Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
Ich schiebe mir ein Stück Schokolade in den Mund. Die Tür quietscht, ruckelt beim Öffnen, wie die rostigen Federn eines Eisenbettes. Im alten Schuppen stehen Dinge, die mal eben dort hineingestellt wurden. Kurz. Nur kurz. Das Licht scheint sich zu verstecken hinter den Spuren der Zeit. Mein Arm reißt ein Loch in die Wand aus Spinnweben. Lautlos. Der Schuh stößt an. Es riecht nach altem Maschinenöl und Eisen. Satte, staubige Luft. Ein Spalt zum Atmen – mein Mund. Suchend, hinter dem Vorhang aus Staub – meine Augen.
Wie Pech und Schwefel – der Franz und ich. Damals, im Schuppen. Ein Topf aus Ton. Franz kramte in seiner Hosentasche. Er bückte sich und zog eine Tube unter einem Haufen Dachschindeln hervor, während er mir ein Stück in Silberpapier gewickelte Schokolade zuschob ohne sich umzudrehen. Die Masse zerging in meinem Mund. Ich sah auf Franz. Da war dieses braune Tongefäß, das Franz fand – mit dem alles anfing. Wir wollten im Schein unserer Petroleumlampe etwas erschaffen, das die Welt noch nie gesehen hatte. Die glibberige Paste klebte schon zäh am Boden des Tontopfs. Wir drückten einen dicken Kerzenstummel, den Franz in einer Zigarrenkiste fand, darin fest. Unser Docht ragte wie ein Zeigefinger aus dem Tonbehälter hervor. Apothekerflaschen mit verblichenen, unkenntlichen Aufschriften. Wir stopften alles, was uns in die Finger fiel, in den Topf; ob Pulver oder Tinktur, Schuhcreme, Schmierfett, Reste von Bohnerwachs – Nichts sollte fehlen.
Franz öffnete ein altes Weckglas, drehte seinen Kopf zur Seite als er den Bügel anhob und fluchte: „Scheiße!“
Blut tropfte von seinem Finger. Hastig wickelte er sein Taschentuch um die Hand. Franz sah zu mir rüber. Sein Blick war leer. Er stockte einen Moment, dann griff er in seinen offenen Hosenschlitz und strullte ins Einmachglas. Franz schwenkte das Glas mit einem Grinsen, um einen Schuss davon in das Tongefäß zu gießen, vor dem ich hockte. In dem Moment hätte ich ihn verfluchen können ... dafür. Saukerl – verdammter. Er zog sein Taschenmesser heraus.
„Los, wir besiegeln es mit unserem Blut!“ Schon hielt er meine Hand in seiner. Autsch! Unsere Hände umfassten sich über dem Tontopf. Wir sahen uns an: Dieses Licht würde heller sein, als unsere Lampe. Der fensterlose Schuppen meiner Tante könnte … wir ... wir würden eine Bande gründen. Das Blut tropfte in den Tontopf. Wilde Gedanken rasten mir durch den Kopf. Der Schuppen könnte auch Werkstatt sein, oder unsere Kommandozentrale ...
„Zum Abschluss noch drei Mal draufspucken,“ sagte Franz. „Allein wegen des Glücks und so.“
Meine Spucke hing an einem langen Faden über dem Docht, als ich ein Klicken hörte. Der Spuckefaden riss ab und blieb an meinem Kinn hängen. Franz hatte mir sein Feuerzeug unter die Nase gehalten. Ich war zurückgeschreckt, hatte mir die Knie aufgeschürft. Diese blöden kurzen Hosen. Das Benzinfeuerzeug – sein Onkel Theo hatte es ihm mal geschenkt. Franz hatte viele Onkel. Einer brachte ihm immer Schokolade mit, vom einem anderen bekam er Zigaretten. So langsam verlor selbst Franz den Überblick. Onkel Theo hatte ihm das Benzinfeuerzeug irgendwann mal in die Hand gedrückt, ihm über den Kopf gestreichelt, bevor er Franz nach draußen schickte. Seine Mutter hatte nur genickt und gelächelt, als sie die Tür zuzog. Die Mutter von Franz lächelte immer. Sie sah mich manchmal so an. So ... auch egal. War eben so. Egal! Unsere Kerze brannte. Es wurde heller und heller. Nie hatten wir den alten Schuppen so ... in seiner kompletten Größe gesehen. Da waren Tische und gestapelte Stühle. Das, was wir im Halbdunkel immer für einen alten Kessel gehalten hatten, war ein Sulky – Franz kannte sich aus. Da saßen die Jockeys drin – beim Trabrennen. Wir stellten uns vor, wie wir unsere Bandentreffs in dem Schuppen abhalten würden. Franz warf die Haarsträhne aus dem Gesicht und rüttelte an den Schlössern eines alten Überseekoffers. Die Spitze seines Messers kratzte am Verschluss. Wir fanden das alte Radio zwischen sorgfältig eingelagerten Kleidungsstücken. Hörten schon im Geiste die Musik der Bigbands. Amerika.
