Ganz schön bissig ...
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Düstere Zeiten | November 2010
Und die Finsternis blieb finster
von Till Kurbjuweit

Das Jahr 1947 neigte sich dem Ende zu. „Gehst du mit zu Frau Dunkelau?“, fragte die Mutter eines Nachmittags. Natürlich wollte Martin mit. Das war die Mutter von Regi-na, und der Gedanke an das ältere Mädchen aus dem Lager machte Martin ein eigenartiges Gefühl im Bauch.
„Wo hast du denn bloß Kaffee und Kakao aufgetrieben?“, hatte Martins Mutter ge-fragt, indem sie feierlich der ersten Bohnenkaffee seit einem Jahr schlürfte.
„Von einem amerikanischen Soldaten“, erzählte Reginas Mutter. „Und mit Naturalien bezahlt.“ Martin kannte den Ausdruck nicht. „Das war in Fulda am Bahnhof, und bei-nahe wäre ich an der Grenze bei Vacha alles wieder losgeworden. Aber na ja, auch die Russen akzeptieren Naturalien“, setzte sie augenzwinkernd hinzu.

Am übernächsten Tag ging Martin allein zu Dunkelaus, um mit Regina zu spielen. Als er an der Wohnungstür klopfte, öffnete niemand. Er horchte. Drinnen war es still. Nachdem er mehrmals geklopft hatte, wurde eine andere Tür geöffnet. Eine alte Frau im fleckigen Morgenrock trat heraus. „Ich ... ich wollte zu Regina“, stammelte Martin.
„Da ist keiner“, sagte die alte Frau mit krächzender Stimme, „die sind weg.“ Mit gifti-gem Unterton fügte sie hinzu: „Einfach abgehauen.“

Enttäuscht und verdattert zog Martin wieder heimwärts. Wo konnte Regina sein? War sie mit ihrer Mutter auf Hamstertour? Wochen später sickerte durch, dass die Dunke-laus „in den Westen gemacht“ waren. Bei Nacht und Nebel sozusagen. Und nicht ein-mal Martins Mutter hatte etwas geahnt, geschweige denn gewusst.
Sie zeigte sich enttäuscht, dass Frau Dunkelau sie nicht in ihre Pläne eingeweiht hatte. So etwas plant man nicht von heute auf morgen. Da hatten sie bei Kaffee und Waffeln von Männergeschichten geredet und Pläne für die nächste gemeinsame Hamstertour geschmiedet, und diese Frau hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie am nächsten oder übernächsten Tag von der Bildfläche verschwunden sein würde.
Aber andererseits bewunderte die Mutter diese Kaltblütigkeit, und sie wusste, dass sie es genauso gemacht hätte. Dass sie es auch genauso machen würde.

Ende März, kurz vor Martins achtem Geburtstag war der Schnee endlich geschmolzen, die Erde brach auf und verströmte einen würzigen Geruch, an den er sich zeitlebens erinnern würde.
„Morgen Nachmittag müsst ihr beide zuhause sein“, hatte die Mutter angeordnet und auf die Frage „Warum denn?“ keine Antwort gegeben. Nach dem Mittagessen hatte sie Martin und Rotraut für zwei Stunden ins Bett geschickt. Anschließend hatte sie sie in die wärmsten Mäntel gesteckt und sie mit je einer Umhängetasche zur Familie Bachstein geschickt. Dort sollten sie warten. Sie würde in Kürze nachkommen.

Herr Bachstein besaß eine Möbeltischlerei und auch einen Opel P4-Lieferwagen, eins von den zwei Autos im Dorf. Am Heck des Wagens war seit Kriegsbeginn ein senk-recht stehender ofenartiger Kessel montiert, ein Holzgaserzeuger, den Herr Bachstein mit seinen Tischlereiabfällen beschicken konnte. Martin und Rotraut saßen in ihren Mänteln in der Küche, wo Frau Bachstein ihnen eine Tasse heiße Milch serviert hatte. Nach einer knappen halben Stunde kam auch die Mutter, ebenfalls mit ihrem wärms-ten Mantel bekleidet, das um den Kopf gewundene Wolltuch über der Stirn geknotet, die Umhängetasche diagonal über die Schulter gehängt.

