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Verwandlung | Oktober 2010

Irenes Männer
von Hajo Nitschke

”Irene good night, Irene good night.
Good night Irene, good night Irene,
I’ll see you in my dream…”

Es sind drei männliche Wesen, die sich an Irenes Bett versammelt haben. Aber nur aus zwei Kehlen verklingt das Schlaflied. Die eine gehört Reiner Bertuleit, Irenes Ehegespons, die andere dem Schriftsteller Justin Kaufmann. Dritter im Bunde ist eigentlich kein Mann, sondern Heiko. Er kann auch nicht wirklich singen. Heiko ist – wie Reiner und Justin – Irenes Eigentum: Ein Graupapagei mit freiem Zutritt in der ganzen Wohnung. Manchmal nutzt er das etwas aus.

Für Reiner sind es zart-elegische Glücksmomente, denn es ist seine Woche. Was bedeutet, dass Justin jetzt, Heiko im Schlepptau, das Paradies verlässt. Reiner ist wie immer ergriffen von Irenes Anblick. Ihr feines schwarzes Haar hat sie aufgebunden, das jadegrüne Leinennachthemd liegt wie sanftes Ölbad auf ihrer hellen, göttlichen Haut. Die Brüste erscheinen im matten Glanz des Nachtlichtes voller und fester denn je und wölben sie sich wie in Ton modelliert hervor. Aus dunkelbraunen Augen winkt es ihn heran. Er lässt sich nicht nötigen und taucht selig ein in die Welt zwischen Irenes Armen und Beinen, wo er zunächst die aufziehenden dunklen Wolken vergessen kann.

Obwohl bereits leise schnarchend, hat Irene später ihren besitzergreifenden Arm nicht von Reiners Brust genommen, der nicht schlafen kann. Vorsichtig befreit er sich von ihm. Manchmal fragt er sich, wieso es ihnen nicht gelingt, sich genauso leicht von der Liebe zu Irene zu befreien.

Mit jemand anderem spielt der Schlaf ebenfalls Verstecken: Auch für Justin wollen sich die Gedankenschleifen nicht zu einer glatten Fadenspur in Orpheus Arme aufrollen.
Er setzt sich an sein Romanmanuskript, doch ohne die räumliche Anwesenheit seiner Muse plagt ihn eine Schreibblockade. Wie er ihre Nähe vermisst – Irene Meurer-Bertuleit, seine große Liebe!

„Rrreee---dant!“, krächzt es im Wohnzimmer: Heiko, wie ihm der Schnabel gewachsen ist … Justin geht hinüber, bedenkt Heiko mit einem leisen „Pst“ und zieht die Decke über den Käfig tiefer.
„Rrreee---dant“, wiederholt der graue Stangenhocker, schon etwas leiser.
„Ja, Heiko: Re-dun-dant!“ Der Graupapgei schweigt betroffen. Er hat einigen Sprachschatz von seinem Frauchen erworben, das sich hin und wieder Verlagsarbeit mit nach Hause brachte. Leise zieht sich Justin in sein Zimmer zurück, wo ihn Reiner erwartet. Reiner, der sanftmütige Freund.

„Wir müssen reden, Justin“
„Ich weiß. Du meinst Irene.“
„Manchmal erinnert sie mich an Gregor.“
„Wer ist das?“
„Kafka – Die Verwandlung!“
„Reiner!“
„Nicht äußerlich. Es ist was anderes! Und das schon seit Wochen.“

„Jjjaaa-Hei-kooo-rrreee---dant!“, plappert sich der Graue nebenan in den Papageienschlaf.
Sie hängen ihren Gedanken nach. Wie überrascht der verliebte Justin vor fünf Jahren doch war zu erfahren, Irene und Reiner seien ein Paar! Justin war früher Irenes Favorit, hatte sich jedoch wegen einer Erkrankung lange in die Rolle des selbst ernannten Einsiedlers geflüchtet, der niemanden an sich heranlässt. Schnell gab Irene ihn als Subjekt tiefen Begehrens auf und tröstete sich mit Reiner, ihrem Arbeitskollegen und Verehrer. Der Bund fürs Leben folgte zügig. Justin schien vergessen.

