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Düstere Zeiten | November 2010

Düsterkugel – oder: Gar nichts läuft, wie Orla will
von Helga Rougui

Orla von Orbit war bei ihrer Freundin zu Besuch. Auf der ERDE.
Und das, obwohl sie sich geschworen hatte, niemals eine Tatze dorthinzusetzen, weder real noch mental.
Nun, es gibt Notfälle.
Simon, ein Bruder von Ferdinand, war vorbeigeflogen und hatte ihr gesagt, Marie brauche jemanden, dem sie ihr Leid klagen könne.
Also hatte Orla ihr URFK (UnsichtbaresRaumFaltKanu) auseinandergefaltet, es überall blitzeblank poliert sowie auch ihre achtundzwanzig Fingernägel mit gelben Straßsteinchen beklebt, war drei intergalaktischen RaRaBlus (RasantenRaumBlubbs) gefolgt und an zwei einfachen Sphärenknollen einmal rechts, einmal vorschriftsmäßig protoplasmisch abgebogen und hatte nun ihr Gefährt in Höhe von Maries oberer Hälfte positioniert, da, wo sie deren Hirn oder ähnliches vermutete, und damit gleichzeitig weit genug weg vom hohlen Kugelkopf des Langen, der notgedrungen rein körperlich den Alltag ihrer Freundin teilte, ohne daß er es wollte.
- Was ist mit dir, Marie? Was hat sich getan in den letzten achtzig Jahren?
Marie schaute in ihre Richtung. Orla fühlte das, obwohl sie nicht hätte sagen können, wo deren Augen saßen.
- Guck ihn dir doch an, meinen süßen Nachbarn, sagte sie, seit Jahren isser nun sauer und spricht nicht mehr mit mir. Nur weil ich gesagt hab, er soll Titizevka in Ruhe lassen.
- Was war denn mit Titizevka?
- Ich hab ihn eines Mittags dabei erwischt, wie er versucht hat, sie in Brand zu setzen. Er hat zwar behauptet, er habe nur seine frisch geputzten Glasscheiben neu ausrichten wollen, um noch cooler und glänzender auszusehen, aber daß sich ein paar dicke heiße Sonnenstrahlen genau auf ihr Nest bündelten, das kann wohl kaum ein Zufall gewesen sein…sie saß nicht mehr drin, wohl aber Ferdinand, ihr langschläfriger Penner von einem nichtsnutzigen Ehetäuberich, und der konnte sich nur mit Müh und Not, leicht angesengt und schwer beleidigt, retten.
Orla runzelte die Stirn. Cool? Penner? Ungewohnte Ausdrücke von Marie, die verbal stets ganz edle alte Dame war.
- Was hat ihm Titizevka denn getan?
- Sie hat sich erlaubt, über ihn zu grinsen, weil er mal wieder alle fotografierenden Touristen persönlich begrüßt hat, auch die, die eigentlich den Alex und das Rote und mich abgelichtet haben, sogar der Niko drüben, die ja nun seit neuestem wie aus dem Ei gepellt daherkommt, wollte er ihre Fans abspenstig machen.
- Also Marie – du kennst ihn doch!
- Nichts kenn ich, nichts weiß ich, hauchte Marie desorientiert und verzweifelt.
- … und du weißt seit Jahrzehnten, daß er jemanden braucht, der ihm sein Bäuchlein pinselt, die Ausdünstungen der Besucherschwärme kitzeln ihn wie Weihrauch in der Nase, er braucht uneingeschränkte, vielfältige Bewunderung und das Rampenlicht, vor dem sich andere gern verstecken würden…Womit wir beim Thema wären… hast du zufällig Hero gesehen? Der ist mir irgendwie abhanden gekommen, und ich kann ihn nicht auftreiben. Es ist sehr wichtig, weil er dürfte relativ nackt sein, nach dem, was ihm letztens zugestoßen sein muß… sogar sein Bart ist ab, wies scheint…
- Wer ist Hero?
- Ach, Marie, was für eine Frage! Du wirst auch immer älter, was?
- Was willst du damit sagen? Ich kenne keinen Hero.
- Da haben wir was gemeinsam. Mir scheint auch, als ob ich ihn gar nicht richtig kenne beziehungsweise nie gekannt habe.

