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Freude | Dezember 2010
Ein Baby! Welche Freude.
von Anne Zeisig

„Lalelu, nur der Mann im Mond schaut zu”, singt Ragova leise, als sie den Kinderwagen durch die Sommernacht fĂ€hrt.
Aber manchmal muss sie tagsĂŒber ...

‘Memo: Um zehn Uhr ein Prophylaxe-Date im Medical-Center mit Baby Meriete. Zur Beachtung: Bei Nichteinhaltung droht der Sorgerechtsentzug. Meldung mit Code bestĂ€tigen.’
„Bei Nichteinhaltung droht Sorgerechtsentzug”, Ă€fft die junge Mutter die Worte der Memory-Voice nach, und legt ihre zwei Wochen alte Tochter in den Kinderwagen.
‘BestĂ€tigung unverstĂ€ndlich! Keinen Code erhalten!’
„Ja!”, sagt sie laut, „ich bestĂ€tige den Termin!” Und tippt ihre Kennung in die Memo-Box der Hauszentrale ein.
Meriete beginnt zu wimmern. Ihre Mutter hĂŒllt sie in ein Plaid und schließt das Verdeck des Kinderwagens, um die UV-Strahlung vom Baby fernzuhalten.
‘BestĂ€tigung und Code erhalten.’

Die junge Mutter geht die Wohnstraße hinunter und biegt um die Ecke zur Hauptverkehrsader. Einige Solar-Mobile surren vorbei. Ragova hat es nicht weit. Sie steht am Straßenrand und blinzelt in die Sonne. Bevor sie ihre Sonnenbrille hervor holen kann, bleiben die Fahrzeuge stehen und sie ĂŒberquert die Fahrbahn. Als sie den Bordstein erreicht, wird sie von einer Menschentraube umringt.
„Ein Baby! Was fĂŒr eine Freude!”
„DĂŒrfen wir es ansehen?”
Widerwillig öffnet sie den Sonnenschutz.
„Es muss Ewigkeiten her sein, als ich zuletzt ein Neugeborenes gesehen habe!”
„Schaut!”
„Welche Freude!”
„Gratulation!”
Ragova schließt das Verdeck. „Ich habe es eilig. Muss um zehn drĂŒben im Medical-Center sein.”
„Lasst die junge Mutter durch!”
„Ist das Baby krank?”
„Vorsorgetermin.”
„Habt Ihr gehört? Macht Platz!”
Die Menschen bilden eine Gasse und lassen Ragova passieren.
„Hat die Kleine bereits ihren Chip?”
Ragova schĂŒttelt ihren Kopf.
„Passen Sie gut auf ihr Baby auf!”
Die Kindsmutter nickt heftig. NatĂŒrlich achtet sie sorgfĂ€ltig auf ihren kleinen Schatz. Schließlich krönt Meriete die Liebe zwischen ihr und Ovate. Ragova lĂ€chelt und setzt sich ihre Sonnenbrille auf.
Wenn sie an Merietes Vater denkt, ĂŒberkommt sie ein wohliges GefĂŒhl. Leider findet das Familienleben nur am Wochenende statt, weil ihr Mann im weit entfernten Technology-Center tĂ€tig ist.
. . .

Das Team der PĂ€diatrie bescheinigt eine normgerechte Entwicklung des Babys.
„Immer diese BelĂ€stigungen tagsĂŒber. Wann werden endlich Nacht-Sprechstunden eingefĂŒhrt?”, moniert Ragova.
„Aufgrund Personalmangels leider unmöglich. Vielleicht wird die Kleine ja einmal Ärztin?” Der Mediziner hĂ€lt ihr die Hand zur Verabschiedung entgegen.
„Wir beide haben endlich Feierabend!”, ruft eine medizinische Assistentin im Hinausgehen und streichelt ĂŒber ihren gerundeten Bauch.
„Den Implantationstermin und Ihren Family-Code habe ich an die Zentrale der Registrierungsstelle ĂŒbermittelt.” Sie zwinkert Ragova zu. „Wenn Ihre Kleine den Chip hat, können Sie mit ihr entspannter unter Menschen gehen.”
Die Kindsmutter nickt zustimmend und schĂŒttelt die Hand des Arztes.
„Unsere Frau NiretĂ€t Ravo hat sich fĂŒr eine Insemination entschieden. Wieder ein Kind fĂŒr Volk und Vaterland.”
Er hĂ€lt Ragova die TĂŒr auf. „Vielleicht wĂ€re das beim zweiten Kind was fĂŒr Sie? Es wird gut bezahlt.”
Sie schĂŒttelt vehement ihren Kopf.
„Und Ihr Mann? Auch Samenspenden sind finanziell lohnend. Die Gen-Analyse Ihres Mannes ist ideal.”
„Das ist nichts fĂŒr uns. Mein Mann hat ein gutes Einkommen.”
„Dann sehen wir uns nĂ€chste Woche zur Chip-Implantation. Bis dahin mĂŒssen Sie mir versprechen, auf die Kleine Obacht zu geben.”
. . .

