Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
âLalelu, nur der Mann im Mond schaut zuâ, singt Ragova leise, als sie den Kinderwagen durch die Sommernacht fĂ€hrt.
Aber manchmal muss sie tagsĂŒber ...
âMemo: Um zehn Uhr ein Prophylaxe-Date im Medical-Center mit Baby Meriete. Zur Beachtung: Bei Nichteinhaltung droht der Sorgerechtsentzug. Meldung mit Code bestĂ€tigen.â
âBei Nichteinhaltung droht Sorgerechtsentzugâ, Ă€fft die junge Mutter die Worte der Memory-Voice nach, und legt ihre zwei Wochen alte Tochter in den Kinderwagen.
âBestĂ€tigung unverstĂ€ndlich! Keinen Code erhalten!â
âJa!â, sagt sie laut, âich bestĂ€tige den Termin!â Und tippt ihre Kennung in die Memo-Box der Hauszentrale ein.
Meriete beginnt zu wimmern. Ihre Mutter hĂŒllt sie in ein Plaid und schlieĂt das Verdeck des Kinderwagens, um die UV-Strahlung vom Baby fernzuhalten.
âBestĂ€tigung und Code erhalten.â
Die junge Mutter geht die WohnstraĂe hinunter und biegt um die Ecke zur Hauptverkehrsader. Einige Solar-Mobile surren vorbei. Ragova hat es nicht weit. Sie steht am StraĂenrand und blinzelt in die Sonne. Bevor sie ihre Sonnenbrille hervor holen kann, bleiben die Fahrzeuge stehen und sie ĂŒberquert die Fahrbahn. Als sie den Bordstein erreicht, wird sie von einer Menschentraube umringt.
âEin Baby! Was fĂŒr eine Freude!â
âDĂŒrfen wir es ansehen?â
Widerwillig öffnet sie den Sonnenschutz.
âEs muss Ewigkeiten her sein, als ich zuletzt ein Neugeborenes gesehen habe!â
âSchaut!â
âWelche Freude!â
âGratulation!â
Ragova schlieĂt das Verdeck. âIch habe es eilig. Muss um zehn drĂŒben im Medical-Center sein.â
âLasst die junge Mutter durch!â
âIst das Baby krank?â
âVorsorgetermin.â
âHabt Ihr gehört? Macht Platz!â
Die Menschen bilden eine Gasse und lassen Ragova passieren.
âHat die Kleine bereits ihren Chip?â
Ragova schĂŒttelt ihren Kopf.
âPassen Sie gut auf ihr Baby auf!â
Die Kindsmutter nickt heftig. NatĂŒrlich achtet sie sorgfĂ€ltig auf ihren kleinen Schatz. SchlieĂlich krönt Meriete die Liebe zwischen ihr und Ovate. Ragova lĂ€chelt und setzt sich ihre Sonnenbrille auf.
Wenn sie an Merietes Vater denkt, ĂŒberkommt sie ein wohliges GefĂŒhl. Leider findet das Familienleben nur am Wochenende statt, weil ihr Mann im weit entfernten Technology-Center tĂ€tig ist.
. . .
Das Team der PĂ€diatrie bescheinigt eine normgerechte Entwicklung des Babys.
âImmer diese BelĂ€stigungen tagsĂŒber. Wann werden endlich Nacht-Sprechstunden eingefĂŒhrt?â, moniert Ragova.
âAufgrund Personalmangels leider unmöglich. Vielleicht wird die Kleine ja einmal Ărztin?â Der Mediziner hĂ€lt ihr die Hand zur Verabschiedung entgegen.
âWir beide haben endlich Feierabend!â, ruft eine medizinische Assistentin im Hinausgehen und streichelt ĂŒber ihren gerundeten Bauch.
âDen Implantationstermin und Ihren Family-Code habe ich an die Zentrale der Registrierungsstelle ĂŒbermittelt.â Sie zwinkert Ragova zu. âWenn Ihre Kleine den Chip hat, können Sie mit ihr entspannter unter Menschen gehen.â
Die Kindsmutter nickt zustimmend und schĂŒttelt die Hand des Arztes.
âUnsere Frau NiretĂ€t Ravo hat sich fĂŒr eine Insemination entschieden. Wieder ein Kind fĂŒr Volk und Vaterland.â
Er hĂ€lt Ragova die TĂŒr auf. âVielleicht wĂ€re das beim zweiten Kind was fĂŒr Sie? Es wird gut bezahlt.â
Sie schĂŒttelt vehement ihren Kopf.
âUnd Ihr Mann? Auch Samenspenden sind finanziell lohnend. Die Gen-Analyse Ihres Mannes ist ideal.â
âDas ist nichts fĂŒr uns. Mein Mann hat ein gutes Einkommen.â
âDann sehen wir uns nĂ€chste Woche zur Chip-Implantation. Bis dahin mĂŒssen Sie mir versprechen, auf die Kleine Obacht zu geben.â
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Auf der HauptstraĂe wird Ragova abermals von vielen Leuten umringt.
