Ganz schön bissig ...
Ganz schön bissig ...
Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Ingeborg Restat IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Düstere Zeiten | November 2010
Noch einmal davongekommen
von Ingeborg Restat

Ich war jung. Eigentlich sollte das Leben beginnen in fröhlichen Feiern mit Freunden und erster Liebe. Doch laute Feste gab es nicht, sondern lange Stunden Arbeit am Tag und Nächte, die vom Heulen der Sirenen unterbrochen wurden. Es war Krieg.
Jeden Morgen, außer sonntags, ging ich in Berlin zur Arbeit in eine Fabrik. Mein Weg führte mich über eine Brücke des Landwehrkanals und durch das Ratiborviertel mit seinen Altberliner Häusern. Reges Leben herrschte hier. Dann lief ich über noch eine Brücke und durch einen Park bis zum großen Tor des Werkes.
Diesen Weg lief ich auch zurück, wenn die Sirenen kurze Zeit vor dem eigentlichen Fliegeralarm mit drei lang gezogenen Tönen Vorwarnung gaben. Wer dann lieber in einem anderen Luftschutzraum als im Werk Zuflucht suchen wollte oder nur bis zu einer Viertelstunde entfernt wohnte, konnte gehen.
Eigentlich brauchte ich länger, aber ich rannte mir lieber die Lunge aus dem Hals, um noch vor dem Heulen der Alarmsirenen nach Hause zu kommen. Ich weiß nicht warum, aber dieses Altberliner Haus mit seinem breiten Haustor, mit seinem muffigen Keller, der zum Luftschutzraum gestaltet wurde, war wie eine Burg für mich und gaukelte mir Sicherheit vor. Und doch hätte es auch daraus kein Entkommen gegeben, wenn das Haus darüber eingestürzt wäre.
Es war ein wunderschöner Sommertag, als die Sirenen wieder Vorwarnung gaben. Wie immer verließ ich die Fabrik und rannte los, durch den Park und in das Ratiborviertel hinein. Nur noch wenige Menschen hasteten mit mir die Straßen entlang und verschwanden in ihren Häusern. Gleich würden die Sirenen zum Alarm aufheulen. Ich rannte wie gejagt. Ein Hund lief von Baum zu Baum. Ein Junge weinte, wollte nicht in den Keller, musste von seiner Mutter mit Gewalt in ein Haus gezogen werden. Ein Mann sah aus seinem Laden kurz heraus, dann ließ er ratternd die Rollläden herunter. Das schallte in den leerer und stiller werdenden Straßen ebenso wie meine Schritte. Angst trieb mich voran. Ich musste es schaffen. Hier und da sah noch einer vorsichtig aus einer Haustür suchend zum strahlend blauen Himmel hoch. Ich auch.
Fast hatte ich die letzte Brücke erreicht, da wies einer nach oben und rief: „Mach, dass du in einen Keller kommst!“ Hastig verschwand er danach hinter der Tür.
Ich sah sie, die winzig klein erscheinenden silbernen Flugzeuge am Himmel. Ich hörte ihr fernes Brummen. Ich lief weiter, gehetzt von meiner Angst, meine Beine wollten mir kaum noch gehorchen, die Brust schmerzte vom heftigen Atmen. Ich wollte nach Hause. Nur noch über die Brücke. Noch hatte keine Sirene aufgeheult. Vielleicht waren das da oben gar keine feindlichen Flugzeuge. Ein flüchtiger Blick zum Himmel. Schockiert verharrte ich! Eine Ansammlung roter Leuchtkugeln sank langsam vom Himmel herab. Weihnachtsbäume nannten wir diese Gebilde. Damit steckten voraus fliegenden Flugzeuge das Gebiet ab, auf das nachfolgende Bomber ihre vernichtende Last herabprasseln ließen. Ein Stück weiter sah ich den nächsten Weihnachtsbaum und noch einen! Ich war mittendrin in so einem Gebiet, musste Schutz suchen! Aber ich wollte nach Hause! Ich brauchte doch nur noch an einem Haus vorbei und über die Brücke – da, ein Pfeifen in der Luft, eine gewaltige Detonation, die Erde bebte; ich stolperte, fiel fast hin. Die erste Bombe war gefallen. Im gleichen Augenblick heulten die Sirenen auf. Viel zu spät, die Flugzeuge waren doch schon da. Voller Panik rannte ich in den Hauseingang des letzten Hauses vor der Brücke. Ich wollte erschöpft stehen bleiben. Ein Mann war im Flur. „Mädchen, was machst du noch auf der Straße? Los, ab in den Keller!“, sagte er, ergriff meine Hand und zog mich hinunter in den Luftschutzkeller dieses Hauses.