Aber der alte Funke hatte unbemerkt weitergeglommen und loderte zu einer Flamme auf, als Justin sich zurückmeldete. Irene hing an Reiner und brachte es nicht fertig, diesen zu verstoßen. Resultat war eine ménage à trois. Es war Irene zuwider, sich im Sinne eines wirklich profanen Dreiers gleichzeitig von zwei Liebhabern verwöhnen zu lassen. Daher führte sie einen Wochenrhythmus mit sauberer Trennung ein. In diesem Wechsel teilte sie mal mit dem einen, mal mit dem anderen das Lager und die sexuellen Bedürfnisse. So arrangierte man sich aufs Beste und empfand sich als kleine Familie, voller Harmonie und entspannter Friedfertigkeit. Irene ging weiter ihrem Job als Lektorin nach, bestand aber darauf, dass ihre beiden Männer Haus und Vogel hüteten.

„Weißt du noch, Reiner? Wir als Hausmänner…“
„Du vor allem! Was nutzen Einkaufszettel, wenn du nicht lesen kannst? Bringst Karotten statt Schalotten und musst im Laden fragen, was Cannelloni sind …“
„Dafür hast du zwanghaft kontrolliert, ob ich gründlich Staub wische.“
„War dir zuzutrauen! Wer Bunt- und Kochwäsche zusammen wäscht, …Und wenn ich an deinen ersten Kuchen denke …“
„Dafür war dein Essen öfter angebrannt als meins…“
„… und deines versalzen!“
„Alles nichts dagegen, wie du dich in der Apotheke angestellt hast wegen Irenes Dreimonatspackung…’Haben Sie… ähem … also ich meine, diese …ähem, diese Ovu… Ovi… Ovulations… ähem…?’“
„Ist ja gut!“
„War das süüüß!“

Schweigen …

„Sag mal, Justin, könnte Irene …“
„Ja?“
„Meinst du, sie könnte … na ja, vielleicht ein Kind …?
„Was?! Spinnst du, Reiner?“
„Hör mal, welche Erfahrungen haben wir da schon?“
„Egal, brauchen wir nicht. Irene nimmt die Pille! Nee, die Veränderung hat andere Ursachen, sag ich dir!“
„Hoffentlich ist sie nicht krank.“

Schweigen …

„Und welche Arbeit wir mit Heiko hatten!“
„Rrreee---dant!“, ahmt Justin kehlig das krächzende Federvieh nach.
„Punnnkt-aaab-sazzz“, ergänzt Reiner quakend und lacht gedämpft. Heiko durfte früher zum Schlafen in Irenes Kemenate bleiben. Nur mit Mühe konnte er bewogen werden, sein Nachtlager zu wechseln, anstatt sich auf ihrer makellosen Schulter oder Frisur niederzulassen und mit schräg geneigtem Kopf das menschliche Liebesspiel zu kommentieren. Das perfekt nachempfundene und trotzdem einiges verwechselnde „Aaaaaaah-aaab-sazzz“ oder „Jaaaaaaa-aaab-sazzz“ entpuppte sich dabei ebenso als Lusttöter wie beifälliges Flügelschlagen und Federnverschleudern.

Auch andere neue Erfahrungen regten bald die Kreativität des Exoten an:

Justin reicht im Keller die Wäsche an, Reiner hängt sie auf die Leine: Heiko flattert auf selbige und zupft an den Klammern, bis Irenes Slips zu Boden fallen …
Reiner bezieht die Betten, Justin bringt das alte Bettzeug zur Waschmaschine, wo sich Heiko wie ein Türhüter auf der runden Öffnungsmanschette niederlässt. Erst zu zweit können sie ihm die Erlaubnis abringen, die Maschine zweckdienlich zu benutzen. …
Justin beim Staubsaugen, Reiner putzt die Fenster: Heiko wechselt von einem Kopf zum anderen und quittiert unvorsichtige Bewegungen mit lauter Schelte.

Beide in der Küche, Reiner schält Kartoffeln: Heiko verteilt die Schalen ins Dessert… Justin schneidet Tomaten: Heiko ordnet die Scheiben auf dem Hackbrett neu und behindert die weiteren Arbeit. …
Alle sitzen zu Tisch, feierlich sind Kerzen angezündet und Rotweingläser gefüllt: Heiko verschmutzt die blütenweiße Damastdecke und schmettert grauenvoll falsch und wie eine Saatkrähe mit Bronchialkatarrh „Eiiii-rrriiien-gutt-eieiei“. Das „night“ hat er noch nicht korrekt eingearbeitet.