„Also dann los!“, sagte Herr Bachstein und zog seinen abgewetzten Ledermantel an. Im Hinterhof der Tischlerei stand der Lieferwagen mit qualmendem Holzgaserzeuger. „Das Gepäck ist schon drin“, sagte Herr Bachstein, „Steigt ein.“ Martin und Rotraut mussten auf den Rücksitz krabbeln, hinter dem zwei Koffer lagen. Die Mutter nahm vorn neben Herrn Bachstein Platz. Frau Bachstein schloss das Hoftor hinter dem da-vonfahrenden Lieferwagen. Sie winkte nicht.

Die Dorfstraßen waren menschenleer. In wenigen Fenstern sah man Licht. In die zu-nehmende Dunkelheit hinein stolperte der alte P4 über schlaglöcherige Straßen hinunter ins Werratal. Unten angekommen, bog Herr Bachstein nach links ab. Kein anderes Fahrzeug war zu sehen. Bald schwenkte er nach rechts ab, und von nun an ging es auf einem schmalen, kurvigen Sträßchen stetig bergauf in die bewaldeten Höhen der Rhön, rechts und links immer mehr Schneereste.
Es war schon fast dunkel, als der Opel mit einer beizenden Qualmwolke im Innenhof eines großen Gehöftes zum Stehen kam. Von einem alten Mann wurden sie mit weni-gen geraunten Worten ins Haus geführt. In einem großen Zimmer war zum Abendes-sen gedeckt. Wortlos, nur mit einem Kopfnicken grüßend – die Kinder taten es der Mutter gleich – setzten sie sich zu den sechs Personen an den langen Tisch.
Alle falteten die Hände auf dem Tisch und begannen im Chor etwas zu raunen, was Martin nicht verstehen konnte. Aber er hatte den Blick der Mutter aufgefangen und richtig gedeutet, seine Hände ebenfalls gefaltet, während Rotraut ratlos in die Runde blickte. Martin kannte beten. Was die Menschen hier um ihn her raunten, war wesent-lich länger als das „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm“, das die Mutter mit ihnen betete. Wortlos wurde gegessen: Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln sowie für jeden ein Spiegelei. Kaum war die Mahlzeit beendet, erhob sich Herr Bachstein und verabschiedete sich. Er wünschte Martins Mutter gutes Gelingen. „Ich drück euch die Daumen“, sagte er leise.
Aufbruch. Rotraut bekam einen graugrünen Rucksack und einen kleinen Korbkoffer, Martin einen abgestoßenen braunen Koffer, um den ein alter Gürtel geschlungen war, und eine ausgebeutelte Tasche aus Zelttuch in Tarnfarben. Die beiden großen Koffer waren für die Mutter bestimmt, die zudem einen dicken dunkelgrünen Rucksack auf den Rücken nahm.
Zunächst übernahm ein junger Mann, der mit am Tisch gesessen hatte, die beiden großen Koffer. Der alte Bauer ging voran, dann der junge Mann, danach die Kinder, die Mutter bildete den Schluss. Über eine steile steinerne Treppe ging es hinunter in ein Kellergeschoss. Durch eine Tür, die so niedrig war, dass Martin gerade ohne Bücken hindurch passte, betraten sie einen stockfinsteren Raum. Modergeruch. Es war gar kein Raum, merkte Martin jetzt, sondern ein enger Gang. In Gänsemarsch stolperten sie durch die Finsternis, mal links mal rechts die feuchten Wände streifend.

Es ging leicht abwärts. Nach einigen Minuten wurde die Luft frischer, ein leichter, von vorn kommender Luftzug war zu spüren. Vorne wurde eine Tür mit leisem Knarren geöffnet, aber es blieb unverändert dunkel. Gleich darauf standen sie im Freien in einem frischen, leicht böigen Wind.
Niemand brauchte den Kindern zu sagen, dass sie still zu sein hatten. Die Situation verschloss ihnen die Münder.

