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Düstere Zeiten | November 2010
Hell´s Kitchen
von Jochen Ruscheweyh

„Ich kann so nicht weitermachen, Martin.“
Sandra schloss die Augen und klammerte sich an ihr Mineralwasser.
„Und wenn ich dich darum bitte? Wir müssen es wenigstens versuchen!“
„Hör zu, ich muss gar nichts, verstehst du?“
Ich nickte langsam.
Ein Barmann polierte Weingläser hinter dem Tresen. Er schien nicht besonders bemüht, seine Neugierde an unserer Unterhaltung zu verbergen.
Ich spielte mit der Weinkarte. „Chez Maxim“. Was für ein Name für ein Lokal, dessen Angestellte alles andere als französisch aussahen.
Der Barmann sprühte Reiniger auf die Arbeitsflächen.





Die beißende Chemikalität des Putzmittels, mit dem Big Bad Mama immer die Tische abrieb, hing noch in der Luft, begann aber bereits, sich mit dem allumfassenden Fettgeruch, der im Hell´s Kitchen vorherrschte, zu vermengen.
Ein neuer Versuch. Wie die Male zuvor wusste ich, dass ich auch diesmal scheitern würde.
„Sandy“, nickte ich ihr zu.
„Ach, du Matt. Nich´ mehr on the road?“
Sie zog einen Block aus ihrer Schürze.
„Kann man so sagen.“
„Was willst du?“
„Dich“, sagte ich.
Sie verzog das Gesicht und neigte ihren Kopf zur Seite.
„Komm schon, Matt. Du weißt, dass ich n´ Kerl hab. Außerdem dreht Bad Mama jedes Mal komplett durch, wenn uns die Gäste anbaggern.“
Ich hasste mich dafür, weitermachen zu müssen.
„Und wenn ich jetzt etwas ganz Abgefahrenes täte, um dich zu beeindrucken?“
Sie lachte.
Die Dinge verkomplizierten sich.

Big Bad Mama ignorierte mich wie immer und verschwand in dem Raum, an dem das großes Schild mit der Aufschrift Privat prangte.
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.
Mit einem Satz über die Theke stand ich direkt vor Sandy.
Sie starrte mich aus weit aufgerissenen Mädchenaugen an.
„Fuck, wie hast du das denn jetzt gemacht?“
Ich fixierte einen Punkt wenige Zentimeter über der Nasenwurzel auf ihrer Stirn, wohin ich meinen Blick heftete. Dann tauchte ich meine Hand in den Behälter mit dem siedenden Frittierfett. Die Flüssigkeit schäumte wild auf. „Welcome to hell!“, grinste ich.
Einen Moment hatte sie lähmendes Entsetzen übermannt, dann riss sie mich von der Kochstelle weg.
„Bist du bescheuert, Matt, was soll die Scheiße?“





„Pass doch auf, Martin!“
Sandra schob meine Hand von der Kerzenflamme weg.
„Ich verstehe dich nicht. Du tauchst plötzlich aus dem Nichts bei mir im Laden auf und verhältst dich wie der charmanteste Mensch auf Erden. Du machst mir Geschenke und entpuppst dich als der rücksichtsvollste Liebhaber, den ich je hatte, und dann zerstörst du alles? Warum, Martin?“
Ich rieb den dunklen Kerzenruß von meiner Handinnenfläche.
„Ich will nichts zerstören, ganz im Gegenteil, ich will, dass es ... dass es funktioniert. Ich ... .“
Sie drehte sich weg und holte ein Taschentuch hervor.




Sandy nahm einen Putzlappen, feuchtete ihn unter dem Wasserkran durch und wollte ihn mir auf die Hand drücken, als sie bemerkte, dass diese nicht nur unverletzt, sondern auch trocken war.
Sie strich mit den Fingern darüber.
„Die is´ ja total kalt. Bist du ´n verfickter Magician oder was?“
„Vielleicht“, antwortete ich und schnippte mit Daumen und Zeigefinger der anderen Hand, woraufhin sämtliche Gasdüsen der Kochstelle wilde Flammen in die Luft stießen.
Ich beugte mich dicht an ihr Ohr und flüsterte: „Shake my Banta Hoe!“
„Verdammt! Woher weißt du ...?“, fragte sie, machte sich los und fing in kleinen rhythmischen Bewegungen an zu tanzen, öffnete ihr hochgestecktes Haar und warf den Kopf zurück.





