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Verwandlung | Oktober 2010

Einsame Verwandlung
von Johanna Sibera

Der Beginn: Spontane Lust, ohne quälende Vorgeschichte, allerdings auch ohne Zukunft. Nur ungern hatte Antonia die Praxis dieses Arztes betreten, nach dem Aufruf durch den Lautsprecher im Wartezimmer. Noch war seine Stimme eine bedeutungslose, nichtssagende, so nichtssagend wie sein Name, heraus gesucht aus dem Ärzteverzeichnis im Telefonbuch. Sie hatte am Morgen angerufen, stockheiser, nur mit größter Mühe konnte sie sich verständlich machen, was ihr als offenbarem Notfall augenblicklich zu einem Termin verholfen hatte. Sie fühlte sich auch so, die Stimme war schlimm, aber noch schlimmer war, dass ihr seit Tagen Schmecken und Riechen abhanden gekommen waren. Das mochte wohl manchmal passieren, bei Erkältungen, fiebrigem Schnupfen, fast immer ein reversibler Vorgang, aber bei ihrer Mutter waren damals Geruchs- und Geschmackssinn nicht mehr wieder gekommen, hatten sich heimtückisch für immer davon gemacht und die arme Frau in den letzten fünfzehn Jahren ihres Lebens jeglicher olfaktorischen Sinnenfreude beraubt.

Der Arzt war hochgewachsen und von eher derber Statur, mit großzügig gebautem Kopf, breiter, hoher Stirn und zurückweichendem dunkelblondem Haar. Sie sah ihn und begann, sich wohl zu fühlen. Plötzlich war sie sehr gerne in diesem Raum, einem von diesen penibel sauberen Ordinationszimmern, wie sie Antonia, von eher robuster Gesundheit, im Laufe ihres Lebens zum Glück selten gesehen hatte. Jetzt war es anders. Mit ihrer mühsamen Stimme musste sie dem Arzt ihre Beschwerden schildern, die mit einem Mal eine gewisse frohe Wichtigkeit bekamen. Ihr gegenüber sitzend kam er ihr seltsam nahe, näher eigentlich, als es notwendig gewesen wäre; und so begann er sachte, die Öffnungen ihres Kopfes zu untersuchen. Er hob eine Haarsträhne, rechts und dann links, hielt kurz inne in der Betrachtung eines schlanken silbernes Hakens, den er zuvor sanft in ihre Ohren geschoben hatte, rechts und dann links, zeigte langes grüblerisches Interesse an den leicht vergrößerten Tonsillen und am Übergang der zarten Ausformung ihrer Nasenflügel in bislang unerforschte rhinogene Höhlen.

Geraume Zeit hielt er sich mit ihr auf, das war ganz offensichtlich. Er schrieb allerhand auf ein Rezept, dann nahm er Blut aus ihrer Vene für einen Allergietest, berührte mit großer Vorsicht ihre Armbeuge, als wollte er den winzigen Stich heilen, diesen ohnehin unsichtbaren Eingriff wieder gut machen. Dann war Antonia entlassen, mit dem Versprechen, in etwa einer Woche einen Befund aus diesem Röhrchen Blut zu bekommen.
Mit nahezu ununterbrochenem Denken an diese seltsame Begegnung verbrachte Antonia die nächsten Tage, während ihre Stimme von Stunde zu Stunde kräftiger und klarer wurde, die Heiserkeit wich, und Geruchs- und Geschmackssinn nicht nur wieder zurück kehrten, sondern mit neuer, ungewohnter, fein differenzierender Deutlichkeit ihre Tätigkeit wieder aufnahmen. Einerseits war das gut, dachte Antonia, andererseits berechtigte dieser beschwerdefreie, förmlich gesunde Zustand nicht zu irgend einer Therapie bei ihrem neuen Arzt, ja kaum mehr zu einem weiteren Besuch; das Ergebnis des Allergietests wäre allenfalls auch telefonisch zu erfragen gewesen. Dennoch dachte sie keine Sekunde daran, nicht persönlich in der Ordination vorzusprechen, im Gegenteil – jeder ihrer Gedanken, jede Empfindung waren völlig verfangen in diesem Plan.

Bei ihrem zweiten Besuch forderte der Arzt Antonia auf, sich neben ihn zu setzen, an einen kleinen Tisch, auf dem ihre Befunde ausgebreitet lagen. Wiewohl er sie eigentlich nicht berührte, spürte sie im Schutze des Tisches seine unmissverständliche Nähe; sie hatte etwas Dringendes, geradezu Notwendiges. An diese wort-, erklärungs- und berührungsfreie Liebkosung – eine solche war es trotz allem – mochte Antonia fast nicht glauben. Nie hatte sich ihr ein Mann genähert, wenn es nicht zumindest vorher einen einzigen Blick des Einverständnisses gegeben, nie war einer an sie heran gekommen, wenn sie es nicht gewollt hatte. Sie war groß und von fast athletischem Wuchs, für gewisse elegante Dresscodes zu muskulös, keine Opferfigur, die man belästigt, keine Hilflose, derer man sich bemächtigt. Älter war sie auch geworden, vor allem in der letzten Zeit. Zum Erschrecken, fand sie, sah sie manchmal ihrer Mutter ähnlich, besonders dann, wenn sie etwas Grünes anhatte. Sie mied jetzt diese Farbe, dieses gewisse sumpfige Flaschengrün, das Antonia aus den Kästen der Mutter nach deren Tod förmlich entgegen gefallen war. Sie musste husten, wenn sie in diesem Grün suchte und weinte, die Kleidungsstücke waren gut gepflegt, dennoch war der Staub, der sich in der verlassenen Wohnung angesammelt hatte, in die Kästen gekrochen. Seit Jahren lebte auch Antonia allein und sie hatte diesen Zustand nie beklagt. Umso überraschender hatte sie der seltsame Zauber der Begegnung in dieser Arztpraxis getroffen und die für sie geradezu unglaubliche und kaum begreifbare Verwandlung, die ihr zugestoßen war und sich nun anschickte, die einsame Antonia zu den kuriosesten Verirrungen zu treiben.

