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Düstere Zeiten | November 2010
Schweres Los
von Farida Halib

Mit gesenktem Blick und schweren Schrittes schleppte Beppe sich über die schmutzigen Trottoirs von Milano. Die Hinterlassenschaften der Stadthunde lagen gut verteilt auf seinem Wege, und er musste unwillkürlich daran denken, dass er „una vita di merda“ führte ... ein Scheißleben.

Vier Monate waren verstrichen seit Tiziana ihm den Rücken gekehrt hatte. Sie wollte heiraten, hatte ihm ein Ultimatum gesetzt. Nie hätte er für möglich gehalten, dass sie ihn tatsächlich verließ. Er könne die Verantwortung für eine Familie noch nicht übernehmen, hatte er ihr erklärt und mit ihr über die schlechte Arbeitslage gesprochen. Im Grunde wünschte auch er sich eine Familie. Vor Jahren schon hatten sie gemeinsam Luftschlösser gebaut. Sie wollten einen Sohn, ein kleines Häuschen im Grünen, einen Hund. Stattdessen ...

Vor drei Monaten hatte sein Chef zu wiederholen begonnen: „Beppe, tu mi costi troppo!“. Dass er ihn zu viel koste, dass er ihn sich nicht mehr leisten könne, war für Beppe zur spaßigen Devise geworden, und er hatte diesen Sprüchen nie Bedeutung zugemessen. Denn, wie sollte eine Pizzeria ohne Pizzaiolo funktionieren? ... „Ahimè funzionava!“ - Er hatte ungläubig von der Straße durch die erleuchteten Scheiben des Restaurants gestarrt. An seinem Pizza-Ofen machte sich ein Farbiger zu schaffen. Was der wohl vom Pizzabacken verstand? Er hatte sich ohne Zweifel darauf eingelassen, schwarzzuarbeiten. Die Beiträge hatten seinen Chef schon lange gedrückt ...

Beppe wich einer Reihe von Büroangestellen aus, die in der Einheitstracht mit Krawatte, Anzug, steifgebügelten Hemden und harten Markenlederschuhen die Straßenbahn verließen und an ihm vorübereilten, ihrem Zuhause oder abendlichen Geschäftsterminen entgegen. Beppe wurde sich jäh bewusst, dass man nirgends mit seiner Ankunft rechnete, weder am Arbeitsplatz noch zuhause.

Wenn sich nicht bald eine Lösung fand, würde er in Kürze auch kein Zuhause mehr haben. In einigen Tagen war die Miete für seine schäbige Ein-Zimmer-Wohnung fällig, und ihm war schleierhaft, woher er die Summe nehmen sollte.

Er stand am Straßenrand und wartete, dass die Ampel auf Grün umsprang. In seine düsteren Gedanken versunken, setzte er sich daraufhin in Bewegung. Eine Vespa knatterte nur ganz knapp an ihm vorbei. Als er aufschreckte und dem mörderischen Fahrer nachschaute, staunte er, wie dieser sich durch die von rechts und links heranrollenden Autofronten schlängelte und dabei noch eine ungebührliche Geste zustande brachte. Der hochgereckte Mittelfinger bedeutete Beppe, dass er den mailändischen Verkehrskünstler in seinem lebensgefährlichen Spiel behindert hatte.

Beppe ging zum zigsten Male gedanklich die Restaurants durch, die eventuell einen Pizzabäcker benötigten. Wie es schien, brauchte während dieses ungastlichen Novembermonats niemand einen Pizzaiolo oder war bereit, einen einzustellen.

Tauben pflasterten die Piazza del Duomo wie ein wirres, unstetes Mosaik, das sich Beppes Route nicht beugen wollte. Beim genaueren Hinschauen bemerkte er, dass die Gefiederten schmierig-ölig waren und Geschwülste an Schnabel und Krallen aufwiesen. Sie zeigten keinerlei Scheu vor den Menschen. „Degenerati!“, entfuhr es ihm ganz ungewollt und heftig, worauf er den feindseligen Blick des Mais-Verkäufers erntete, der seinen Lebensunterhalt diesen Geschöpfen verdankte. Beppe wandte sich ab und hob unwillig den Kopf über die aufdringliche Taubenhorde, wobei er die goldene Madonnina auf dem Dom mit einem flüchtigen Blick streifte. In alten Zeiten war ihr der höchste Ausblick auf Milano vorbehalten, jetzt wurde sie von der Mehrzahl der Häuser überragt. Ja, damals hätte es vielleicht noch einen Sinn ergeben, Trost hinter dem Kirchenportal zu suchen, dort ein Lichtlein zu entzünden und mit einem Hoffnungsschimmer wieder auf den Domplatz hinauszutreten. Aber die teuren Führungen, die dort täglich angeboten wurden, die allgemeine Korruption, von der man fortwährend erfuhr, ließen eine solche Initiative in seinen Augen als Selbstbetrug erscheinen.

