Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Freude | Dezember 2010
Weihnachten – was ist das?
von Elsa Rieger

„... und die ganze Familie stand mit roten Wangen und leuchtenden Augen vor dem geschmückten Tannenbaum“, schloss Oma Lina.
Die Enkel saßen im Kreis um sie und lauschten. Draußen wehte der heiße Wind Sandkörner gegen die Stoffwände.
„So hörte es sich an, wenn Schnee ans Fenster schlug. Der Ofen bullerte und wir strickten Pullover.“ Großmutter Olga seufzte. Sie holte ein Tuch aus den Falten des Kaftans, tupfte Schweiß von ihrer Stirn.
„Wann war das?“, fragte Jenny.
„Vor fünfzig Jahren schneite es das letzte Mal.“ Olga warf den Kindern einen betrübten Blick zu. „Als du auf die Welt kamst, gab es das ganze Jahr über nur Sommer. Aber es war noch nicht so heiß wie heute.“
Mick, er war der Kleinste, meldete sich zu Wort. „Warum kann man nicht auch Weihnachten machen, wenn’s heiß ist? Ist doch egal. Ich will Weihnachten!“ Seine Geschwister setzten ein. Das Zelt füllte sich mit dem Choral: „Ich will Weihnachten!“
„Schreit nicht so“, sagte Olga, „Weihnachten ist verboten. Wenn euch einer hört und uns anzeigt!“
Die Kinder verstummten. Der Zelteingang öffnete sich, alle zogen die Köpfe ein.
„Na, was ist denn da für ein Rabatz?“ Es war nur der alte Edmund von Nummer elf.
„Magst du Pfefferminztee?“ Olga goss ihm einen Becher ein. Edmund schlürfte. „Köstlich. Und was macht die Dattelernte?“
„Die Jungen sind draußen“, sagte Lina.
„Und ihr hütet die Kinder. – Übrigens, ich habe gehört, der Präsident will die Todesstrafe wieder einführen.“
„Wozu? Es gibt keine Verbrechen mehr. Wo nichts ist, kann nichts gestohlen werden.“
Olga drängte sich zwischen den Kindern und Edmund durch, trat vor das Zelt, Mick folgte ihr. Die Sonne stand tief und langsam ließ die brüllende Hitze nach. Die Türme des Doms warfen lange Schatten. Der Wind fegte unvermindert durch die Gassen, die hier vor der monumentalen Kirche sternförmig zusammentrafen, dem einstigen Wahrzeichen der Weltstadt. Das war, bevor der Sand alles zugedeckt hatte. Die beiden Türme und die Kuppel ragten noch heraus. Die Menschen lebten in ihren Zelten auf den Dächern der Stadt.
Edmund trat neben Olga. „Der Präsident will eben beweisen, dass er alles noch im Griff hat.“
Olga schwieg.
Mick sagte: „Ich würde ihm gern sagen, dass er das nicht darf!“
„Dann wirst du eingesperrt, Kleiner“, antwortete Edmund und wandte sich wieder an Olga. „Was für eine Veränderung über wenige Jahrzehnte, was?“
Sie hustete trocken. Dieser ewige Sand. Damals, als dieses grauenhafte Erdbeben die Meerenge von Gibraltar geschlossen hatte, Afrika und Europa plötzlich ein Erdteil geworden waren, schockierte das die Welt zutiefst. Davor hatte es keiner geglaubt, obwohl viele Mahner unterwegs gewesen waren.
Das Mittelmeer war schließlich zu Salz erstarrt. Olga schüttelte sich. „Leider blieben die Aliens aus, um uns zu einem anderen Stern zu entführen.“
Edmund grunzte vor Lachen und Mick machte einen Hüpfer. „Ja, ich will Aliens!“
„Ach, Olga, du bist eine Show“, sagte Edmund, „warst du ja immer schon. Ich hätte geschworen, wir würden unter Eis und Schnee begraben werden, nicht die Amis. Und jetzt sieh es dir an: Wir hocken in der Wüste und die erstarren im Permafrost.“
„Da sind wir ja noch mal davongekommen, gell? Wir schwitzen uns wenigstens nur zu Tode, wenn uns nicht vorher ein Riesenskorpion um die Ecke bringt. Oder der Präsident.“
Wieder lachte Edmund. Er legte den Arm um ihre Schultern.
„Also was ist mit Weihnachten?“, fragte Mick.
Olga hielt ihm den Mund zu. Ein paar Vorbeigehende warfen erstaunte Blicke auf den kleinen Schreihals. Edmund winkte begütigend ab und tippte mit dem Finger an die Stirn.
„Ich bin nicht plemplem! Lass mich!“, rief der Junge, weil Olga ihn ins Zelt zerrte.
Oma Lina streckte ihm eine Hand entgegen: „Komm, ich erzähle dir mehr von Weihnachten.“
Oma Olga warf ihr einen wütenden Blick zu: „Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ Dann schien sie es sich anderes zu überlegen. Sie setzte sich auf den Teppich, nahm Mick auf den Schoß und berichtete in sachlichem Ton: „Es war einmal eine Zeit, da hatten die Menschen vergessen, was Weihnachten bedeutet. Nämlich, die Geburt von Jesus zu feiern. Es ging nur noch darum, das teuerste und größte Geschenk zu bekommen. Die Leute stürzten sich in Schulden, um gut dazustehen. Die Armen schämten sich, weil sie nichts kaufen konnten. Andere raubten Banken aus oder schlugen jemanden nieder, mordeten, um an Geld zu kommen. Da beschloss die Regierung ein Gesetz. Weihnachten durfte nicht mehr stattfinden. Man hoffte, damit diesen Wahnsinn einzudämmen.“
Mick zog die Mundwinkel abwärts. „Was hat denn das Jesulein mit Geld zu tun?“
Jenny, die sich dazugesellt hatte, fragte: „Wenn das schon ewig her ist, warum darf man dann immer noch nicht? Keiner hat mehr Geld, es gibt nichts zu kaufen, wir tauschen nur. Man kann das Gesetz doch aufheben?“
Aus Linas Ecke kam ein Räuspern. „Das sollte man wirklich! Ist doch ein Witz, dass man sich fürchten muss, wenn man Weihnachten nur in den Mund nimmt“, sagte sie und brummelte weiter, während sie den Propangaskocher aufdrehte, um das Abendessen zu kochen. Die Kinder liefen hinaus, als sie ihre Eltern auf sie zukommen sahen.
Mick schrie: „Ich habe heute alles über Weihnachten gehört!“
Wie Heuschrecken sprangen die Männer der Bürgerwehr in ihren bodenlangen grauen Staubmänteln über den Platz. Sie umringten die kleine Gruppe. Alle wussten, die Bürgerwehr machte kurzen Prozess, sperrte jeden bei der geringsten Gesetzesübertretung für viele Monate ein. Verhandlungen gab es keine. Nach dem Aufenthalt im Gefängnis waren die Menschen nur noch Schattenfiguren, gebrochen für den Rest ihres Lebens.
Zwei der Graumäntel strebten mit unbewegten Mienen auf das Zelt zu. „Mitkommen!“
Oma Lina wimmerte, als sie mitgeschleift wurde. Mick presste sich an sie, einer der Schergen zog ihn von ihr weg, nahm seine Hand. Der Mann strich ihm über das Haar und der Junge sah zu ihm auf und lächelte.

