Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Düstere Zeiten | November 2010
Stark
von Hajo Nitschke

Zwischen zwei Heuballen steht Buridans Esel
Schwach, hungrig
Schaut von einem zum anderen, hin und her
GleichgroĂź beide und gleichermaĂźen duftig
Zwischen zwei Heuballen schwankt Buridans Esel
Schwächer, hungriger
Dieselbe Anzahl Halme, zählte man sie
Farbe und Frische identisch
Zwischen zwei Heuballen liegt Buridans Esel
Tot, verhungert

Sie kennen Jean Buridans Gleichnis vielleicht. Glauben Sie mir, es hat sich seit siebenhundert Jahren nichts geändert. Aber Menschen müssen manchmal stark genug für besondere Entscheidungen sein. Müssen gordische Knoten durchschlagen, indem sie bei zwei Alternativen – BEIDE wählen! Es gab immer starke Persönlichkeiten, die dies vermochten. Ich gehöre zu ihnen. ICH bin NICHT verhungert!

Was soll ich drum herumreden? Beides stattliche Mannsbilder. Der Schriftsteller Justin Kaufmann, meine lange, heimliche Liebe. Fast zwei Jahre verschollen geglaubt, aber nun, von Krankheit genesen, vor meiner Tür stehend. Hinter mir mein Angetrauter. Die Glut brannte ausreichend, aber mir fehlte das knisternde Geräusch größerer Holzscheite, die Reiner Bertuleit als sensibler Romantiker nicht recht aufzutreiben wusste. – Ich liebte Reiner. Doch Justin gehörte einst meine Leidenschaft, die nun jäh wieder aus dem entrümpelt geglaubten Speicher meines Herzens hervorkroch. Ich schaute sprachlos von einem zum andern, keiner von uns wusste etwas zu sagen. Dann streckte Reiner die Arme aus und hieß den anderen willkommen.

Irene good night,
Irene good night


Das Gutenachtlied für mich, im Duett. Sie lesen richtig: Nach Reiners großherziger Geste bezog Justin zunächst das Gästezimmer. Wir schlichen wie die Katze um den heißen Brei umeinander herum, ich war zu einer Entscheidung unfähig und floh Reiners Bettwärme. Hungrig war ich plötzlich geworden. Meine alte Liebe zu Justin war Reiner früher nicht verborgen gewesen, trotzdem hatte er beharrlich um mich geworben. Dies durch Verrat zu bestrafen, kam mir nicht in den Sinn. Aber dieser Hunger! Zunächst blieb ich unschlüssig, schaute von einem zum anderen. Irgendwann saßen wir verlegen schweigend beim Essen, als ich vorschlug, das Theater zu beenden. Ich schlug eine offene Dreiecksbeziehung im Hause Meurer-Bertuleit vor und überwand so Buridans Dilemma. Diese zwei Männer waren selber hungrig. Jeder auf seine Art. So kam es, dass wir eine moderne Ehe zu dritt führten und mir beinahe jeden Abend ‚Irenes Lied’ vorgesungen wurde. Selbst Heiko, mein Papagei, konnte es mitsingen. Ebenfalls auf seine Art.

Diese Entscheidung rechne ich meiner seelischen Robustheit zu. Es gibt nicht viele Frauen, die so offen und konsequent zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen stehen. Und die gleichzeitig achtsam mit der verletzlichen Seele des treuen Partners umgehen. Die ein Gewissen haben und darauf hören. Aus Rivalen machte ich Freunde, unsere kleine Gemeinschaft wuchs auf zu einer harmonischen Familie zu dritt. Mit Heiko zu viert. Reiner, der Sanfte, und Justin, der Ungestüme, Leidenschaftliche. Im Bett ergänzten sie sich ideal.