Einige drĂ€ngeln und schubsen. âEin Baby!â
âHaut endlich ab und lasst die junge Mutter vorbei!â
âDie Mittagssonne ist nicht gut fĂŒrs Kind!â
Eilig biegt Ragova in die NebenstraĂe ein.
âRagova! So bleib doch bitte stehen!â
Sie dreht sich herum. Es ist Marindia, eine frĂŒhere Studienfreundin.
âSo eine Ăberraschung! Bist du hier im Bezirk ansĂ€ssig?â
Die ehemalige Freundin schĂŒttelt den Kopf. âIch war drĂŒben zur Vorsorge.â Sie zeigt auf ihren Bauch.
âWann ist es soweit?â
âMorgen. Es ist ein MĂ€dchen.â
âIch will mich mit meiner Kleinen nicht so lange in der Mittagshitze aufhalten. Wir könnten zu mir gehen und uns ĂŒber die frĂŒheren Zeiten unterhalten. Im Haus ist es kĂŒhl und du kannst deine Beine hochlegen.â
âGerne. Aber ich muss fast ein wenig mit dir schimpfen. Ich habe gesehen, wie du jedem Dahergelaufenen dein Kind prĂ€sentierst. Du musst vorsichtig sein.â
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âDu hast nicht auf unser Kind geachtet! Was bist du fĂŒr eine Mutter! Die Klinik ist so nah!â Ovate setzt sich an den Esstisch.
Ragova wischt sich mit dem HandrĂŒcken die TrĂ€nen von den Wangen. âWie immer waren viele Passanten auf dem Hin- und RĂŒckweg, die mich aufgehalten haben! Als wir Daheim waren, habe ich unsere Kleine mit dem Kinderwagen in ihr Zimmerchen gestellt, weil sie schlief.â
âBist du sicher, dass sie zu dem Zeitpunkt noch im Wagen war?â
âSie war ruhig. Hat geschlafen.â
âHast du im Kinderzimmer nach ihr gesehen?â
âNein. Ich sagte doch, dass Meriete geschlafen hat.â
Ihr Mann haut mit der Faust auf den Tisch. âUnd du hattest die Security-Anlage im Haus nicht aktiviert? Und die transportable am Kinderwagen auch nicht?â
âWarum sollte ich sie einschalten?â Wispert sie. âIch war ja nicht alleine im Haus. Marindia und ich saĂen im Living-Room und unterhielten uns ĂŒber Schwangerschaften. Sie gab vor, kurz vor der Entbindung zu stehen.â
âWer ist Marindia?â
Ragova zuckt unter der lauten Stimme ihres Mannes zusammen.
âWir waren Studienkolleginnen. Erinnerst du dich nicht mehr an sie?â
Er schĂŒttelt den Kopf. âDu hattest viele Freundinnen, bevor wir den Bezirk gewechselt haben.â
Die junge Mutter wird vom Weinen geschĂŒttelt. âDie Ermittler vermuten, dass Marindia mit einer Komplizin gemeinsame Sache gemacht hat! Spuren haben sie allerdings keine gefunden.â
âDu hast erzĂ€hlt, dass diese, Ă€hm, wie hieĂ sie doch gleich? Dass die schwanger sei. Warum sollte sie ein Kind entfĂŒhren?â
Ragova schluchzt. âDer Bauch könnte eine Attrappe gewesen sein. Ich habe mich gewundert, warum sie so lange auf der Toilette war. GegenĂŒber ist das Kinderzimmer. Genug Zeit fĂŒr diese Verbrecherin, unsere Kleine einer Komplizin am Nebenausgang zu ĂŒbergeben.â
Ovate geht in der KĂŒche auf und ab. Sein Gesicht ist krebsrot und die Halsadern treten hervor.
âFakt ist, dass du nicht weiĂt, ob die Kleine im Wagen war, als du ihn ins Babyzimmer geschoben hast!â
Ragova lĂ€uft ins Kinderzimmer und wirft sich schluchzend auf das Sofa. âSie hat unser Kind gestohlen!â
âDann hĂ€tten sie Spuren gefunden. Ich folge der These, dass die Kleine im Tumult der Menschenmenge entfĂŒhrt worden ist. Die Behörde ermittelt in beide Richtungen.â
Er fasst seine Frau und zerrt sie hoch. âWarum öffnest du fĂŒr Passanten den Kinderwagen?â
Sie schlĂ€gt die HĂ€nde vors Gesicht und flĂŒstert trĂ€nenerstickt. âDie Ermittler werden unser Baby finden.â
Ihr Mann lĂ€sst von ihr ab. Sein Blick trifft Ragova eiskalt. âSollte Meriete gefunden werden, dann beantrage ich das alleinige Sorgerechtâ.
Ragova fröstelt. Sie zieht die Ărmel ihrer beigen Flachs-Tunika ĂŒber ihre HĂ€nde. âWarum bist du so herzlos?â
Ovate antwortet seiner Frau nicht. Er packt einige Sachen in einen Koffer und verlÀsst das Haus.
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NiretÀt Ravo und Marindia schieben ihre Kinderwagen durch die laue Sommernacht.