Auf der Hauptstraße wird Ragova abermals von vielen Leuten umringt.
Einige drĂ€ngeln und schubsen. „Ein Baby!”
„Haut endlich ab und lasst die junge Mutter vorbei!”
„Die Mittagssonne ist nicht gut fĂŒrs Kind!”
Eilig biegt Ragova in die Nebenstraße ein.
„Ragova! So bleib doch bitte stehen!”
Sie dreht sich herum. Es ist Marindia, eine frĂŒhere Studienfreundin.
„So eine Überraschung! Bist du hier im Bezirk ansĂ€ssig?”
Die ehemalige Freundin schĂŒttelt den Kopf. „Ich war drĂŒben zur Vorsorge.” Sie zeigt auf ihren Bauch.
„Wann ist es soweit?”
„Morgen. Es ist ein MĂ€dchen.”
„Ich will mich mit meiner Kleinen nicht so lange in der Mittagshitze aufhalten. Wir könnten zu mir gehen und uns ĂŒber die frĂŒheren Zeiten unterhalten. Im Haus ist es kĂŒhl und du kannst deine Beine hochlegen.”
„Gerne. Aber ich muss fast ein wenig mit dir schimpfen. Ich habe gesehen, wie du jedem Dahergelaufenen dein Kind prĂ€sentierst. Du musst vorsichtig sein.”
. . .

„Du hast nicht auf unser Kind geachtet! Was bist du fĂŒr eine Mutter! Die Klinik ist so nah!” Ovate setzt sich an den Esstisch.
Ragova wischt sich mit dem HandrĂŒcken die TrĂ€nen von den Wangen. „Wie immer waren viele Passanten auf dem Hin- und RĂŒckweg, die mich aufgehalten haben! Als wir Daheim waren, habe ich unsere Kleine mit dem Kinderwagen in ihr Zimmerchen gestellt, weil sie schlief.”
„Bist du sicher, dass sie zu dem Zeitpunkt noch im Wagen war?”
„Sie war ruhig. Hat geschlafen.”
„Hast du im Kinderzimmer nach ihr gesehen?”
„Nein. Ich sagte doch, dass Meriete geschlafen hat.”
Ihr Mann haut mit der Faust auf den Tisch. „Und du hattest die Security-Anlage im Haus nicht aktiviert? Und die transportable am Kinderwagen auch nicht?”
„Warum sollte ich sie einschalten?” Wispert sie. „Ich war ja nicht alleine im Haus. Marindia und ich saßen im Living-Room und unterhielten uns ĂŒber Schwangerschaften. Sie gab vor, kurz vor der Entbindung zu stehen.”
„Wer ist Marindia?”
Ragova zuckt unter der lauten Stimme ihres Mannes zusammen.
„Wir waren Studienkolleginnen. Erinnerst du dich nicht mehr an sie?”
Er schĂŒttelt den Kopf. „Du hattest viele Freundinnen, bevor wir den Bezirk gewechselt haben.”
Die junge Mutter wird vom Weinen geschĂŒttelt. „Die Ermittler vermuten, dass Marindia mit einer Komplizin gemeinsame Sache gemacht hat! Spuren haben sie allerdings keine gefunden.”
„Du hast erzĂ€hlt, dass diese, Ă€hm, wie hieß sie doch gleich? Dass die schwanger sei. Warum sollte sie ein Kind entfĂŒhren?”
Ragova schluchzt. „Der Bauch könnte eine Attrappe gewesen sein. Ich habe mich gewundert, warum sie so lange auf der Toilette war. GegenĂŒber ist das Kinderzimmer. Genug Zeit fĂŒr diese Verbrecherin, unsere Kleine einer Komplizin am Nebenausgang zu ĂŒbergeben.”
Ovate geht in der KĂŒche auf und ab. Sein Gesicht ist krebsrot und die Halsadern treten hervor.
„Fakt ist, dass du nicht weißt, ob die Kleine im Wagen war, als du ihn ins Babyzimmer geschoben hast!”
Ragova lĂ€uft ins Kinderzimmer und wirft sich schluchzend auf das Sofa. „Sie hat unser Kind gestohlen!”
„Dann hĂ€tten sie Spuren gefunden. Ich folge der These, dass die Kleine im Tumult der Menschenmenge entfĂŒhrt worden ist. Die Behörde ermittelt in beide Richtungen.”
Er fasst seine Frau und zerrt sie hoch. „Warum öffnest du fĂŒr Passanten den Kinderwagen?”
Sie schlĂ€gt die HĂ€nde vors Gesicht und flĂŒstert trĂ€nenerstickt. „Die Ermittler werden unser Baby finden.”
Ihr Mann lĂ€sst von ihr ab. Sein Blick trifft Ragova eiskalt. „Sollte Meriete gefunden werden, dann beantrage ich das alleinige Sorgerecht”.
Ragova fröstelt. Sie zieht die Ärmel ihrer beigen Flachs-Tunika ĂŒber ihre HĂ€nde. „Warum bist du so herzlos?”
Ovate antwortet seiner Frau nicht. Er packt einige Sachen in einen Koffer und verlÀsst das Haus.
. . .

NiretÀt Ravo und Marindia schieben ihre Kinderwagen durch die laue Sommernacht.



© Anne Zeisig, Dezember 2010

Letzte Aktualisierung: 18.12.2010 - 19.44 Uhr
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