Als größter Zwischenfall bleibt die Porzellan-Orgie in Erinnerung. Es ist nur gute zwei Monate her.

Diesmal reicht Reiner an, nämlich Geschirr, der Andere räumt ein: Heiko maßt sich Kontrollbefugnis an und begibt sich in den offenen Küchenschrank. Justin versucht, das Schlimmste zu verhüten – verhüten im wahrsten Sinne des Wortes, denn Heiko ist im Begriff, die Schale mit den Pillen einem Schwerkrafttest zu unterziehen. Justin greift fehl, stolpert und sucht blindlings Halt. Heiko missversteht es und veranstaltet einen fürchterlichen Wirbel. Es gelingt ihnen mit vereinten Kräften, gleich drei Regale leerzufegen. Das Meißener Porzellan nebst kostbaren Kristallgläsern und einem Becher frischen Schnittlauchs geht klirrend zu Bruch. Dazwischen Irenes Pillen, einige bereits von ihr auf Vorrat aus den Sichtpackungen entfernt und jetzt vom Lauchwasser aufgeweicht. Hoch oben auf dem Schrank thront Heiko und äugt mit schiefem Kopf auf das eines Polterabends würdige Schlachtfeld.

Einige Wochen später begann ein Veränderungsprozess mit Irene, der die Männer allmählich mit Sorge erfüllt. Sie können diese zwar vor Irene verbergen und das Unbehagen tut der Liebe zu ihr keinen Abbruch, aber insgeheim leiden sie.

Irene wird launisch. Mal heult sie bei jeder Kleinigkeit, mal prustet sie bei den traurigsten Videos los. Heiko hat sich bereits das neuerdings an ihn gerichtete „Halt’s Maul“ angeeignet und gibt es unverdrossen zurück – an die Falschen.
Abends entspannt sich Irene, ist aber am Tag müde und gereizt. Justins dezentes Aftershave stinkt ihr plötzlich erbärmlich, womit dieser sich den Umstand erklärt, dass ihr fortwährend übel ist. Ein sich übergebender Mensch ist kein erstklassiger Anblick, Irenes Männer umsorgen sie dennoch fürsorglich – ohne Dank zu ernten. Dafür ahmt Heiko schnarrend die Brechgeräusche nach – was auch ihm keinen Dank einbringt.

Irene kündigt fristlos im Verlag. Bleibt daheim und überwacht die Hausarbeit, mäkelt hier und kritisiert dort. Plötzlich verlangt sie, dass beide tagsüber aus dem Haus verschwinden, Geld verdienen. Beide gehen in ihren alten Verlagsbetrieb zurück, Reiner als Archivar und Justin, an Irenes Stelle, als Lektor. Beide sind Irene so hörig, dass sie nicht aufbegehren.

Irenes Verwandlung wird auffälliger. Sie hält bis mittags Schönheitsschlaf. Später wärmt sie die von den Männern vorbereitete Mahlzeit auf. Nach dem Essen – Fleischberge, obwohl sie damit zuvor eher geizte – verbringt sie die Zeit vor dem Fernseher, ohne mittlerweile auch nur noch den geringsten Handschlag zu tun. Wenn die beiden von der Arbeit kommen, erwartet sie ein Bombardement an Vorwürfen und Anordnungen. Sie fügen sich klaglos, bringen unermüdlich Nachschub an Süßigkeiten, Rollmops und Gurken und stellen keine Fragen.


Wer liebt, ist verwundbar. Was ihm auch angetan wird – so schnell trennt es ihn nicht von seinen Gefühlen. Sie beide sind individuelle Geister, wurden jedoch mit dem Süßstoff ihrer Leidenschaft für diesen einen Menschen zu einer hilflosen Einheit aus Ratlosigkeit, Schmerz und Verlangen zusammengerührt. Irene ist zur Despotin, zur Herrscherin de luxe geworden, und ihre Männer halten, nach außen lächelnd, wunden Herzens stand, was immer auch passiert.

„Rrreee---dant!“

Letzte Aktualisierung: 19.10.2010 - 14.45 Uhr
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