Angeekelt wandte er sich den Arkaden unter den historischen Gebäuden zu. Dort strahlten die Weihnachtsdekorationen aus den hellerleuchteten Schaufenstern. Er warf im Gehen nur einen Blick auf die irrsinnigen Preise der dargebotenen Waren und zählte dann die Bettler auf seinem Wege, die sich im Schutz der Arkaden auf dem Boden niedergelassen hatten: Alte Menschen, Krüppel, Betrunkene mit Hunden und ohne. Würde er sich demnächst hier einreihen müssen, wenn er überleben wollte?

Er floh schnellstens vor diesen trostlosen Bildern, die durch die glanzvolle Beleuchtung der teuren Geschäfte noch roher wirkten. Er fröstelte. Die kaltfeuchte Abendluft und die Dämmerung schienen ihm unter die Kleidung in die Knochen zu kriechen. Als er die verkehrsberuhigte Zone verließ, mischte sich die kalte Luft mit den Abgasen der im Stau stehenden Autos und das klebrige Gemisch waberte über die schmalen, schmutzigen Gehwege.

Einem plötzlichen Impuls folgend, betrat er einen kleinen Tabakladen und kaufte ein Los. Den Euro fischte er mit klammen Fingern aus seiner Geldbörse, deren Inneres eindeutig bessere Zeiten gesehen hatten.„Gratta e vinci“, „Kratze und gewinne“, stand auf dem kleinen Papierchen. Er war sich bewusst, dass er gerade einen Euro zum Fenster hinausgeworfen hatte, erinnerte sich, dass er eine solche Handlung immer den Verzweifelten, den Träumern zugeschrieben hatte. Nun gehörte er selbst zu den Hoffnungslosen. Er machte sich deshalb auch nicht die Mühe, eine weitere Münze aus dem Portemonnaie zu holen und die wohlbekannte Geste nachzuahmen, die er so häufig bei Kindern wie bei Erwachsenen beobachtet hatte. Dieses emsige Kratzen mit der Münze, bei dem die goldene Schicht von dem Los abkrümelte, um regelmäßig ein „Riprova!“, „Versuch´s noch einmal!“, zu offenbaren.

Er schloss das Emblem der Verzweifelten in seine linke Faust und suchte nun schleunigst einen wärmeren Ort, denn die Kälte wurde allmählich widerwärtig.

Als der leuchtende Buchstabe „M“ der Metropolitana ihm ins Auge fiel, beschloss er, die Treppen zur U-Bahn-Station zu nehmen, wo es sicher wärmer sein würde. Er führte ganz automatisch sein letztes Ticket in den Schranken-Automaten ein und begab sich die Treppen, die zu den Bahnsteigen führten, hinab.

Am Ende der Treppenflucht erblickte er eine junge Frau, die mit ihrem etwa vierjährigen Sohn auf einer Stufe saß und den Passanten die offene Hand entgegenstreckte. Ja, auch sie hatte das Glück verlassen, dachte er, als ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er nestelte in seiner Jackentasche nach dem Geldbeutel, wobei er sich des mittlerweile festgeklebten Loses in seiner geschlossenen Hand erinnerte. Er reichte der Frau seine letzte Münze und dem Jungen, der sein Sohn hätte sein können, das Los. Die junge Frau nickte und bedankte sich tonlos. Der Kleine nahm ihr sogleich die Münze aus der Hand und, die kalten Stufen als Unterlage nutzend, begann er, die Gold-Schicht vom Los zu kratzen.

Beppe ging ganz mechanisch auf die einfahrende U-Bahn zu. Auf den großen Bildschirmen am Bahnsteig lief ein Werbespot für eine Immobilienfirma, die Häuschen im Grünen anbot, untermalt von einer hübschen Melodie. Als die Bremsen quietschten und sein Körper auf den schmutzigen Gleisen aufschlug, hatte er bereits das Dasein des Verzweifelten hinter sich gelassen und kein „Riprova!“ würde ihm mehr
angetragen werden.

Während sich eine Menschentraube um den leblosen Körper bildete, stand der Vierjährige erstarrt auf dem Bahnsteig. Er war seinem Gönner nachgeeilt, hatte ihm mitteilen wollen, dass auf dem Los in goldenen Lettern etwas von 10 Euros mit noch ganz, ganz vielen Nullen geschrieben stand! Schließlich ließ er seine Hand mit dem Los sinken und flüsterte nur ein „Grazie ...“ in den Tumult.

Letzte Aktualisierung: 23.11.2010 - 19.58 Uhr
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