Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Düstere Zeiten | November 2010
Ein Novembermorgen anno 2010
von Mai Britt Puder K.

Der Morgen verbarg sein Lächeln hinter milchig grauem Einheitshimmel; vielleicht war ihm auch das Lächeln endgültig entglitten, ob der Trostlosigkeit die ihn umgab. Das Silbergrau der Straße glänzte von der Nässe des nächtlichen Regens. Der Sturm trieb scheppernd eine leere Konservendose über den Asphalt; er hatte sie einer umgekippten Mülltonne entwendet. Irgendwann endete das Scheppern an der Bordsteinkante verkantet in einem Gulli. Eine relative Stille schlich sich in das Nebelgrau, ummalt von einem gleichmäßigen Pfeifen des Windes.
In der Ferne klapperten Stöckelschuhe auf Trottoirsteinen.
"Da geht jemand zur Arbeit," dachte sie wehmütig, atmete tief ein und gab die Luft stoßweise unter Rasseln wieder frei. Ihre Lungen brannten mit jedem Atemzug die Angst vor dem erneuten Atmen tiefer in ihr Empfinden.
Morgen würde endlich ihre Stütze auf dem Konto sein und sie konnte endlich Geld abheben und endlich neues Antihistamin und Lebensmittel kaufen. Diesen Monat war es eng geworden, sehr eng. Schon seit einer Woche - sonst waren es mal ein oder zwei Tagen - lebte sie von Haferflocken mit Zucker und Milch. Haferflocken mit Wasser übergossen, waren ihr Frühstück gewesen, denn aus der Milchtüte hatte sie gestern abend die letzten Tropfen gepresst. Den letzten Zucker hatte sie gestern zum Frühstück aufgebraucht. Jetzt waren die Haferflocken ebenfalls ein Stück Ernährungsgeschichte.
Die Arztbesuche kosteten Geld, auch wenn es weitgehend nur das Fahrgeld war, auf dem sie hängen blieb. Es war der Kontrollbesuch für das Chronikerprogramm, der das Loch gerissen hatte. Ihr Hausarzt konnte gar nicht schnell genug die Überweisung zum Lungenspezialisten ausstellen, so schlecht ging es ihr - seiner Meinung nach. Und in Zukunft solle sie doch bitte früher kommen, schon, wenn es ihr noch nicht so schlecht ginge. Sie hatte geschwiegen, nichts davon gesagt, dass ihr Geld nicht gereicht hatte, um zum Arzt zu fahren. Wie gern wäre sie sofort zum Arzt gegangen. Der Weg war zu Fuß nicht mehr möglich gewesen, vor allem bei diesem regnerischen Wetter, dass ihr Asthma aufblühen liess und die Wege qualvoll in die Länge zogen. Die Fahrtkosten zum nächsten Lungenarzt waren eine schlechte Investition gewesen. ZweiTermine voll gepackt mit Untersuchungen; zweimal Fahrtkosten! Sie dürfte kein Asthma haben, sie sei gegen nichts allergisch. An den Lungen hätte sie auch nichts, da sei nichts zu hören. Sie sei doch nur hysterisch und sollte sich um eine Psychotherapie bemühen. Das war das Resultat. Ihr Hausarzt hatte ein Kortisonpräperat verschrieben und einen Termin bei einem Diagnostikzentrum gemacht, um die Lunge zu röntgen. Sie konnte wenigstens dafür sorgen, dass der Termin Anfang des neuen Monats lag, denn das Diagnostikzentrum lag fast zwanzig Kilometer weg; da war zu Fuß gehen keine Option mehr.
Von der ARGE lag auch noch eine Vorladung da; heute musste wieder antanzen und acht Bewerbungen vorweisen. Das hatte ebenfalls gekostet, denn die Druckerpatronen waren leer gewesen, nach deren Neuwerb sie vollends pleite war. Die Alterschwäche ihres Druckers hatte ihr die Arbeit erschwert, sie fast zum Wahnsinn getrieben. Ihr Papiervorrat war bis zm Nullpunkt geschrumpft. Hoffentlich hielt er noch eine Weile durch.
Sie musste sich beeilen, denn der Fußweg zur ARGE nahm für sie gut zwei Stunden in Anspruch. Um zehn Uhr musste sie da sein, jetzt war es sieben Uhr. Durch Sturm und Regen, mit wasserdurchlässigen Schuhen und ohne Regenschirm; dem hatte der Sturm beim letzten Arztbesuch übelst mitgespielt.
Nass und durchfroren sass sie im Warteraum. Neun Uhr fünfundvierzig war sie im Amt, zehn Uhr Termin - zwölf Uhr dreißig war sie an der Reihe. Ihre Haare waren getrocknet, ihre Kleidung klam, sie selbst durchfroren.
Ihr Gegenüber: Kaum älter als sie selbst, modebewußt und selbstsicher bis zur Überheblichkeit.
Die Bewerbungen wurden inhaltlich kaum eines Blickes gewürdigt, dafür ihr Aussehen. So könne man ja auch nicht erwarten, dass man einen Job bekomme. Das war ja nur billiges Papier und die Bewerbungsmappen entsprachen nicht den Anforderung.
