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Düstere Zeiten | November 2010

Wär der Georg doch tot!
von Karl-Otto Kaminski

Sie machen das Fenster im Wohnzimmer nicht auf, auch wenn es da drin noch so stinkt nach Rauch und Bier. „Georg mag das nicht“, sagt Mama. „Weil’s zieht.“
Außerdem soll ich Georg endlich Papa nennen. Das will ich aber nicht. Kann den Georg nicht leiden. Weil der Georg säuft. Und wenn er voll ist, schlägt er mich. Und die Mama haut er auch. Die schreit dann und weint. „Hör doch auf, Schorsch!“, ruft sie und hebt die Hände. Der Georg hört aber nicht auf. Der guckt, als wenn er gar nichts sieht und haut weiter auf uns ein.
Inzwischen merk ich schon, wann der so weit ist. Dann renn ich weg und verkriech mich hier unten zwischen den Mülltonnen. Hier sucht er mich nicht. Zwischen der gelben und der braunen Tonne ist es am sichersten. Die benutzt kaum jemand, schon gar nicht abends. Mit ein paar alten Zeitungen drunter ist’s nicht ganz so kalt am Hintern.
Wär der Georg doch tot!
Wenn Mama mal nicht zugeknallt ist von ihrem Stoff, mag ich sie schon. Dann streichelt sie mich, sagt nette Worte. Ihren Goldschatz nennt sie mich. Und manchmal weint sie auch: „Ach, was ist das nur für ein Elend mit uns.“ Dann nimmt sie mich fest in die Arme, knuddelt mich so wie früher. Aber das passiert nicht oft. Und es dauert auch nie lange. Bald schließt sie sich wieder in der Küche ein. Und wenn sie wieder raus kommt, ist sie ganz anders. Dann schimpft sie mit mir. Haut mich für nichts und wieder nichts. Oder sie sitzt nur da, starrt vor sich hin und sagt kein Wort.
Hab schon paar Mal versucht, ihr die Spritzen zu verstecken. Die hat sie aber immer schnell wieder gefunden. Dann ist sie furchtbar wütend. Haut mir gleich ein paar Ohrfeigen. Außerdem bekomm ich zur Strafe kein Frühstück mit in die Schule. Dabei krieg ich ja auch sonst höchstens ne angefangene Tüte Chips mit, die vom letzten Abend übrig ist. Die Dinger sind immer ganz eklig weich und schmecken nach Zigarettenrauch.
Schuld an allem ist der Georg. Der sagt immer zu Mama: „Gegen schlechtes Leben hilft nur ne gute Dröhnung. Du weißt ja, wie du dran kommst. So hässlich bist du ja noch nicht.“
Dann lacht er dreckig, und sie haut ab. Ist oft stundenlang weg. Ich weiß nicht, wo und wie sie das Zeug besorgt, das sie sich spritzt. Weiß nicht mal, wie das heißt. Mama sagt, sie braucht das zum Leben. Aber den Georg, den braucht sie doch nicht.
Wär der Georg doch tot!
Jetzt geht die alte Frau Meier auf ihren Balkon und kramt da rum. Ich kann sie sehen, weil sie schon Licht an hat. Aber sie sieht mich nicht. Von hier aus kann ich auf viele Balkons und in viele Fenster gucken, wenn die da drin Licht anmachen. Ich seh sie alle. Mich sieht keiner. Manchmal ist das richtig spannend. Wenn sich die Webers streiten zum Beispiel. Die haben so besondere Gardinen. Da kann man zwar nicht richtig durch gucken. Aber man sieht da drauf von hier aus, wie Webers Schatten rumhampeln. Sieht aus wie in dem chinesischen Scherenschnitttheater, das Kunstlehrer Wittig uns neulich gezeigt hat.
Meine Schulkameraden mobben mich. Ich hab kein Handy. Als einziger in der Klasse! Und meine Klamotten wären uncool, behaupten sie. Mama sagt, weil sie krank ist, kann sie nicht arbeiten. Und die Stütze reicht nicht für so was. Georg frag ich erst gar nicht. Der ist auch arbeitslos, aber nicht, weil er krank ist. Stinkfaul ist der. Der will gar nicht arbeiten. Hat überhaupt kein eigenes Geld. Frisst und säuft sich bei uns nur durch.
Ich hätt so gern eine richtige Familie. Aber mein Papa ist irgendwann abgehauen. Keine Ahnung warum und wohin. Mama spricht nicht drüber. Wird immer stinksauer, wenn ich sie nach ihm frage. Und der Georg ist kein Papa. Männer, die ihre Kinder und ihre Frau so schlagen, sind doch keine richtigen Papas!
Wär der Georg doch tot!
