Lena Grünthal schob die Ozeanpassagen-Billetts unter die „Voss“ als es klopfte.
„Ja?“ ihre Stimme klang brüchig und sie wischte hastig eine Träne vom Nasenflügel.
„Frau Grünthal, darf ick bitte zu hause Abendbrot essen?“
„Wie? Aber Magda, sicherlich. Du darfst essen, wo du magst. Auch zu Hause, wenn du möchtest und nimm bitte eine Portion für deine Frau Mutter mit, frag das doch nicht immer wieder.“
Magda machte einen Knicks und wollte sich abwenden, als Frau Grünthal sie aufhielt.
„Magda, bleib bitte kurz hier. Setz dich. Sag mal, meinst du wir könnten morgen dein Domizil aufsuchen? Ich möchte dort mit dir und deiner Mutter etwas besprechen und habe eine sehr große Bitte an euch, deren Erfüllung ich gut entlohnen werde.“
„Wat?“
„Setz dich hin, Kind!“ Frau Grünthals Stimme klang energischer.
Magda saß nun so auf dem rot-weiß gestreiften Seidenpolster, dass es aussah, als würde sie gleich auf den Boden rutschen.
„Magda, du warst nun sieben Jahre ein wirklich gutes und diskretes Hausmädchen, ich möchte dir allen Dank aussprechen. Ich konnte mich immer auf dich verlassen, hatte stets den Eindruck, dass du loyal bist. Besuche in unserem Haus nahmst du wie eine erfahrene Empfangsdame auf. Alle waren ständig voll des Lobes. Ich werde Dir ein hervorragendes Zeugnis schreiben.“
Lautes Schluchzen unterbrach die Rede. Magda knautschte ihr Taschentuch unter der Nase.
Lena Grünthal erhob sich und stellte sich hinter das Mädchen, hielt deren Schulter.
„Magda, wir müssen morgen sehr viel schaffen und organisieren. Du, ich möchte mich weiter auf dich verlassen können. Ich werde alles mit dir besprechen. Willst du weiterhin treu zu mir stehen? Kannst du das?“
Magda nickte heftig und ergriff in einem Anfall von emotionaler Erschütterung, die Hand auf ihrer Schulter. Sie sah sich um, blickte in das blasse Gesicht Lena Grünthals.
„Frau Grünthal, Sie war´n immer wie ´ne Tante zu mir. Ick tu allit für Sie!“
„Magda, das Wichtigste wäre mir Verschwiegenheit in diesen Tagen“, sie entzog ihre Hand sanft, „es kommt viel Arbeit auf dich zu, die deine absolute Diskretion und Treue voraussetzt!“
Lena Grünthals Gesicht zuckte, als sie das Geräusch von der Treskow-Allee hörte. Sie ging fünf Schritte bis zum Florentiner Tüll. Ihre Hand griff den Store und bewegte ihn beiseite. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln schloß sie das Doppelfenster, drückte sie die Rahmen in ihre Zargen und drehte die Messinggriffe in Querposition.
Der Kopf der Frau kippte nach vorn. Die Stirn berührte die kühle Scheibe. Das Geräusch der nagelbesetzten Stiefel war nicht mehr zu hören. Das Lied war verbannt, das von Folgschaft und Eisen sang.
Lena Grünthal wendete sich um.
„Magda nimm Essen mit, komme morgen bitte schon um vier Uhr. Wir haben viel vor und, bereite deine Mutter auf meinen Besuch vor, der nicht lange andauern wird. Ich benötige nur eine Viertelstunde für mein Anliegen. Es wird euer Schaden nicht sein, das verspreche ich dir.“
„Aber Frau Grünthal, wat haben Se denn nur?“, Magda stand auf, als sie den Zeigefinger auf dem Mund der Frau sah, knickste und verließ das Zimmer.
In der Küche schnitt Magda vom Schweinebraten einige Scheiben, vom Brot ebenfalls. Über beides schlug sie drei Kreuze. Geschickt wickelte sie alles in Zeitung ein. Dann nahm sie das Betttuch mit den Löchern und umhüllte damit das Paket. Sie hatte es eilig. Sie blickte sich um, hängte ihre Schürze an den Haken. Alles war rein und sauber, dann verließ sie über den Botenflur die Etage.
