hand am Kinn rieb, fühlte es sich an, als würde er mit einem Radiergummi Hautschüppchen von der Fläche reiben. Er spürte Krümel an den Fingerkuppen.
Seine Brustwarzen brannten wie mit Peperoni bestrichen. Das Oberhemd scheuerte, sodass er den Stoff mühselig auf Abstand hielt, die Warzen zu berühren.
Irgendetwas stimmte nicht, er hatte Fieber.
Joachim schaltete die Nachttischlampe ein und sah sich von kleinen schwarzen Bröseln umgeben, wie Läuse, die das Bett bevölkerten, aber sie bewegten sich nicht. Er setzte sich und sah genauer hin. Es erinnerte an Krümel aus dem Trockenrasierer. Den Mund angewidert verzogen, sprang er auf.
„Ich muss pissen“, meinte er und wankte ins Bad.
Im Flur erschrak er beim Anblick des Regulators. Es mussten mindestens 14 Stunden vergangen sein.
Es dämmerte. Aus dem Arbeitszimmer hörte er den Anrufbeantworter piepen, der signalisierte, dass Nachrichten hinterlassen wurden.
Joachim öffnete den Klodeckel und stellte sich breitbeinig vor das Becken. Er zog den Zipper der Hose hinunter und begann zu kramen. Er wühlte in den Tiefen des engsitzenden Elastanslips, während der linke Daumen den breiten Gummibund nach unten drückte. Ihm wurde heiß. Dann konnte er das Urinieren nicht mehr aufhalten und spürte, wie sich alles in seiner Hose ergoss.
„Scheiße, Scheiße, verdammte Scheiße!“
Er ließ laufen.
Schob aber die Hose ganz nach unten. Beim Aufstützen auf dem Waschbeckenrand sah er in den Spiegel und schrie: „Was das? Fuck, verdammt nochmal. Hilfe!“
Er hatte ein runzeliges Gesicht gesehen, das ihm bekannt vorkam. Die runtergelassene Hose sorgte dafür, dass er lang hinschlug, als er schnellen Schrittes zum Lichtschalter wollte.
Mit dem Kinn war er so auf den kalten Fliesen aufgeschlagen, dass er nun Blut spuckte. Er konnte jedoch nicht lokalisieren, wo er drauf gebissen hatte oder welcher Zahn geopfert worden war. Er erhob sich wimmernd. Betätigte den Schalter für das Licht.

Mit blutendem Mund sah er das Spiegelbild, sah die Falten im Gesicht, sah die blauen stechenden Augen, sah die grauen langen Haare, sah die dicke schwarze Warze auf der Nasenspitze, bevor ihn die Sinne verließen.

Als Joachim erneut zu sich gekommen war, griff er sofort zum Telefonhörer und alarmierte die Polizei.
Ein Polizist saß ihm nun gegenüber und schrieb nach jedem seiner Sätze etwas in sein Notizbuch und nickte. Dann flüsterte er seinem Partner etwas zu.
Sie erhoben sich beide, gingen auf Joachim zu und schnappten sich dessen Arme, die sie geschickt auf seinen Rücken drehten. Joachim hörte die Handschellen zusammenklicken.
„Pass mal auf, du Hexe, wenn du uns einreden willst, du seist ein Geschäftsmann, der hier wohnt, hättest du dir etwas Besseres einfallen lassen müssen. Wir nehmen dich jetzt mit auf die Wache. Da bekommst du einen Pflichtverteidiger gestellt.“
Die Beamten führten die alte Frau ab und schoben sie in den Streifenwagen.

Letzte Aktualisierung: 25.10.2010 - 17.56 Uhr
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