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Düstere Zeiten | November 2010
Todesstreifen
von Eva Fischer

Wie jeden Tag sitzt sie in ihrem Fernsehsessel. Das schwarze Leder kann ihren mager gewordenen, alten Körper nicht wärmen. Der Bildschirm bleibt dunkel. Weiße Gardinen mit Rosen bestickt hängen vor den Fenstern, durch die gedämpft Motorengeräusche dringen. Feierabend.
Bilderfetzen schieben sich in das monotone Grau ihrer Seele.

HERR, DEIN WILLE GESCHEHE!

Ein toter Körper liegt auf den Fliesen des reinlichen Badezimmers. Vertraut und doch fremd. Vierzig Jahre Seite an Seite mit diesem Mann. In guten wie in schlechten Zeiten. Aus und vorbei! Vorbei auch die Sorgen, wie es weitergehen soll. Zuletzt flatterten ihm die geliebten Geldscheine wie freigelassene Vögel aus der Rocktasche.
Das letzte Hemd hat keine Taschen!
Sie denkt an ihren Kleiderschrank. Bunte, protzige Schönheit verwittert dahinter, wartet umsonst, von ihr erneut zum Leben erweckt zu werden. Verschenken, sie wird alle diesen nutzlos gewordenen Tand verschenken.

Grell und trotzig greifen die Bilder aus der Jugend nach ihr. Quälende Störenfriede. Hoffnung und Träume von einst zu Illusionen verdörrt.
Machen wir’s den Vögeln nach. Eine Familie gründen als Prestige und sicheren Hort. Sieben Kinder will sie. Sieben Zwerge.
Der Prinz kam, aber Schneewittchen hat vergessen, den vergifteten Apfel auszuspucken.
Ein Missverständnis. Entzweiende Enttäuschung. Liebe oder Eigenliebe? Wer kann das schon zu jeder Zeit auseinanderhalten?

UND VERGIB UNS UNSERE SCHULD!

Der Krieg bietet den seelisch Verwundeten eine letzte Ruhestätte. Stalingrad todsicher. Als der Brief kam, blieb sie allein und schuldig zurück. Vergib mir, vergebens!
Seither streift sie der Todesengel, immer wieder, flĂĽstert ihr zu:
„Komm mit! Bei mir findest du Frieden, ewigen Frieden. Grabsteine lügen nicht. Güldene Inschrift auf schwarzem Marmor.“

ASCHE ZU ASCHE

Sie entzĂĽndet eine Zigarette. Rauchschwaden fĂĽllen den Raum.
„Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den anderen.
Jeder ist allein.“

LIEBE DEINEN NĂ„CHSTEN!

Wenn das mal so einfach wäre! Die Nachbarin liegt ihr ständig in den Ohren.
„Interessieren Sie sich doch mal für das, was außerhalb von Ihnen geschieht! Lesen Sie Zeitung! Schauen Sie sich informative Fernsehsendungen an! Gehen Sie unter Leute!
Die Zeilen verschwimmen unter ihren Augen. Die Welt ist nicht in Ordnung. Das braucht sie nicht schriftlich. Die Fernsehsendungen langweilen sie. Hohle Phrasen. Wo ist die verwandte Seele, die das Gespräch lohnt?
„Rennen Sie nicht ständig in die Kirche! Hören Sie nicht auf die Lügen der Pfaffen!“
Die Nachbarin hat doch keine Ahnung.

ABER SPRICH NUR EIN EINZIGES WORT UND MEINE SEELE WIRD WIEDER GESUND!

Rauch wird zu Weihrauch verwandelt. Salbung fĂĽr die verlorene Seele. Sanft gleitet sie in einen traumlosen Schlaf.
Nicht denken, nicht fĂĽhlen, nicht erinnern mĂĽssen.

Das Licht blendet schmerzhaft.
„Mutter, warum sitzt du im Dunklen? Mach dir doch das Licht an!“
„Ach du bist es, Liebes. Wie spät ist es denn schon?“
„Es ist nach sechs. Ich habe die Kinder zum Klavierunterricht gebracht. Gleich muss ich sie wieder abholen, aber vorher mache ich dir noch ein warmes Süppchen, damit du mal wieder zu Kräften kommst. Einverstanden?“
Sie fühlt die Wärme der Hand, hält sie fest.
„Setz dich zu mir!“
Seit dem Tod ihres Vaters hat sich ihre Mutter verändert. Die Tochter macht sich Sorgen, aber die Zeit drängt. Sie steht auf, geht in die Küche, setzt eine Rindssuppe mit Gemüse auf,
stellt den Teller mit dampfender Suppe auf den Wohnzimmertisch.
„Bis morgen!“
„Ja, Liebes, bis morgen.“

UND FĂśHRE UNS NICHT IN VERSUCHUNG!

Die Suppe wird kalt. Sie hat keinen Hunger, schon lange nicht mehr.
Sie spürt die angenehme, kühle Nähe des Todesengel.
Morgen wird sie ihm folgen. Mit Hilfe eines Stuhles wird sie es schaffen, ĂĽber die BrĂĽstung des Balkons zu springen.
Jetzt träumt sie vom Fliegen, wie einst als Kind.

KYRIE ELEISON!

Letzte Aktualisierung: 07.11.2010 - 17.57 Uhr
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