Der himmelblaue Schmengeling
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Düstere Zeiten | November 2010
Die Krähe Karoline
von Johanna Sibera

Natürlich hatte Tierarzt Johannes auch Tasso behandelt, Sebastians Hundefindling mit der unsteten Seele. Sebastian hatte Talent für Funde dieser Art. Und Tasso war ja nicht das erste Tier, das auf diese Weise in Sebastians Leben gelandet war. Es gab da drei Katzen und eine flugunfähige Krähe; aber die konnte super leben mit ihrer Behinderung, in dieser komfortablen Riesenbehausung in der umfunktionierten Veranda. Die lebte wohl besser dort als ihre Kollegen, die in der Kälte auf kahlen Ästen sitzen und um ihre Nahrung streiten; sich noch dazu Totenvögel schimpfen lassen müssen von den vertrottelten Menschen, die keine Ahnung haben wie klug und sensibel Krähen sind. Außerdem wurde die Krähe Karoline medizinisch hervorragend betreut von Johannes. Der wiederum war Sebastians bester Freund und schaute auch nach den anderen Tieren. Sebastian und Johannes hatten eine echt gute Freundschaft, die was aushalten hätte können bei Bedarf, aber der Bedarf war ohnehin nicht gegeben.

Sebastian hatte auch Lydia gefunden, an einem von hässlichem Eisregen verunstalteten Spätherbstabend, an einem dieser Mistwettertage, an denen es nur Tasso schaffte, ihn vors Haus zu locken. Mit ihren leichten Ballerinas – die noch dazu Löcher in den Sohlen hatten, was sie ihm, süß und dreckig lachend, erst später erzählt hatte - war Lydia direkt vor ihm am Gehsteig ausgerutscht und vor seine Füße gefallen. Er half ihr auf, tadelte freundlich und mit gewählten Worten ihr unpassendes Schuhwerk und verfing sich gleichzeitig in ihren dunklen Hungeraugen wie in zwei Metern Stacheldraht. Sie hätte gerade ihren Dreißiger feiern können, aber wie üblich war ihr nicht nach Feiern. Dann waren sie plötzlich verheiratet; gleich oder gar nicht, so war Lydia eben. Sebastians Trauzeugen, den Tierarzt, lernte sie erst am Standesamt kennen, irgendwie hatte es sich vorher durch die Schnelligkeit des Entschlusses nicht ergeben. Auch Johannes kippte in ihren Augenschlund, man kam nach ihren Augen sozusagen gar nicht mehr zum Rest dieser Frau, obwohl ja der faktisch auch nicht ganz schlecht war. Plötzlich hatten ihm die Worte gefehlt, aber er musste ohnehin nichts sagen. Er wusste auch gleich, da brauchte er gar nicht lange mit ihr reden, dass sie eine war, die eher unter der Brücke schlafen würde, als ihre Ideen zu verraten, Ideen auf den verschiedensten Gebieten des Lebens. Fleisch aß sie ohnehin nicht, kein Tier, das „Mama“ sagen konnte, also sowas wie Lammrippen oder Kalbsbraten, Fisch ging noch. Johannes und Lydia wurden dann auch die besten Freunde, aber man darf auch beim Gedanken an die beste Freundin an den Rand des Atemstillstandes geraten; kann ja keiner verbieten.

Ein paar Jahre waren alle gesund, die Krähe, Tasso und die Katzen, dann Sebastian nicht mehr. An einem strahlend blauen Sommertag wurde Lydia Witwe.

Johannes hatte inzwischen seine Kollegin Nora geheiratet. Scharf war er eigentlich, ohne viel darüber nachzudenken, schon immer auf sie gewesen, auf diese lange schöne Blonde. Sie waren in eine andere Stadt gezogen, wohl in der Nähe, und hatten sich mit dem Aufbau einer neuen, größeren Praxis beschäftigt. Besessene Idealisten, seien sie, das sagten ihnen Freunde von Zeit zu Zeit, aber wer hört schon auf Freunde? Irgendwie war ihnen über der Arbeit ihre Liebe ins Out geraten, das Scharfsein aufeinander auch. Und dann war alles vorbei. Fing sich etwas mit einem albanischen Pferdepfleger an, die Nora, auf dem Gestüt, das sie als Veterinärin betreute. Johannes war wieder allein. Nein, das nicht, er hatte ja seine Tiere, seine Patienten. Aber warum hatte es denn ausgerechnet ein Albaner sein müssen? Und ein Pferdepfleger? Und überhaupt? Ein Verlassener darf sich solche Gedanken erlauben, Johannes dachte sie natürlich nicht nur, brüllte sie raus, wann immer die Gelegenheit am wenigsten passend war. Irgendwann wurde es besser.

Er war in der neuen Praxis geblieben, die jetzt auch nicht mehr gar so neu war. Und da erscheint an einem nieselkalten Novembermorgen jene Frau, die in seiner Erinnerung klebt wie ein altes Karamellbonbon im Hosensack, die er aber nun so lange Zeit nicht gesehen hat. Gleichzeitig blickt er in ein trübes Vogelauge und weiß, dass die Krähe Karoline jetzt nicht mehr gesund ist, und sehr bald weiß er auch, dass da trotz seiner heftigen Bemühungen nichts mehr zu machen ist.