Während Orla kopfschüttelnd GRaS gab (GetrockneterRasenausSyrien war noch immer unerreicht als Treibstoff Nr 1 in der Galaxis) und sich in einer eleganten Kurve von dem Kaff entfernte, das Maries und Walters Heimat darstellte, dachte sie:
- Was für eine niedliche kleine Welt dieser KEGP doch im Grunde ist … so überschaubar in seinen baulichen und fraulichen Strukturen. Wie ein wohlaufgeräumtes Boudoir, und schmollen tut hier jeder dritte… Von den widerlichen Substraten, in die Hero seinerzeit geriet, ist nichts zu sehen. Tatsächlich, wenn ichs recht überlege, könnte sich Hero sehr wohl hierhin geflüchtet haben. Er weiß um meine Abneigung gegenüber dem KEGP. Und Marie kannte ich bisher nur von (cara)pacebook und hab ihm nie von ihr erzählt… oje, ich glaube, ihr von ihm auch nicht…
Wer wird hier alt?
Derweil Orla mit ihrem linken Mittelbein lenkte, entkorkte sie – wehret den Anfängen - mit den beiden oberen Tatzen eine neue Flasche Ewigkeitssaft und nahm einen tiefen Zug aus der Pul…
… und konnte im letzten Augenblick das Steuer herumreißen, um einem langen dürren Kerl – fast so lang wie Walter - auszuweichen, der auf vier stämmigen, rostigen Eisengitterbeinen herausfordernd am Ende eines Feldes stand. Der ganze Turm bestand aus einer verwitterten, jedoch soliden Eisengitterkonstruktion, sah sie jetzt, daher hatte sie ihn auch nur schemenhaft wahrnehmen können.
Er selbst sah sich aber höchst real.
- Na Prösterchen!, meinte er spöttisch, aber aufgeräumt, gleichzeitig fliegen und trinken, tz tz tz. Wer immer in diesem seidigglänzenden Metallkleinod sitzt, kann keine Frau sein, sonst wäre die Multitaskingsteuerung besser justiert.
- Idiot, stählerner, zischte Orla, während sie ihr schwankendes Mobil statuisierte, was stehst du auch im Weg herum…
Sie fauchte umso lauter, als sie wußte, daß allein sie durch ihre Fahrweise für den Beinahe-Crash verantwortlich war.
Blöder Hero, der war an allem schuld, seinetwegen gab sie hier den Wanderer zwischen den Welten, seinetwegen trank sie überhaupt diesen Saft, und wofür? Wofüüür???
Aber eins hatte sie gelernt – wer zuerst laut schreit oder, besser noch, laut jammert und wehklagt, der kriegt Recht, und der andere hat Unrecht bis in alle Ewigkeit, und reden ließ sich mit den Leanders ja nie über irgendetwas - das war schon seit damals so, als sie seiner Mutter den rosagetupften, extrem fleischigen -
- Danke, ich bin der Peter, knarzte die Eisenkonstruktion in ihre Gedanken hinein, sehr freundlich biste nicht, dafür siehste lustig aus.
- Mir isses aber nicht lustig, grollte Orla, die Männer sind allesamt dumme Kartonköpfe, und ich… und du …
- …auch? meinte Pierre leicht abwesend und wenig schlau (und so Orla stantepede im Letztgesagten bestätigend), aber nicht ganz grundlos, wollte er doch gern auf irgendeine Weise das Gespräch verlängern, weil inzwischen seine Äuglein oder was er dafür hatte, endgültig an Orlas URFK hängengeblieben waren, und nun klebten sie dort wie mit Sekundenkleber festgepappt, während die Tentakel des Bötchens den schlanken Hals des Monumensters umwickelten in wachsender Leidenschaft.
Das URFK wippte einmal graziös mit dem Heck – teils reflexartig, um Pierre zu umgarnen, teils bewußt, um sich des ab sofort unerwünschten Fahrgastes zu entledigen – und der Effekt war, daß Orla dem Boden wie überreifes Fallobst entgegenstürzte –
sie schloß ergeben drei ihrer Augen, während sich sechs andere pikiert gen Himmel verdrehten… wo würde sie landen? Beziehungsweise worauf? Sie konnte sich ziemlich gut an die Forschungsberichte von Hero über den KEGP erinnern, und ihr schauderte.
Dann rollte sie sich zu einer undurchdringlichen hyperharten Pille zusammen und schoß, durch und durch scharfe Munition, angriffslustig dem Aufprall entgegen und