Ein weißes Hemd zu Jeans hatte sie heute angezogen, sie hoffte auf den leichten Zauber zart gebräunten Frühsommerteints, wenn der Doktor wieder in ihre Ohren schauen würde. Das tat er auch; ließ seine großen Hände dann auf ihren Schultern lieben, ohne Motiv und Grund. Die beiden Sprechstundenhilfen gingen ein und aus, machten sich da und dort zu schaffen in dem sauberen Zimmer.

„Nun“, sagte er, die Hände waren noch da, „das sieht alles sehr gut aus, heute!“ Mit einer kleinen Kopfbewegung deutete er auf das Tischchen mit den Computerausdrucken.
„Aus Ihren Befunden sehe ich, dass Sie unter einer hohen Allergiebereitschaft leiden. Das bedeutet, dass Sie eigentlich gesund sind, aber in dem Moment, in dem ein passendes Allergen beginnt, sein Unwesen mit Ihnen zu treiben, könnten Sie arge Beschwerden bekommen – Nase, Augen, Bronchien, alles ist möglich. Meiden Sie Ragweedgewächse und Perserkatzen!“ Er sah sie an und lächelte, geradezu bestürzend empfand Antonia dieses Lächeln. Sodann nahm er abrupt die Hände von ihren Schultern.

„Wir werden dann sicher eine Therapie finden, die zumindest Erleichterung bringt“, sagte er, „im Augenblick ist nichts weiter zu tun“. Antonia fand es ganz und gar unmöglich, jetzt wegzugehen, aber sie ging, musste ja gehen.

Sie fuhr heim, stellte sich vor den Spiegel und betrachtete lange Zeit ihre breiten Schultern, die, der ärztlichen Berührung entzogen, zu öden unbewohnten Flecken verkommen waren. In den nächsten Tagen besorgte sie sich sehr viel an einschlägiger Literatur. Sie las:

„Mit den Ragweed-Pollen dominiert am Ende der Pollensaison ein besonders aggressives Allergen, das schwere Rhinitis-Symptome und sehr oft auch Asthma auslösen kann. Für Ragweed-Allergiker ist bereits seit längerem ein spezieller Impfstoff verfügbar, der eine erfolgreiche Therapie ermöglicht und das Asthmarisiko wesentlich senkt.
In den letzten Jahren hat sich das Traubenkraut vom Osten kommend auch in Österreich rasant ausgebreitet. Jahr für Jahr steigt die Ragweed-Allergenbelastung signifikant an, heute liegt der Anteil der von Ragweed betroffenen Allergiker bereits bei mehr als fünfunddreißig Prozent“.

Von ihrer Großmutter hatte Antonia das Haus geerbt, das sie seit Jahren bewohnte, dort, wo die Felder des Umlandes sich nach Osten den pannonischen Winden zuwandten und die Sommer noch ein bisschen heißer waren als im übrigen Teil der Stadt.

Schließlich war es Antonia gelungen, ein Ragweedfeld anzulegen, eine gedeihende, kräftig wachsende, vom Winde sanft bewegte Kolonie der sogenannten aufrechten Ambrosie, eine lebendige Korbblütlerherde anmutig in die Höhe strebenden Traubenkrauts, mit weich behaarten Stängeln und fiederteiligen Blättern. Kleinfingerlange, gelbe Kerzen waren die – angeblich – unscheinbaren Blütenstände, aber sie waren in Wahrheit alles andere als unscheinbar, ihr zartes Gelb unterstrich die zurückhaltend grazile Form.

So oft es ging hielt sie sich bei ihrem Feld auf, jeden Tag, soweit es ihre Arbeit erlaubte, am Morgen sowieso, und wenn es sich ergab auch zur Zeit des höchsten Sonnenstandes. An den Wochenenden verbrachte sie Stunden dort, tief und bewusst atmend. Einige der benachbarten Bewohner betrachteten Antonias Ragweed-Geviert mit tiefem Misstrauen – schier unglaublich, wie sich die Umgebung durch die seltsame Plantage verwandelt hatte. Solange die Pflanzen klein gewesen waren, war die eigenartige Bestimmung dieses Grundstückes nicht so sehr aufgefallen, aber der regnerische August hatte das Seine dazu getan und dem Boden die notwendige Nässe geschenkt: die Pflanzen hatten eine stattliche Höhe erreicht, das ließ Antonia hoffen, denn in der botanischen Literatur wurde von meterhohen und noch größeren Exemplaren berichtet.

Antonia beobachtete sich selbst sehr genau, ob endlich allergische Symptome im Anzug waren. Aber ihre Stimme blieb klar wie eine Glocke, ihr Atem unbehelligt von Not und Beschwerden.

Unter den Katzen der Umgebung hatte es sich herum gesprochen, dass Antonia auf der Suche nach einem Allergieauslöser war. Sie kamen in den Garten, nahmen huldvoll oder dankbar die ständig frisch gefüllten Futternäpfe entgegen, manche ließen sich auch darauf ein, ins Haus zu kommen, wo Antonia sie auf sämtliche Sitz- und Schlafplätze locken wollte; hochmütig zogen sie es vor, am Boden zu liegen. Perserkatzen waren nicht dabei.

Letzte Aktualisierung: 14.10.2010 - 16.56 Uhr
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