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Verwandlung | Oktober 2010

Unbelebt – lebendig – tot
von Angela Schlenker

Grau wälzte der breite Strom seine trüben Fluten gen Meer, die Steine seiner Uferbefestigung brachten es sogar auf einen noch dunkleren Grauton. Zwischen ihnen reckten nur wenige Schilfstängel ihre verdorrten Blätter in den düsteren Herbsthimmel. Nicht einmal der verstreute Plastikunrat vermochte dem Bild Farbe zu verleihen. Die einzigen Farbtupfer stammten von den gelben Öljacken zweier Jungen, die so vermessen waren, hier in dieser jedem Leben abholden Öde Angeln auszuwerfen.
Noch desolater allerdings kam das jenseitige Ufer daher. Erstrahlte es vor menschlichen Eingriffen im satten Grün oder in feurigen Herbstfarben, so erhoben sich dort nun verbogene Stahlträger aus verkohlten Trümmern ehemals großer Gebäude wie mahnende Finger in die Luft. Am Ufer standen die schwarzen Stümpfe riesiger Weiden, deren verbrannte Äste längst Wind und Sturm mit sich fort genommen hatten.
„Sieh mal, Tom, eine Flaschenpost!“, hallte plötzlich die Stimme eines der Jungen freudig erregt durch die Tristesse.
Tom ließ seine Angel im Stich und kam schnurstracks angesprungen. Endlich geschah doch einmal etwas! Groß und plakativ war auf der ehemaligen Bierflasche ein Etikett angebracht und mit durchsichtigen, wasserundurchlässigen Klebestreifen gesichert. Dennoch waren Spuren von Wasser eingedrungen und hatten die Schrift teilweise verwischt.
„..l-a-s-c-h-e-...d--...P-a-n-d-o - - a“, las James vor.
Unseligerweise waren beide Knaben nicht gebildet genug, um den wichtigsten der fehlenden Buchstaben zu ersetzen, doch sowieso hätte der unbekannte Name ihnen nicht zur Warnung gereicht.
„Los, James, mach schon auf!“
„Das ist so merkwürdig verschlossen.“
Ganz eindeutig war der Hals der Flasche in der Flamme langgezogen und zugeschmolzen worden.
„Dann schlag den Hals eben an den Steinen ab!“
James gehorchte und fand im Bauch der Flasche zwei eng beschriebene Seiten Papier, er fischte sie heraus und begann vorzulesen.

„James mit seiner ...“

„Wieso kennen die meinen Namen?“, rief er verblüfft aus und drehte sich hastig zu seinem Freund um, wobei ihm die Flasche aus den Händen glitt. Sie kollerte über die Steine und versank sofort in den Fluten.
„Idiot, das ist reiner Zufall! Lies weiter!“