- Lorraine, ma petite, viens ici, on va rentrer maintenant, cria sa mère, rassemblant tous les jouets de sa jolie fille blonde dans un grand sac bleu de chez Ikéa.
Tous?
Seul un ballon rouge restait sur le sol, un peu à l'écart, près de la tour Eiffel, abandonné.

durchschlug mit voller Wucht die elastische Gummihülle eines roten runden Etwas – eines Ballons? einer Welt? - in der, als Orla sich entrollte und einige ihrer Augen öffnete, auf den ersten Blick nicht viel zu sehen, weil es nämlich fast stockfinster war.
Nur ein kleiner Streifen Licht, der durch die Außenwandung in das Innere der Kugel drang – durch das Loch, das Orla höchstselbst geruht hatte in selbiges zu schlagen – verbreitete eine schummrige Halbdämmerung.
Ein düsterer Ort. Sozusagen.

Orla schüttelte benommen ihren alten, faltigen Kopf und betastete den Boden, auf dem sie bäuchlings lag. Glatt, trocken, eher weich. Nicht unangenehm.(Also der Boden, nicht ihr Bauch.)
Sie richtete sich auf und versuchte, sich zurechtzufinden.
So wenig Anhaltspunkte hatte sie noch nie gehabt, in ihrem ganzen Leben nicht.
Bis auf einen kleinen milchigen Punkt auf der anderen Seite des ebenfalls dort ansteigenden Tales war alles gleichmäßig schwarzgrau – und das ihr, wo sie doch in allen Regenbogenfarben zu schimmern beliebte. Ohne Licht schrumpfte sie selber zu einer sehr müden, sehr staubigen Kröte, allein und trostlos, keiner hatte sie lieb... Reiß dich zusammen, ma chère. (Nicht jetzt, bitte.)
Was konnte dort drüben nur so weiß leuchten?
Sie fixierte es. Versuchte es ihrem Willen zu unterwerfen.
Aber das Es rührte sich nicht. Es hatte offensichtlich nicht die Absicht, zu ihr zu kommen. Orla seufzte tief, murmelte mißmutig etwas von Bergen und Propheten, sortierte ihre Beine und machte sich wohl oder übel auf den Weg.
Nach einem unendlich anmutenden, äußerst beschwerlichen Fußmarsch kam sie auf der anderen Seite des Tales an. Die Landschaft unterwegs war gleichförmig geblieben, keine Bodenveränderungen, -erhebungen, -absenkungen, keine Vegetation, keine Zu- und Ab- noch Flüsse, Teiche oder Pfützen, weder Faune noch Flores, keinerlei Anzeichen galaktischen oder intergalaktischen Lebens, nichts.
Nur dieser bleiche Fleck.
Der immer kleiner wurde, je näher sie kam.
Seltsam.
Nun endlich stand sie davor.
Sie bückte sich und –

…

- nein, es war nicht Hero von Leander im sahneweißen Schlafrock, bartlos und lieblich schlummernd, wie vermutlich alle gedacht haben (und sie selbst insgeheim gehofft hatte.)
Denn das Thema dieses Monats heißt "Düstere Zeiten" und das Thema "Freude" kommt erst noch.

Und so bleibt denn Orla von Orbit jetzt und hier nur eins zu tun, nämlich das Papier, das so wegweiserisch im Dunkeln geleuchtet hat, aufzuheben, es zu entfalten und zu lesen, was darauf steht…
… während le petit Xavier sich von seiner Maman losreißt, eifrig auf einen roten Ball zustürmt und ihn ins höchste und weiteste Aus kickt, das auf der ERDE je gesehen wurde.

Letzte Aktualisierung: 21.11.2010 - 15.39 Uhr
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