Auf der Straße stampften Spielmannszüge vorbei. Sie sah nach links und rechts. Schwarze und braune Uniformen marschierten mit martialischem Gesang. Mit einem Schauer, der sie schüttelte, huschte sie wie ein in Panik geratenes Tier von der Albrechtstraße hinüber zum Tor der Rennbahn. Einige Automobile standen parkend davor. Droschken fuhren quer zum Bahnhof. Geschwind betrat sie durch die Zaunlücke den Park. Eichen und Kiefern umgaben sie, spendeten Schatten und Ruhe. Der Wind pfiff scharf. Sie wollte den alten Landstreicher treffen, der ihr viel von einer schönen Zeit erzählte und manchmal auch sang.
Sie eilte zu dem Reiterdenkmal. Auf einer Bank saß er.
„Hallo Rudi. Wie jeht it dir?“
Ein hageres Gesicht wendete sich Magda zu. Blaue klare Augen umrahmt von Furchen in der Haut, die Wege und Bahnen eines Lebens bezeugten, sahen sie an.
„Göre, was machst du schon wieder hier? Such dir ´nen Kerl, ´nen Sportkameraden aus ´nem Turnverein, die haben Kraft!“ Er spannte seinen Arm an und deutete auf den mantelumhüllten Bizeps.
„Rudi, wir kennen uns nu zwee Jahre. Du musst hier weg. Die stecken jetzt sowat wie dich ins Lager. Arbeistlager. Die fangen dich weg und wenn nicht, erfrierste hier. Die nennen dich asozial und arbeitsscheu und dann biste für immer im Umerziehungslager, sagen se. Glaub´ mir. Karl erzählte davon.“
„Quatsch! Diese albernen Nagelstiefel klappern nur laut und beißen nicht... oder wie das alte Sprichwort heißt. Das geht bald vorbei. Die sind zu dumm, das merken die Menschen!“
„Ne Rudi. Letzte Woche haben se im Scheunenviertel die Roten krankenhausreif geprügelt und se reden von Nation und Versailles und Blutschande ... se werden uffräumen, sagen se, it wird rauh, wie der kommende Winter. Die Zuchvögel zien jetzt schon, dit bedeutet sehr bald Frost und Kälte.“
„Ich kann hier nicht weg!“
„Wieso Rudi?“
„Wegen Max ...“ Magda hatte Max nie getroffen und nahm an, dass der eine Art Hirngespinst sei.
„Rudi, ick mag dir wie eenen Bruder, dit weeste, aber hier kannste nich´ leben. Ick nehm dir mit zu uns.“
„Nein! Ich bleibe bei Max. “
„Max, Max. Wer ist das? Wat is dat für ein Geheimnis? Ein Pferd?“
„Ich erzähle dir davon, wenn Zeit dazu ist. Noch bist du zu jung. Wenn du Mutter bist und verheiratet mit einem Sportfreund, dann berichte ich dir alles. Denn dann wirst du verstehen. Und nun lass mich allein.“
Magda sah sich um. Auf der Rennbahn trainierten Jockeys mit Sulkys. Von der Straße hörte man grölenden Männergesang erschallen: „Führer befiel, wir fo ....holgen Dir ...!“
Magda erhob sich, legte das Päckchen mit Braten und Brot auf die Bank.
„Da iss. Ick komm erst übermorjen oder überübermorjen wieder. Dit wird jetzt so kalt werden, ick sach it dir...“
Rudi nickte. Magda eilte davon.
Lena Grünthal erläuterte alles in ruhigem Ton. Es ging um Banktransaktionen, um Überweisungen, um Gemälde, um Schmuck und Wertpapiere. Magda sollte einen Großteil behalten, einen anderen Teil nach Frau Grünthals Brieforder auf ein amerikanisches Konto überweisen. Magda durfte das, Lena Grünthal nach neuestem politischem Erlass nicht.
Dem Dienstmädchen war schwindelig. Jemand hatte ihr den Boden unter den Füßen entrissen. Die Summen, die genannt worden waren, hatte sie nicht verarbeiten können. Sie sah in die ertrinkenden Augen Frau Grünthals, die nun schluchzte, deren Hände zitterten. Magdas Mutter goss Tee ein. Die Frauen verharrten in Schweigen, in ihren Gedanken.