„James mit seiner elenden Neugier hat an allen Schuld! Nur seinetwegen ist meine Lebensuhr abgelaufen! Ich fühle, wie es in mir wühlt. Bald werden die Schmerzen unerträglich werden. Ich habe es an James beobachtet, der hat es schon hinter sich. Ich bin der Letzte in dieser Etage, vielleicht des gesamten Hauses!
Aber ich muss wohl weiter ausholen. Mein Name tut nichts zur Sache, es wäre nur zu erwähnen, dass James und ich Studenten der Chemie sind. Nein, waren.
Angefangen hat alles mit Stanley Miller. Sie kennen Stanley Miller? Das war der junge Mann, der sich anmaßte, unbelebte, anorganische Materie in Leben zu verwandeln. Er wollte in wenigen Tagen erreichen, wozu die Natur Millionen Jahre benötigt hatte! Nämlich die Verwandlung von toter Materie in Leben! Und wissen Sie was? Er war erfolgreich. Bis zu seinem Tode wusste er allerdings nicht, wie erfolgreich! Das wissen wir erst, seit James die verstaubte Kiste mit den Resten seiner Experimente in einer Ecke gefunden hat.
James beglückte daraufhin das gesamte Labor mit einem Freudentanz, als er an dem innenliegenden Laborjournal erkannte, um was es sich bei seinem Fund handelte. Ein Fläschchen nach dem anderen öffnete er und bereitete neue Messungen an modernen Geräten vor.
‚Sieh mal!’, kreischte James durchs ganze Haus und konnte sich vor Begeisterung kaum fassen, ‚in den letzten Fläschchen ist sogar noch Flüssigkeit enthalten!’
Ach, wäre der Inhalt doch nur auch trocken gewesen!
Noch immer freute sich James, schraubte den Deckel ab und war im gleichen Augenblick schon dem Tode preisgegeben. Allerdings bemerkte er dies erst einige Stunden später, als es ihm zusehends schlechter ging und die Schmerzen zerborstener Zellen und innerer Blutungen seinen ganzen Leib erfassten.
Mir ging es ebenfalls dreckig, dies jedoch nur wegen einer durchzechten Nacht, darum hielt ich mich vorwiegend in einem gewissen kleinen Gelass auf, beziehungsweise in der Cafeteria, auf das mein Flüssigkeitshaushalt nicht aus dem Lot käme.
Der ist mittlerweile egal!
Die ganze Zeit war ich viel zu sehr mit meinen eigenen Innereien beschäftigt, um zu wahrzunehmen, dass etwas nicht stimmte, ganz gehörig nicht stimmte! Dies wurde erst offensichtlich, als ich mal wieder vom Esstisch hinweg aufs Stille Örtchen eilte und dort alles blutbeschmiert vorfand. Glauben Sie mir, dieser Schreck ließ mich auf der Stelle von meinen Beschwerden genesen. Das ich mir gleichzeitig tödliche einhandelte, wurde mir erst nachträglich bewusst. Auch als ich die Leiche des Chefs auf dem Toilettensitz erblickte, erkannte ich die Gefahr noch lange nicht! Ich rannte zu James ins Labor und fand auch ihn in den letzten Zügen liegend vor. Blut lief ihm aus Augen, Ohren, Nase und Mund, seine Haut schillerte violett von inneren Blutungen.
„Es ist ein tödliches Virus“, hauchte er.
Noch etwas war mir während meiner vielen Sitzungen entgangen, längst hatte man das Gebäude unter Quarantäne gestellt. Doch dass dies beileibe nicht reicht, hatten die Verantwortlichen schnell begriffen. Bei einer Todesrate von 100% innerhalb weniger Stunden, stand der Entschluss bald fest, mit einem Brandbombenteppich alles abzufackeln, wo ohnehin nichts mehr zu retten war. Ein entsprechendes Gerücht machte jedenfalls die Runde, als es noch Leute gab, es zu verbreiten. Inzwischen gibt es hier niemanden mehr und ich nehme an, das Gerücht entspricht der Wahrheit! Denn nicht ein einziger in einen gelben Schutzanzug gehüllter Arzt hat sich sehen lassen und damit sollte man doch eigentlich rechnen.
Nun höre ich schon die Motoren der Flugzeugstaffel. Die Zeit ist also gekommen.
Aber vertuscht werden sollte nichts. Vermutlich hören die Überlebenden da draußen in Kürze wieder den bekannten Satz: ‚Gefahr für die Bevölkerung hat zu keiner Zeit bestanden!’
Eine Verheimlichung scheint nämlich geplant, denn seit geraumer Zeit sind alle Leitungen gekappt und seltsamerweise gibt es auch kein Handynetz. Ich weiß es von denen, die vor mir gegangen sind. Nun, dann beschreite ich eben den uralten Weg mit der Flaschenpost.
Schon seltsam, da steht eine Bierflasche mitten im Labor. Wer mag sich wohl über die guten Laborsitten hinweggesetzt haben, um hier Bier zu trinken? Aber ich verstehe es! Auch ich verspüre brennenden Durst, und wo ohnehin alles drunter und drüber ging, hatte derjenige dieses Verbot wohl als obsolet betrachtet! Da nun diese Bierflasche einmal vorhanden ist, werde ich sie benutzen! Der Fluss fließt direkt unter dem Fenster vorbei, unmöglich ihn beim Wurf zu verfehlen.
Übrigens, ich trage während des Schreibens Mundschutz und Handschuhe, außerdem werde ich die Flasche gut mit Alkohol desinfizieren, aber nun wissen Sie Bescheid und sind gewarnt!“

„Scheiße, ich fühle mich schon ganz schlecht!“, jammerte James.
Unten gluckerte die Bierflasche, aus welcher der neugierige Nachwuchsforscher noch kurz vor seinem Ende getrunken hatte, im trüben Wasser des Flusses. Waren die Schutzvorkehrungen ausreichend?


PS
In der Tat hat man die Rückstände von Millers Experimenten kürzlich wiedergefunden, woraufhin die Wissenschaftlergemeinde ganz aus dem Häuschen geriet. Man hat auch neue Moleküle entdeckt, jedoch ist kein Virus herausgekrochen, so ist bis auf die Tatsache der Wiederfindung der alten Kiste alles erdacht.

Letzte Aktualisierung: 18.10.2010 - 16.08 Uhr
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