Fest verschloss er die Eisentür hinter uns und lehnte sich dagegen. Alle sahen mich an, Angst im Blick. Das verband mich nun mit diesen fremden Menschen. Verzweifelt und doch ergeben saßen sie an den Wänden entlang, hilflos dem Geschehen ausgeliefert. Niemand von ihnen sagte ein Wort, keiner lachte oder lächelte. Nur eine alte Frau rückte auf einer einfachen Holzbank ein Stück zur Seite. „Komm, setz dich!“, sagte sie zu mir. Ich hockte mich dazu. Und dann ging es los. Bombe auf Bombe krachte in nächster Nähe hernieder. ‚Mama!’, dachte ich nur. Hoffentlich blieben meine Burg, unser Haus, und meine Mutter verschont. Der Boden unter unseren Füßen bebte, als wollte er gleich bersten und aufbrechen. Der Keller schien hin und her zu schwanken. Ein kleines Mädchen weinte. Eine Frau hatte sich zusammengekrümmt und die Arme über den Kopf gekreuzt, als könne sie ihn damit schützen. Der Mann an der Eisentür kaute unablässig auf einer kalten Zigarre. Ein Koffer auf dem Tisch in der Mitte des Kellers wackelte bedenklich. Schwaches Licht verteilte eine Glühbirne, die an einer Schnur von der Decke herunterhing. Sie pendelte hin und her, her und hin. Wir starrten wie gebannt darauf. Sie flackerte, sie ging aus, sie flackerte wieder auf – dann ging sie ganz aus. Die Kleine schrie angstvoll auf. Unheimliche Finsternis hüllte uns ein und ließ uns das Erzittern des Bodens bei jeder unaufhörlich aufeinander folgenden Detonation noch mehr spüren. Eine Taschenlampe flammte auf. Irgendjemand zündete die Petroleumlampe an, die an der Wand hing. Gespenstisch zuckte die Flamme bei jeder Erschütterung des Kellers. Flackerndes Dämmerlicht hüllte uns ein. Hilflos der Situation und der Gefahr ausgeliefert harrten wir aus. Der Koffer auf dem Tisch hörte nicht auf zu wackeln, näherte sich der Kante und fiel polternd herunter. Niemand hob ihn auf.
Endlich war es still - eine unheimliche Stille. Die Frau nahm ihre Arme herunter und hob den Kopf. Die Mutter wiegte das weinende Kind in den Armen hin und her.
Der Mann an der Tür steckte seine Zigarre ein und lauschte. „Es scheint vorbei zu sein“, sagte er.
Irgendjemand seufzte erleichtert.
„Wer weiß? Die können noch einmal wiederkommen“, meinte ein anderer vorsichtig.
Eine Frau stand auf und streckte ihre Glieder. „Ob wir mal nachsehen?“
Ich stand auch auf. Vielleicht konnte ich jetzt schon nach Hause laufen.
„Bleib hier!“, sagte die alte Frau neben mir und zog mich wieder herunter.
Der Mann mit der Zigarre öffnete die eiserne Tür, machte einen Schritt hinaus und hörte aufmerksam nach oben, dahin, wo sonst das Leben pulsierte und jetzt nur tiefe Stille war. „Bei uns scheint alles in Ordnung zu sein“, erklärte er, als er zurückkehrte.
„Gott sei Dank!!“, rief eine junge Frau.
„Das war heute nah. Wo es wohl eingeschlagen hat?“, überlegte einer, „Gottlob nicht bei uns!“, antwortete ein anderer. Ganz langsam begannen sie wieder zu reden. Irgendjemand hob den Koffer auf.