Er muss die Krähe einschläfern. In ihrem Vogelleben ein großes, kräftiges Tier, scheint sie nun filigran und zerbrechlich, als sie so da liegt, ein zarter Balg im schwarzen Federkleid, violette Vogelhaut schimmert rührend durch. Lydia weint und weint. Johannes hat sie des Öfteren weinen sehen, sie war die Frau seines besten Freundes gewesen, beim Begräbnis waren sie nebeneinander an seinem offenen Grab gestanden, aber weiß der Teufel wieso, alles was Johannes damals wahr genommen hatte, war diese fast respektvolle Distanz zwischen ihnen. Lydia hatte einen schwarzen Hut getragen, einen eleganten großen Hut, der fast frivol ihre unnachahmlichen Augen betonte; ihre Absicht war das sicher nicht gewesen. Gleichzeitig hatte dieser Hut auf seltsame Weise einen unüberbrückbaren Abstand zu seiner Trägerin geschaffen, da war nicht rüber zu kommen, über diesen momentanen Abgrund.

Heute hat sie keinen Hut auf. Überhaupt scheint sie, sichtlich achtlos, nach den nächstbesten Kleidungsstücken gegriffen zu haben, die sie gefunden hat. Sie trägt ein dünnes T-Shirt und hoch gekrempelte Baumwollhosen, die auch schon bessere Tage gesehen haben. Das ganze Gewand ist für die Jahreszeit viel zu kalt, das ist das auffallendste, und zugleich völlig uninteressant. Außerdem ist sie barfuß, das ist, wie er Lydia kennt, gar nicht seltsam; sie ist keine von diesen Tussis, die für jede Gelegenheit im Kalenderjahr die dreifache Schuhwahl haben. Johannes fragt ja auch nicht, wirft vielleicht einen längeren Blick auf ihre großen, schmalen Füße; er mag ihre Füße, und die ganz besonders, fällt ihm jetzt gerade ein, hebt es sich aber für später auf. Und sie hat sogar eine Entschuldigung parat, weinend, obwohl er gar keine Entschuldigung will, barfüßige Frauen brauchen seiner Ansicht nach niemals Entschuldigungen. Beim Aussteigen aus ihrem Auto ist sie in eine undefinierbare, aber ziemlich übel riechende Substanz getreten, er sagt, dass man das gemeinhin einen Hundehaufen nennt und für einen Tierfreund ist das ja nichts Besonderes und für einen Tierarzt schon gar nicht. Und sich daraufhin der Schuhe zu entledigen ist völlig normal und Socken hat man eben in so einer Zwangslage auch nicht immer an.

Johannes bedeckt die tote Krähe, die Karoline geheißen hat, mit einem Tuch und legt sie vorsichtig in ihren Transportkäfig zurück. Lydia weint, sie ist eine Frau, der die rotzige, rote Nase beim Weinen egal ist und egal, dass sogar Riesenaugen zu lila Schlitzen werden können im Tränenbad.

Sie hatte ein schönes Leben, die Krähe, sagt Johannes. Und dass sie ja von Anfang an etwas geschädigt war, Lydia hätte es nicht besser machen können, mit der Haltung und der Pflege. Und dass sie in Freiheit überhaupt keine Chance gehabt hätte. Er kommt sich salbungsvoll vor, ein Leichenredner, ein schlechter noch dazu, ein unvorbereiteter. Tiere einschläfern gehört zu seinem Beruf, euthanasieren heißt das jetzt, das macht die Sache nicht besser, und nie ist er vorbereitet auf das Reden nachher, auf das Trösten der verwaisten Tierbesitzer, nie wird er es sein, auch wenn er den Job noch hundert Jahre macht.

Sie sei das Lieblingstier von Sebastian gewesen, sagt Lydia. Da gibt es nichts zu erwidern, es ist die Wahrheit. Natürlich weint Lydia nicht nur um die Krähe, um Sebastian weint sie und um sich selbst, um ihn, den armen Tierarzt, kann sie auch weinen, da wartet noch viel auf sie, sie wird noch oft weinen müssen, allumfassend, um verlorene Chancen und um solche, die noch aufrecht sind, aber sicher wieder nicht ergriffen werden, wenn man sie nicht bald ergreift, gleich ergreift. Er weiß, dass er verdammt einmal jetzt etwas sagen muss, etwas aussprechen, was er bislang immer nur gedacht hat, etwas benennen, wofür er niemals einen Namen gehabt hat; was in ärgster Gefahr gewesen ist, vergessen zu werden, und was er jetzt dem Vergessen entreißen muss.

Ich werde Karoline hier behalten, sagt er. Und morgen komme ich zu dir und wir machen im Garten ein Begräbnis für sie, trotz des gefrorenen Bodens, wird schon irgendwie gehen.

Ja, sagt Lydia, die nicht versucht, mit ihrem Weinen aufzuhören, wenn er es so wolle, würden sie es so machen. Dass er sie ohnehin in der nächsten Zeit einmal besucht hätte, sagt Johannes. Und dass der Anlass eben jetzt ein verdammt trauriger sei, düstere Zeiten für eine kleine tote Krähe, aber sie würden etwas Gutes daraus machen, sie würden sich feierlich von Karoline verabschieden. Und nachher etwas trinken.

Lydia geht auf ihn zu und fällt in seine Arme, sucht seinen Mund, das haut ihn beinahe um; gierig wirkt das und unglaublich zärtlich, und zugleich irgendwie erschöpft, als wäre da nicht nur ein Suchen nach Lust, sondern auch nach Erholung, sie flüchtet in seinen Mund, rettet sich hinein, er selbst hätte schreien mögen vor Freude.

Und dann muss er sie doch noch etwas fragen:
„Sag einmal - hast du noch diesen herrlichen schwarzen Hut?“

Letzte Aktualisierung: 24.11.2010 - 21.15 Uhr
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