Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
„Aber Mutter! Da hätte ich lange suchen können! Du hast deine Socken ins Gefrierfach gelegt. Und wo ist der braune Pullover? Den will ich auch noch in deinen Koffer packen. Im Mai kann es morgens und abends noch kühl sein.”
„Der Mai ist kalt. Mein Koff, jajajaja, Koffkoffer.”
„Ja, Mutter. Dein Koffer fürs Heim.”
„Für die Flucht.”
„Du musst nicht flüchten! Der Krieg ist lange vorbei. Nun iss endlich. Ich habe dein Lieblingsgericht gekocht. Wirsing mit Schweineschulter.”
„Die Schweine müssen vors Kriegsgericht!”
„Was redest du da wieder. Ich werde den hellen Pulli einpacken. Aber der ist dir am Bauch so eng geworden.”
„Mein Bauch! Hunger!”
„Dann iss doch! Das Essen wird sonst kalt.”
„Kalte Füße. Wo sind die, die, äh, die?”
„Du hast wollene Socken an. Deine Füße können nicht kalt sein.”
„Hunger!”
„Mutter! Vor dir steht der volle Teller! Iss doch endlich.”
„Aber Mutter! Du darfst das Essen nicht auf den Boden werfen!”
„Boden? Äh? Ja. Dachboden!”
„Wo hast du denn wieder den Wischlappen hingelegt? Guck dir die Sauerei auf dem Küchenboden an!”
„Oh! Oh! Flammen auf dem Dachboden. Jajajaja!”
„Nein! Nein! Nein! Kein Feuer! Ich habe dir alle Zündhölzer weggenommen.”
„Feuer!”
„Kein Feuer! Es ist gut, dass du ins Heim kommst. Hier ist es zu gefährlich mit dir.”
„Bomben! Gefahr!
„Was erzählst du da für ´n Zeug?”
„Luft, Luft, äh, Luftangriff!”
„Warum läufst du jetzt durch die Scherben! Lass mich doch erst aufwischen!”
„Scherben! Fenster kaputt!”
„Mutter! Warum machst du das Licht aus?”
„Verdunkeli, ähem, Dunkelichung!”
„Ich schalte das Licht wieder an. Wir brauchen keine Verdunkelung. Der Krieg ist lange vorbei.”
„Krieg! Flucht!”
„Muuutterrrr! Ich sagte, dass der Krieg lange, lange vorbei ist!”
„Vorbei.”
„Schön. Das hast du also verstanden.”
„Verstanden! Frau Luft, äh, Luft, Luftschutzwart.”
„Ich bin Gisela, deine Tochter. Wir fahren gleich ins Heim.”
„Ja. Soso. Heim ins Reich.”
„Ins Seniorenheim. Dort bist du nicht so alleine, das wird dir gefallen.”
„Er ist gefallen. Ich bin alleine.”
„Ich weiß. Dein Mann ist in Russland gefallen. So. Bitte. Hier hast du einen neuen Teller.”
„Kalt!”
„Gib her. Ich wärme das Essen in der Mikrowelle auf. Wenn du nicht isst, wird es wieder kalt.”
„Kalt. Will Handsocken!”
„Aber Mutter. Ich habe bereits gesagt, dass du warme Socken trägst.”
„Handsocken im Flucht, ja, ja, im Fluchtkoff, koff, ja.”
„Du brauchst keinen Fluchtkoffer. Der Krieg ist lange vorbei.”
„Oh! Oh! Der Mai, ja, ja. Kalt in Russland.”
„Nun iss endlich, damit du was Warmes im Magen hast. Oder soll ich dich füttern?”
„Mutter! Nein! Nicht! Jetzt kann ich wieder den Boden aufwischen.”
„Nein! Nicht! Der Feind!”
„Beruhige dich. Hier kommt kein Feind. Ich bringe den Koffer runter ins Auto.”
„Runter ins, ja, ja.”
„Mutter! Du bleibst am Tisch sitzen und wartest, bis ich wieder da bin.”
„Jajaja. Da bin. Oh nein.”
. . .
„Aber Mutter! Du kannst dich doch nicht vors geöffnete Fenster auf die Fensterbank setzen!”
„Der Feind!”
„Komm! Ich helfe dir hinunter.”
„Oh nein! Gewehre!”
„Der Krieg ist vorbei. Es ist Frühling! Mai!”
„Mai-käfer flieg, der Va-ter ist im Krieg, die Mut-ter ist in Pom-mer-land - Pom-mer-land ist ab-ge-brannt, Mai-käfer flieg. Mmh, mmh, mmh.” *
„Mutter! Ach Mutter.”
*Das Lied: Maikäfer flieg - nach der Melodie vom Kinderlied - „Schlaf, Kindchen schlaf.”