Stop, nicht so, wie Sie meinen! Sie dürfen nicht schlecht von mir denken. Gewiss, nur ein Fingerschnipsen, und beide hätten einer kleinen Orgie zu dritt zugestimmt. Sie waren mir verfallen, aber ich nutzte es nicht aus, sondern setzte meine moralischen Bedenken an erste Stelle. So kam es zur Vereinbarung eines festen Rhythmus’. Abwechselnd im Wochenintervall durfte mal der eine, mal der andere das Bett mit mir teilen. Es waren inzwischen fünf Jahre vergangen, man sollte von einer gewissen Abschwächung des erotischen Verlangens ausgehen, aber nicht so bei uns. Zwar wussten wir uns zu mäßigen, kamen indes ohne Sex nicht aus: Mehrmals die Woche Beischlaf, eisern durchgehalten selbst während meiner Regel, ansonsten zärtliches Kuscheln. So hatte ich es letztlich durchgesetzt, und wir alle waren glücklich. Heiko sowieso, der besonders Reiner in sein Exotenherz geschlossen hatte. Keine Nacht, in der er nicht erst Ruhe gab, wenn Reiner die Käfigdecke nochmals richtete.

Meine beiden Männer schienen zuletzt etwas angespannt zu sein. Ich hatte vor längerem darauf bestanden, dass neben meinem Hausmann Reiner auch Justin das Haus hütet. Mein Verdienst als Lektorin reichte für ein Leben ohne Entbehrungen. Eigentlich hätte alles eitel Sonnenschein sein können. Aber was soll ich sagen: Eines Tages gestand Reiner, sein Herz sei schwer, weil er allmählich eine andere Sicht von der Einzigartigkeit der Liebe habe. Ich nahm ihn fröhlich in den Arm und redete ihm die Flausen aus. Dann beichtete auch Justin düstere Gedanken: Er wolle eigentlich mein Herz allein besitzen und leide an der moralischen Unmöglichkeit, die Gemeinschaft zu Lasten Reiners zu sprengen. Reiner sei ein guter Mensch, der das nicht verdiene. Auch meine Meinung.

Nun, ich konnte beide Herren beruhigen mit meinem Imperativ, jedem wohl und keinem wehe: es funktioniere doch perfekt. Sie sahen es ein. Habe ich einmal Grundsätze, so bleibe ich ihnen treu. Gewissensbisse sind dann Luxus, moralische Skrupel redundant. Das alles schadet nur der eigenen Psyche. Du musst stark sein, willst du bestehen! Deine von Gott verliehene Vernunft gebrauchen, kühl und scharfen Verstandes abwägen und den einmal für richtig erkannten Weg zu Ende gehen. Einmal konsequent, immer konsequent.

Anflüge leichter Verzweiflung bei diesen beiden übersensibel gewordenen Seelen erkannte ich früh genug, um sie mit messerscharfer Logik wieder in die Spur zu bringen. Ebenso gelang es mir, erste feine Risse zu kitten, die durch Anflüge gegenseitigen Misstrauens nebst kleiner Eifersüchtelei entstanden. Doch dann trat diese neue Situation ein, unter der sie litten, ohne vorerst die Ursache zu ahnen …

Good night Irene, good night Irene,
I’ll see you in my dream


Sie hatten nichts begriffen! Dass ich plötzlich wieder zuhause blieb und beide erneut hinaus zum Geldverdienen scheuchte, hatten sie klaglos akzeptiert. Meine zunehmenden Launen und Befehle nahmen sie gleichmütig hin. Zeigten sich nicht irritiert über meine eines Paschas würdige neue Pose, brachten mir Süßes und Herzhaftes, ohne nach der Ursache meines Appetits zu fragen. Männer! Zumindest diesen Exemplaren fehlte jeder blasse Schimmer über die Veränderungen bei einer Schwangeren. Gut, ich gab ihnen Rätsel auf, weil ich etwas unverträglich wurde: So überrascht und irritiert war ich, dass ich mental nicht zur Tagesordnung fand. Das Kind – mein erstes – war ungewollt und unwillkommen. Keine Ahnung, wie es passieren konnte, ich hatte regelmäßig die Pille genommen.