Wir fühlten uns stark und spürten den Ruf der großen, weiten Welt. Ich sah plötzlich dieses Leuchten in den braunen Augen von Franz, als er mit der Zunge schnalzte, die Hüfte schwang und den Takt von schneller Tanzmusik auf einer Holzkiste anschlug. War das Swing? Davon hatte ich gehört. Man tanzte ihn in Clubs und verruchten Lokalen.
Verrückt. Franz tanzte. Da, in diesem Augenblick wusste ich, an wen Franz dachte. Da war dieser merkwürdige Ausdruck in seinem Gesicht. Den hatte er immer, wenn Gerda ihm über den Weg lief. Gerda, mit der Stimme und dem Gang von Marlene Dietrich. Die Hand von Franz verschwand in der Hose und blieb dort. Er verdrehte die Augen. Da war doch noch ... der Wagen von der Rennbahn. Ich verzog mich in den hinteren Teil des Schuppens.
Plötzlich horchten wir auf. Ein Wirrwarr aus Geräuschen. Gleichmäßig stampfende Schritte. Wir hörten Stimmen wie in einer Wartehalle. Dann Gelächter und Musik. Ich wollte gerade ... Aber hier war doch niemand sonst. Franz hielt mir den Mund zu. Er trat die maroden Schichten aus Sand und Staub immer wieder gegen das Licht. Franz ließ mich los. Unsere Schuhsohlen schabten jetzt gemeinsam über die Dielen wie ein Streichholz über die Zündkante. So fest, dass wir uns kaum noch sahen. Durch den aufgetürmten Staubhügel schimmerte das Licht weiter. Da waren die Stimmen, das Gelächter, die Schritte ... direkt um uns. Alles schien ineinander zu fließen, war wie die braune Masse im Topf. Es war, als hätte sich auf einmal alles über dem Topf gebündelt. Die Stimmen waren jetzt um uns herum und krochen in uns hinein. Es roch nach Schwefel. Ein Hämmern in meiner Brust. Ich suchte den Metallbeschlag und den Riegel vom Tor. Schob ihn auf und presste mich gegen das Holz. Die Abendluft kroch am kalten Spalt entlang. Ich fühlte den Atem von Franz im Nacken. Draußen war es still. Nur die einsame Laterne am Ende der Straße vor der Kaserne. Ein Frösteln durchzog meinen Körper. Meine Knie zitterten. Ich atmete durch, biss die Zähne zusammen, lauschte in den Schuppen. Es hallte, wie in einem Schiffsrumpf, da war der stählerne Takt einer Maschine, die Musik, das Lachen, laute Schritte. Raus. Fast gleichzeitig stürzten wir hinaus. Wir fielen hin. Verwirrt. Richteten uns immer wieder auf, stießen gegeneinander und sahen, sahen wie das Licht im Schuppen hinter uns weiterflackerte. Zart, es war nur noch sehr schwach. Ich hatte die Schritte noch im Ohr, die Stimmen, hörte das Hämmern und Pochen. Ich holte tief Luft. Vergaß das Ausatmen. Ich schluckte. Die Luft schmeckte bitter.
„Das Licht. Unser Licht. Das Ewige ...“, rief Franz mir zu, als er hinter der Hausecke verschwand.
Das Licht. Es brannte auch am nächsten Abend und an den vier Abenden darauf. Schwach, aber ich sah es von der Ecke hinter der Laterne. Ich ... ging nicht mehr zurück in den Schuppen. Ich wartete. Wartete auf Franz. Gestern und vorgestern und am Abend davor. Er kam nicht. Ich wartete nicht mehr. Bin weggegangen.
Die Zeit. Die ganze Zeit.
Vorsichtig schiebe ich den Sandhügel mit der Schuhkante beiseite. Im Strahl meiner Taschenlampe liegt das kleine Tongefäß, umgestülpt, auf dem Boden. Es ist Spätherbst und kalt. Die Spucke läuft mir am Kinn herunter, fast wie damals. Nur dass ich jetzt ein sabbernder alter Mann bin. Stehe hier und habe nicht vergessen. Habe mich die ganzen Jahre über gefragt, ob von der Schokolade auch etwas in dem Tontopf war. Ich hebe das Gefäß auf – umschließe es mit meinen Handflächen. Ein schwach leuchtender Punkt ... das Licht im braunen Ton. Ich höre ... Ich höre Franz.