Endlich ertönte der lang gezogene Ton der Entwarnung. „Das haben wir wieder mal geschafft!“ – „Wissen Sie, ob der Fleischer heute noch Fleisch bekommt?“ – „Also, ich stelle mich um drei Uhr danach an. Irgendetwas werden sie ihm schon liefern“ – „Ich muss nach oben in die Waschküche, muss bestimmt noch Holz nachlegen, damit der Kessel Wäsche zum Kochen kommt“ – so redeten sie plötzlich lebhaft miteinander. Der Alltag hatte sie wieder eingeholt. Jeder nahm seine Tasche oder seinen Koffer mit den wichtigsten Dingen, die man bei jedem Alarm in den Keller mitnahm, und langsam, ohne Gedrängel, bei unzähligen Alarmen geübt, verließen sie durch die Eisentür den Luftschutzkeller und gingen hinauf, zurück in das Leben, das ihnen diesmal noch geblieben war. „In der Nacht, beim nächsten Alarm, sehen wir uns ja bestimmt wieder“, verabschiedeten sie sich voneinander.
Mit einigen anderen betrat ich die Straße. Wir sahen uns um. Dachziegel lagen herum, Gesteinsbrocken von irgendwo hergeschleudert, Fensterscheiben waren geborsten und hatten die Straße mit Glassplittern übersät. Vor einem Laden begann bereits einer die Scherben seiner zersplitterten Schaufensterscheibe zusammenzukehren. Gott sei Dank, da vor mir, wo mein Zuhause war, schien alles in Ordnung zu sein. Aber hinter uns, hinter dem Dach, das jetzt kaum noch Dachziegel hatte, stieg dichter Rauch auf und machte die Luft diesig. Es roch nach Brand. Und noch immer hörte man das Krachen einstürzender Mauern. „Da muss es mächtig reingehauen haben“, sagte einer. Und sie standen und schauten hoch zum vorhin noch blauen Himmel. Aufwallende schwarze Rauchwolken verdunkelten die Sonne. Einige rannten zum Ende der Straße und sahen um die Ecke. Voller Entsetzen blieben sie stehen und hoben ratlos die Hände. Sie brauchten uns nichts zuzurufen. Da, wo ich eben noch durch die Straßen gelaufen war, mussten die Bomben niedergegangen sein.
Leben kehrte in die Straßen zurück. Ich lief so schnell ich konnte nach Hause. Erleichtert sah ich von der Brücke aus unser Haus. Meine Mutter nahm mich in die Arme. „Kind, wenn dir jetzt etwas passiert wäre, hätte ich nicht einmal gewusst, wo du warst“, sagte sie sorgenvoll. „Willst du nicht doch lieber bei Alarm in der Fabrik bleiben?“ Nein, das wollte ich nicht.
Als ich kurze Zeit später aufbrach, um zum Werk zurückzulaufen, kam ich nur noch bis zur Ecke hinter der Brücke. Danach war alles zerstört. Das Ratiborviertel gab es nicht mehr. Ob die Frau mit dem weinenden Jungen noch aus dem Keller herausgeholt werden konnte? Die Rollläden vor dem Geschäft waren bestimmt zersplittert. Was war aus all den Menschen geworden, die so eilig mit mir durch die Straßen gelaufen waren, um noch nach Hause in ihren gewohnten Luftschutzkeller zu kommen?

Nur wenige hatten das überlebt. Die anderen waren unter Schutt und Asche begraben. Auch der Hund und diejenigen, die ich kurz zuvor noch gesehen habe? Viele konnten nicht einmal mehr tot geborgen werden.
Ich bin weiterhin bei Alarm nach Hause gelaufen, trotz des Umweges den ich für lange Zeit um das Ratiborviertel machen musste. Die Bomben hatten ganze Arbeit geleistet, nicht ein Haus war stehen geblieben. Hohe Schuttberge hatten zwischen den Ruinen die Straßen verschüttet– in denen einmal reges Leben geherrscht hat.
Es war Krieg!

Letzte Aktualisierung: 13.11.2010 - 17.30 Uhr
Dieser Text enthält 10113 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.