Die Mutter und der alte Bauer unterhielten sich flüsternd. Martin konnte wenig verstehen, aber es war von Russen die Rede, von Stacheldraht, von Volkspolizei, vom amerikanischen Gebiet. Jetzt, wo die Augen sich ein wenig an die schwarze Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Martin schemenhaft sehen, dass der Bauer mit dem Arm in eine bestimmte Richtung wies, ihn dann nach rechts schwenkte. Offenbar erklärte er der Mutter den Weg, den sie durch die unbekannte Finsternis zu nehmen hatten.
Und die Finsternis blieb finster, obwohl die Augen sich nun völlig an die Dunkelheit gewöhnt haben mussten. Der Mond war nicht zu sehen, kein Stern leuchtete, nirgends ein Licht. Doch. Eins. Ziemlich weit entfernt und weiter unten, ein Dorf im amerikanischen Gebiet, wie der alte Bauer erklärte.

Der Bauer und der Knecht wünschten leise Gottes Beistand und Segen und zogen sich wieder in den Gang zurück. Die Tür knarrte hinter ihnen. Die Mutter zählte noch ein-mal die Gepäckstücke. Alle da.
„Paß auf den Korbkoffer auf, Rotraut!“, flüsterte die Mutter. „Da ist unser ganzes Essen drin.“
Sie griff die beiden großen Koffer, die Kinder folgten ohne Aufforderung mit trocke-nen, zugeschnürten Kehlen. Es ging sacht bergab, der Boden war weich, grasbedeckt. Alle paar Minuten blieb die Mutter keuchend stehen und stellte die Koffer ab. Sie atmete tief und schnell. Dann ging es weiter.

Nach vielleicht einer viertel Stunde von rechts ein unverständlicher Zuruf. „Oh Gott!“, sagte die Mutter leise. Es klang wie ein Schluchzen. „Kommt, Kinder, schneller.“ Nun hasteten sie den Berg hinab, rannten fast. An Kofferabstellen war nicht mehr zu denken. Wieder ein Zuruf, wesentlich näher, und nicht auf deutsch. Dann plötzlich ein scharfer Knall und dann ein sirrendes Geräusch über ihnen. Martin kannte das Geräusch. Ein Gewehrschuss. Schräg hinter ihnen. Sie hasteten weiter. Noch ein Schuss, dann war Hundegebell zu hören. Martins Herz krampfte sich zusammen. Flucht. Er wusste, wie die Rettung hieß: amerikanisches Gebiet.

Wo fing es denn an, das amerikanische Gebiet? „Passt auf!“, rief die Mutter leise, „hier ist ein Graben und ein Zaun mit Stacheldraht.“ Sie war darauf vorbereitet gewe-sen; der alte Bauer hatte es so beschrieben. Es war genau die richtige Stelle, dort, wo der unterste Draht am höchsten angebracht war. Sie legten sich auf den Boden und krabbelten bäuchlings unter dem Zaun hindurch, indem sie einander den untersten Draht so weit es ging hoch hielten.

„Alles in Ordnung, Kinder?“ Die Mutter nahm sich die wenigen Sekunden, beide Kin-der an sich zu drücken und zu küssen. Dann plötzlich: „Rotraut, wo ist der Korbkof-fer?“, zischte sie erschrocken. Ohne eine Erklärung abzuwarten, flüsterte sie: „Wartet hier!“ und robbte unter dem Stacheldraht hindurch wieder zurück. In weniger als einer halben Minute war sie wieder da. Mit dem Korbkoffer. „Weiter!“
Sie gingen mit forschen Schritten, aber sie hasteten nicht mehr. Die Mutter setzte so-gar einmal die Koffer ab, um einige Sekunden zu verschnaufen. Noch einmal einige Minuten bergab, dann blieb sie erneut stehen. Das ferne Hundegebell interessierte sie nicht mehr.
„Jetzt sind wir im amerikanischen Gebiet“, sagte sie atemlos und küsste erneut ihre Kinder.

Letzte Aktualisierung: 27.11.2010 - 00.47 Uhr
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