Und erst ihr Aussehen. So könne man ja auch nicht erwarten, dass man einen Job bekomme. Seit Monaten nicht beim Frisör gewesen, die Kleidung abgetragen wie die Schuhe. Ungeschmickt. Wie sie sich das vorstelle? .
"Nächste Woche Mittwoch um 8 Uhr erscheinen sie hier mit vier neuen qualitativ hochwertigeren Bewerbungen, besseres Papier, bessere Mappen und dazu besserer Kleidung, geschminkt und sie sind beim Frisör gewesen. Sonst hat das Konsequenzen."
"Erstens," sagte sie und sie wunderte sich über ihre innere Ruhe, "am nächsten Mittwoch habe ich einen Untersuchungstermin der Lungen. Zweitens bin ich pleite und kann mir kein teureres Papier keine neue Kleidung, geschweige denn einen Friörtermin leisten."
"Sie bekommen doch genug Geld, da ist neue Kleidung miteinberechnet."
Sie lächelte müde: "Können Sie sich vorstellen von 350 € im Monat zu leben mit einer chronischen Bronchitis und Asthma. Das kostet."
"Erstens will ich mir das gar nicht vorstellen, das ist nicht mein Problem. Bin ich arbeitsscheu oder Sie? Und zweitens sind Sie ja anscheinend nicht arbeitsfähig und haben damit keinen Anspruch auf Hartz IV. Damit hat sich das Ganze ja wohl erledigt. Sie hören von uns. Auf Wiedersehen."
Irritiert erhob sie sich, verließ grußlos das Zimmer.
Auf ein Wiedersehen kann ich gut verzichten, dachte sie.
Müde, mit Tränen in den Augen stolperte sie mutlos durch den Regen, der stärker geworden war. Gerade und schwer platschte er auf das Pflaster. Sie suchte fröstelnd Schutz unter dem Vordach eines Ladens.
"Hallo, wie geht es dir?" Eine bekannte Stimme drang an ihr Ohr. Der dazugehörige Sprecher war ihr nicht so vertraut, zumindest auf den ersten Blick. Dann sah sie in das Gesicht von Jan, einem ehemaligen Kollegen.
"Du siehst auch nicht so aus, als hättest du neue Arbeit gefunden!"
Sie sah ihn müde an und schüttelte den Kopf.
Vor vier Jahren hatte ihr Firma pleite gemacht. Großmannssucht, Managementfehler und der Crash in der IT-Branche hatten sie ihres Broterwerbs beraubt. In besseren Zeiten hatten sie gemeinsam Webauftritte erstellt. Sie waren ein gutes Team gewesen und erfolgreich, denn die Kunden zogen sie den Kollegen vor. Aber sie waren die ersten, die gehen mußten. Danach hatten sie sich aus den Augen verloren, wie das im Leben so ist.
Sie war einsilbig. Dennoch spürte er, dass seine Nähe willkommen war. Nach und nach, erst wortweise, stockend, dann wie ein Wasserfall sprudelte es aus ihr heraus. Ihre ganze demütigende und verfahrene Situation. Er konnte sich gut hineinversetzen. Ihm ging es nicht viel besser. Deshalb war er hier und bettelte in den Morgenstunden, um im morgendlichen überschaubaren Verkehr Bekannten besser aus dem Weg gehen zu können. Es war nicht viel, was das Betteln einbrachte, aber es war ein Zubrot. Er brauchte dringend einen neuen Computer. Er hoffte, dann etwas hinzuverdienen zu können.
Plötzlich wurde er pragmatisch.
"Heute morgen hat jemand zu mir gesagt: Geld bekommen sie keines von mir, aber wenn sie wollen, dann spendiere ich Ihnen einen Kaffee und ein Brötchen. Ich habe dankend zugegriffen und ein gutes Frühstück gehabt. Du siehst nicht danach aus, als hättest du ein gutes Frühstück gehabt. Komm, ich spendier dir jetzt einen Kaffee und ein Brötchen. Dann gehen wir in die Apotheke und dann sehen wir weiter. Kein aber."
Er nahm sie beim Arm, zog sie zum Bäckerei-Imbißstand an der Ecke.
Nach einem warmen Kakao mit Brötchen hatten sie bereits Pläne geschmiedet. Ihr Computer tat es noch, aber der Drucker. Er hatte noch seinen guten Drucker, aber ein Problemkind, das Computer hiess. Sie wollten versuchen wieder Webseiten zu basteln und Flyer zu entwerfen. Vielleicht dazu ein paar Nachhilfestunden in Mathematik, dem beliebtesten Problemfach aller Schularten. Sie würden am Rande der Legalität beginnen müssen, wenn ihre Chance wahrnehmen wollten. Gemeinsam sind wir stark, hofften sie.
Vielleicht würden sie es schaffen aus den düsternen Zeiten des Novemberherbstes sich in ein lichteres Frühjahr im März zu begeben.
©mbpk 18.11.2010

Letzte Aktualisierung: 19.11.2010 - 10.56 Uhr
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