Dezente Klaviermusik erklang. Gerade so laut, dass er unserer Unterhaltung noch folgen konnte.
Ich schaute zu Sandra hinüber.
Eine Träne arbeitete sich hinunter und hinterließ eine dunkle Mascara-Schleifspur auf ihrer Wange.
„Wieso hast du mir nie deine Eltern vorgestellt? Wieso weiß ich nicht, wo du aufgewachsen bist? Dich umgeben so viele Rätsel. Im Prinzip kenne ich dich gar nicht.“
Der Barmann polierte wieder Gläser. Ein südländisch wirkender Ober hatte sich zu ihm gesellt und starrte ebenfalls in unsere Richtung.
Ich schob die Weinkarte beiseite und sagte:
„Sandra, das ist alles unwichtig. Wir sind hier, aber gleichzeitig auch woanders. Wie soll ich dir das anders erklären? Es hängt miteinander zusammen. Merkst du das denn nicht?“
Der tränenverschleierte Glanz in ihren Augen war plötzlich verschwunden.
„Du erzählst mir, es gibt eine Paralleldimension, in der ich als aufgetakelte, kleine Nutte Hamburger brate und es gibt eine Prüfung, die du so lange wiederholen musst, bis du mental stark genug bist. Und die besteht darin, mich möglichst niveaulos ins Bett zu kriegen? Entschuldige bitte, aber das ist der dämlichste und verletzendste Schwachsinn, den ich mir je von einem Mann anhören musste.“
Ich nahm ihre Hand. „Weißt du, was das Wort Karma bedeutet, Sandra?“
Ihr Blick wurde hart. Sie langte über den Tisch und schob mir einen Ärmel hoch.
„Martin, warum hast du dir deine Arme mit Flammen zutätowieren lassen?“
„Weil es mich an ... verdammt, Sandra, verstehst du nicht? Nur alles zusammen ergibt ein Ganzes. Wenn ich nicht lerne, diese Seite von mir zuzulassen, dann wird es nicht funktionieren.“





Sandy schob ihre Armreifen über das PinUp-Girl, das ihren Unterarm zierte. Ein Geräusch. Ich duckte mich, tauchte ab, unsichtbar, hinter der Großküchenzeile. Schritte. Türöffnen. Klirren von Glas. Ich sah Big Bad Mama buchstäblich vor mir: Tequila aus der Flasche und Koks vom Handrücken. Wenn ihr eins heilig war, dann ihre mexikanische Pause. Mir blieben nur noch wenige Augenblicke.
Ich schnellte hoch und zog Sandy so fest an mich heran, dass ihr Becken gegen mich knallte. Simultan verbiss sie sich in meiner Lippe.
Ein weiteres Geräusch ließ mich aufhorchen. Big Bad Mama nieste im Lagerraum. Dann wieder Flaschenklirren. Gut! Ihr zweiter Shot verschaffte mir noch ein wenig Luft.
Ich machte mich los und spuckte etwas Blut von meiner Lippe. Es war Zeit für meinen Trumpf. Gott, wie ich mich vor mir selbst ekelte!
„Lass uns ein Kind entführen, eine Familie gründen und vor Glück explodieren!“, sagte ich.
„Scheiße“, keuchte Sandy, „Ich will sie selbst machen. Ich hab´ in zehn Minuten Schluss. Warte draußen. Oh Gott, ich bin so verdammt ... .“
Ich wusste, dass ich sie hatte, als sie an meiner Hose knete. Aber ich hatte mich nicht.
Ich stieß sie weg. Alles verlogen. Unecht.
Sandy öffnete den Mund. Es hätte ein „Aah!“ oder ein „Ohh?“ werden können, ein Verstehen, vielleicht ein Realisieren, wäre nicht vorher Big Bad Mamas doppelläufige Benelli hinter mir detoniert und hätte mich schräg gegen die Kochstelle geschleudert. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie mein Blut von ihrem Dekolleté wischte.
„Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, du und dein Bastard von Vater sollt meine Mädchen in Ruhe lassen!“, krächzte Mamas alkaloid-gepushte Stimme.