Magda holte Luft: „Ja, allit will ick für Sie tun, Frau Grünthal, bloß bringen Sie sich in Sicherheit. An dat mit dem Glauben hab ick jar nich jedacht. Sie könn´ sich auf mir verlassen, dat schwör´ ick Ihnen!“
***
Eine eisige Zeit war angebrochen. Jeden Tag war Magda zur Rennbahn gelaufen, hatte Rudi mit Speisen und Decken versorgt. Rudi hustete in den letzten Tagen heftig, konnte kaum sprechen. Nur von Max wollte er sich nicht trennen.
Als Magda an diesem Morgen zur Rennstrecke eilte, hagelte und schneite es.
Magda hatte mit ihrer Mutter vereinbart, Rudi ins Haus zu holen. Er sollte in der Küche überwintern.
Sie erreichte den Rosengarten. Sträucher hatten ihr Laub verloren. Die Bänke waren mit buntem nassem Blattwerk gepolstert. Die Rasenfläche lag braun. Der bronzene Jockey, der nackt auf dem Steepler saß, hatte einen Eichenlaubkragen, er sah in die Weite, auf die Rennbahn, die verwaist lag. Das Pferd hatte einen Huf erhoben, sich in Bewegung zu setzen. Auf dem Marmorsockel waren die Namen geopferter Reiter gemeißelt. Der Weltkrieg hatte sie weggerissen. Aus der Bahn der Eichen- und Lorbeerkränze, des Ruhms und der Wetterlöse. Hier hatten die Verlassenen der Heimat den Gefallenen ein Denkmal gesetzt.
Magda sah sich um. Nirgends war Rudi zu sehen.
„Rudi!“ Magda rief in den Ehrengarten. Der bronzene Reiter über ihr sah stur in eine ungewisse Zukunft.
Ein Rascheln ließ sie aufhorchen, sie wand sich dem zu. Dort lag er unter Laub in einem Gebüsch. Magda eilte zu dem Busch, der von weißer Graupel eingefärbt war.
Rudi bibberte, das alte Laken der Frau Grünthal um sich gewickelt. Trübe Augen blickten zu Magda auf.
Sie kniete sich zu ihm. Ahnte, dass sie zu spät oder zu rechtzeitig gekommen war.
„Rudi, meen lieber Rudi, steh uff, wat machste hier im Busch? Komm , ick habe een Lajer für dich bei uns inne Küche, nahe am Futtertroch.“
Rudi flüsterte. Die junge Frau hielt ihr Ohr dicht an seinen verschorften Mund.
„Mädchen, ich gehe. Ich gehe zu Max. Max, der dort auf dem Fuchs sitzt, in Kupfer gegossen für immer von dem ollen Willibald Fritsch. Max war mein Leben, wir liebten uns viele Jahre, bis er...“ Rudi hustete trocken, sein Gesicht färbte sich krebsrot. Dann sog er pfeifend kalte Luft ein und sprach leise weiter:
„... liebten uns, wie man nur lieben kann, bis er von einem der SA-ler erschlagen wurde, weil mein Max mit den Hüften so schön schaukelte beim Laufen ... Ich gehe nun hinterher, mein Engel, zu ihm ... heute ... und ich freu mich ...“
Magda hielt Rudis Kopf und strich die Wange des Mannes, der ihr nach Feierabend oft Trost gespendet hatte, erzählte hatte vom schönen Leben, ohne Unterschiede, ohne „Arm und Reich“ in einer Welt, in der alle gleich sein würden.
Rudi schloss die Augen, er lächelte, machte einen letzten Seufzer. Magda dachte an Lena Grünthal, an Rudi und seinen Max, als braune Uniformierte in den Heldenhain stürmten.
„Hier habe ich den Volksschädling entdeckt, das arbeitsscheue Subjekt!“, rief einer von ihnen.
Magda hielt Rudi sehr fest in ihren Armen.
Letzte Aktualisierung: 08.11.2010 - 20.16 Uhr Dieser Text enthält 10149 Zeichen.