So wurde ich mal liebebedürftiger denn je, mal eher distanziert. Manchmal fragten mich beide, ob es an ihnen läge und was sie denn noch tun könnten, um ihre Liebe zu beweisen. Die Ahnungslosen!
Bis ich die zwei potentiellen Väter aufklärte. Was heißt ‚Väter’? Ich lehnte es ab, jemanden Vater meines Kindes werden zu lassen, weil ich das Kind nicht wollte. Mit meinen inzwischen knapp vierzig Jahren fühlte ich mich dem nicht mehr gewachsen. Justin und Reiner hatten sich damit abzufinden, Punkt. Dies war das Ergebnis tage- und nächtelanger Diskussionen. Ich machte es mir nicht leicht, aber am Ende war mein Standpunkt nach logischen Aspekten glasklar: Embryonen oder selbst Föten sind nichts anderes als Zellgewebe, ohne Geist, ohne Seele, ohne Schmerzempfinden. Und ohne irgendwelche Ansprüche, denn über meinen Bauch entscheide ich allein! Es gelang mir, Verwunderung und Bekümmerung meiner Männer entgegenzutreten, bis sie meine ethischen Maxime übernahmen. Die nötige Bescheinigung lag längst vor.

Gibt es nicht schon zu viele Menschen auf der Welt? Menschen ohne Zukunft, davon so viele Kinder? Haben meine eigenen, auf ein unbeschwertes Leben gerichteten Perspektiven nicht Vorrang? War meine Selbstverwirklichung nicht ein höheres Gut als das Recht auf ein späteres Leben des in mir heranwachsenden Gewebeklumpens? Güterabwägung nennt man das. Und Gott? Wenn es ihn gibt, hat er Verständnis. Ein ungeliebtes Kind kann nicht in seinem Sinne sein. Schließlich hat jedes Kind ein Recht, geliebt zu werden. Es galt also, ihm ein Leben ohne mütterliche Liebe zu ersparen. So war ich mir meiner Sache sicher und meinte zu erkennen, dass sich ein Teil meiner inneren Kraft auf meine zwei Lieben übertrug. Sie gaben alle Einwände gegen einen Schwangerschaftsabbruch auf, zumal ich nicht zu sagen vermochte, wer von ihnen derjenige welcher war.

Vor fünf Wochen habe ich abgetrieben. Natürlich ganz legal, da noch knapp gegen Ende des dritten Monats. Ob ich es auch noch im vierten getan hätte? Auf keinen Fall! Der Gesetzgeber wird seine Gründe für diese Grenzlinie haben. So aber war es eine untadelige Sache. Alles verlief gut – sauber, ordentlich und korrekt.. Der Zellhaufen wurde abgetragen und entsorgt. Ich fühlte mich wie von einer Last befreit. Aber dann hat sich Reiner vor zwei Wochen das Leben genommen, mit einer Überdosis Schlaftabletten. Justin und ich wähnten ihn im Zimmer. Als er abends nicht erschien, ahnten wir nichts. So etwas kam vor. Erst als Heiko mitten in der Nacht krakeelte und sein Lieblingswort ‚Re-dun-dant’ auf leicht verfälschte Weise zu Gehör brachte, sahen wir nach.

Die Decke über Heikos Käfig war nicht akkurat heruntergezogen. Wir klopften an Reiners Tür. Es blieb alles still, wir gingen hinein. Reiner lag im Bett und es war erst recht alles still. Totenstill. Was hätten wir zwei auch sagen sollen?
„Rrreee---dant“, krächzte Heiko. Ich eilte nach nebenan und deckte ihn zu.
Das mache ich seither jede Nacht. Ich bin es Reiner schuldig. Justin scheint Reue zu verspüren, ich nicht. Das wäre inkonsequent. Vor Menschen und jeder höheren Instanz kann ich alles rechtfertigen. Meine Seele nahm keinen Schaden, ich bin mit mir im Reinen.
Nein, ich habe nichts falsch gemacht, Reiner war zu schwach! Heute findet die Beisetzung statt. Justin ist jetzt sehr auf meinen Beistand angewiesen. Ich werde ihn trösten, denn ich bin stark.

I love Irene, God knows I do.
I’ll love her till the seas run dry,
But if Irene should turn me down,
I’d take morphine and die

Letzte Aktualisierung: 15.11.2010 - 00.11 Uhr
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