Der Kopfschmerz ließ mich meine Hand zurückziehen.
Sandra nahm einen Geldschein aus ihrer Börse und klemmte ihn unter ihr Glas.
„Rosalie liebt dich abgöttisch. Ich weiß, sie wird mich hassen, aber ich kann so nicht weitermachen. Ich habe Angst vor dir, Martin. Als Mutter muss ich Rosalie schützen, auch wenn sie es nicht verstehen wird.“
Sie stand auf und sagte:
„Hast du schon mal daran gedacht, dass manche Dinge gut so sind, wie sie sind?“
„Sandra ...!“
„Ruf mich bitte nicht mehr an und komm auch nicht in den Laden. Auf Wiedersehen, Martin.“

Kurz nachdem sie gegangen war, trat ich auf die Straße. Ich zog meinen Mantelkragen hoch. Mir war kalt. Ein Schauer ging nieder.





Der Regen spülte mir das Blut ab, als ich dort vor dem Hell´s Kitchen lag. Durch den dichten Niederschlag sah ich ihn schräg gegenüber, an eine Litfasssäule gelehnt, mit einem grauen Trenchcoat bekleidet. Er hatte abgenommen. Stand einfach nur da und machte keine Anstalten, mir aufzuhelfen. Wahrscheinlich hatte er sogar beobachtet, wie Mama meinen mit Blei gepuderten Körper hier hin geschleift und liegen gelassen hatte.
Wie ein bizarrer Applaus hallte sein langsames Klatschen durch Straße, nun spärlich beleuchtet, nachdem die Neonschrift des Hell´s Kitchen erloschen war.
„Das hast du gründlich vermasselt, gratuliere!“, sagte er.
Aus einem Kanaldeckel neben ihm quoll weißlicher Nebel, der seine Beine bis zur Hüfte einhüllte.
Er öffnete seinen Mantel. Ich kroch hin und zog mich an ihm hoch.
Es tat gut, sich an ihn zu lehnen. Ich fühlte den weichen Flaum, der seine muskulöse Brust bedeckte.
„Bist du jetzt böse?“
„Nein“, antwortete er, „eigentlich nicht.“
„Was kann ich jetzt tun, Vater?“, flüsterte ich.
„Dinge geschehen einfach. Manchmal. Komm jetzt, es wird langsam dunkel.“
„Die Sonne ist doch schon vor Stunden untergegangen“, sagte ich.
Unter meiner Berührung verlor seine Brust plötzlich ihren tiefroten Farbton und wurde bleich wie Kreide. Dann verschwanden sein Kinnbart, die spitzen Ohren und die Hörner.
„Du hast mich getäuscht, Vater!“, schrie ich und stieß ihn weg. Ihr beide habt mich getäuscht. Wer bist du?“
Ich taumelte, fand meine Orientierung wieder, packte und schüttelte ihn und schrie: „Wenn du Gott bist, dann kannst du alles wieder in Ordnung bringen, nein, du musst.“
Seine Augen funkelten.





Sie waren zum Rauchen herausgekommen, standen auf dem Parkplatz des Chez Maxim und ich sah die Glut ihrer Zigaretten aufleuchten: Der Barmann, der Ober und jemand aus der Küche, der eine Einwegkochmütze trug.
„Was wollt ihr?“, brüllte ich. „Habt ihr noch nicht genug gesehen, ihr verdammten Spanner?“
Einer öffnete den Kofferraum des Wagens, an dem sie lehnten. Ich spürte die Hiebe ihrer Baseballschläger nicht, nur eine alles überwältigende Liebe.

Mama, Vater, Sandra, Rosalie.

Vater hatte recht gehabt. Es wurde langsam dunkel.

Letzte Aktualisierung: 11.11.2010 - 12.17 Uhr
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