Die Jungs auf der Straße wollen nicht mit mir spielen. Ich wär doof sagen sie. Hätte keine Ahnung. Von nichts. Mir erklärt aber auch keiner was. Zu Hause schon gar nicht. Ich darf ja nicht mal sehen, was die Anderen im Fernsehen angucken. Bei uns hat bloß immer der Georg die Fernbedienung in der Hand. Und der schaut nur Boxen oder Volksmusik. Mama hat dabei nichts zu sagen. Will sie wohl auch gar nicht. Die ist ja spätestens abends um sieben schon zum zweiten Mal total zugedröhnt von dem Zeug aus der Spritze.
Am liebsten möcht ich für immer hier unten bleiben. Hier ist es ruhig. Hier schlägt mich keiner. Und es stinkt auch nicht so wie in der Wohnung oben. Wenn’s nur nicht so kalt wär. Dunkel ist gar nicht so schlimm. Kalt ist viel schlimmer.
Heute kam ich an die warme Jacke mit der Kapuze nicht mehr ran. Ging alles so schnell. Um viertel nach acht warf der Georg plötzlich mit der leeren Wodkaflasche nach mir. Wollte sofort eine neue. Brüllte rum, weil ich nicht gleich zum Kühlschrank lief. Als er dann aufstand, bin ich ganz fix raus.
Jetzt frier ich. Da hilft auch Pulloverärmel über die Fäuste ziehen nichts. Und ich muss hier warten bis nach halb elf. Dann ist der Georg wahrscheinlich eingepennt, und ich kann mich in mein Bett schleichen.
Wär der Georg doch tot!
Irgendwo drüben unter dem Gehweg gibt’s ne Leitung für Fernwärme, sagt Paulina. Wenn ich die irgendwie anzapfen könnte! Dann hätt ich’s warm. Aber das geht ja nicht. Vielleicht ist das aber auch bloß die Erdgasleitung, wo die ganzen Wohnungen hier dran hängen. Die würd mir dann auch nicht helfen.
Erdgas wär nützlich und harmlos, hat Pils gesagt. Nur zuviel könnt gefährlich sein. Pils ist unser Klassenlehrer. Heißt eigentlich Pilsutzky, aber den Namen mag niemand.
Wenn genug von dem Erdgas in einem geschlossenen Raum wär, sagt Pils, und dann käm ein Funke rein, von einem Feuerzeug, einem Lichtschalter oder so, dann gäb das eine geile Explosion. Könnt ganze Häuser einreißen, sagt er.
Mensch! Wenn Mama und der Georg nachher wieder hackevoll auf der Couch und im Fernsehsessel rumliegen, könnt ich eigentlich den Gasherd anmachen in der Küche. Alle Knöpfe, aber ohne Flamme. Fenster sind sowieso alle dicht. Dann die Korridortür von außen zu, schnell wieder abhauen und drüben warten, hinter der alten Fabrikmauer. Wenn dann einer von ihnen aufwachen würd und das Licht anmachen oder ne Zigarette – bruuumms - wär ich die beiden endlich los. Mama vielleicht nicht ganz so gerne, aber den Georg. Den auf jeden Fall!
Wär der Georg doch tot!
Wenn aber der Georg oder die Mama zu lange warten würden mit Zigarette anstecken oder Licht anmachen, wär vielleicht schon soviel Gas in der Wohnung, dass es wirklich das ganze Haus umhaute. Die meisten Leute, die hier wohnen, sind mir ja egal. Dem dicken Pilldur von unten würd ich sogar gönnen, dass ihm die Decke auf den Kopf fällt. Der kann mich nicht leiden. „Asozialer Bengel!“, ruft er jedes Mal, wenn er mich sieht.
Aber die nette Paulina, die auf dem Balkon nebenan immer ihre niedlichen Kaninchen füttert, die sollte vorher raus zu mir, hinter die Mauer. Und auch die alte Frau Meier von oben, die mir im Treppenhaus manchmal einen Schokoriegel zusteckt. Sie streicht mir dann immer übers Haar und seufzt. Die mag ich auch. Aber wie krieg ich die raus?
Und was machen die beiden, wenn nun wirklich das ganze Haus zusammenkracht? Die haben dann ja keine Wohnung mehr. Ich übrigens auch nicht. Aber mir wär das ziemlich egal. Was ist das denn schon für’n Zuhause?
Die hübschen Kaninchen wären dann wohl leider auch tot …
Aber dieser Scheiß-Georg muss einfach weg! Und so richtig schade wär’s um meine Mama auch nicht. Die hat ja nie Zeit für mich, obwohl sie doch so viel Zeit hat.
Wenn nur die Paulina nicht wär mit ihren Kaninchen und die freundliche Frau Meier. Denen darf eigentlich nichts passieren. Wär viel einfacher, wenn die nicht hier wohnten.
Aber irgendwas muss ich jetzt machen!
Wär der Georg doch tot!

Letzte Aktualisierung: 02.11.2010 - 19.38 Uhr
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