Für die ganze Stadt gab es nur ein Gefängnis; Verbrecher waren rar geworden. Nur Verrückte ließen sich auf die Gefahr der Gehirnwäsche ein, die Folge der Inhaftierung war. Das Alter spielte keine Rolle. Mick würde das Verfahren ebenso wie Lina und die anderen über sich ergehen lassen müssen. Auch wenn er sich gerade an seinen Begleiter schmiegte. Die Gruppe betrat den Gefangenentrakt im Heeresministerium, das zugleich Sitz des Präsidenten war.
„Auf Sand gebaut ...“, sagte Olga und bekam dafür einen Tritt. Sie wurden auf Einzelzellen verteilt.
Der Graumantel, der Mick einschloss, zwinkerte ihm zu und flüsterte: „Ich komme wieder.“
Der Junge rollte sich auf der Metallliege zusammen, er riss an seinem Haar und weinte. Irgendwo schrie jemand vor Schmerz auf, dann war es totenstill und stockfinster. Auf einmal leuchtete eine Öllaterne in Micks Gesicht, er fuhr auf. Eine kühle Hand legte sich auf seinen Mund.
„Still.“ Der Graumantel zog ihn mit sich, sie liefen über Treppen, durch viele Gänge und Büroräume. Mick hatte den Eindruck, sein Begleiter gleite wie auf Rollen über den Boden.
„Fliegst du?“, flüsterte er.
Ein leises Lachen, dann sagte der Mann mit sanfter Stimme: „Geh jetzt dort hinein und warte.“

Es war hell in dem großen Raum. Etliche Öllampen flackerten. Nach ein paar Minuten trat ein Uniformierter von kleiner Statur ein, seine Jacke war gespickt mit glänzenden Orden. Er prallte zurück, als er Mick bemerkte.
„Was machst du hier, du Knirps?“
„Ein Heuschreck, äh, ein Graumantel hat mich hergebracht.“
„Ist der verrückt geworden? Was soll ich mit dir?“ Der Präsident setzte sich an seinen Schreibtisch. Weder Mick noch der Landesführer hatten die Tür aufgehen sehen, dennoch stand plötzlich der Mann mitten im Zimmer. Mick erkannte ihn an seinem Lächeln. Die Augenlider des Präsidenten zuckten, er öffnete und schloss den Mund wie eine Wüstenspringmaus, ehe die Klapperschlange sie erledigt; kein Ton kam heraus.
Mick stieß ein überraschtes „Oh!“ aus.
Unter dem Saum des Staubmantels blitzten nackte Füße hervor, Wunden klafften auf ihnen. Die Hände des Mannes wiesen die gleichen Verletzungen auf. Er hatte die graue Kappe abgenommen, das Haar wallte ihm über die Schultern. Er wandte sich an Mick: „Du möchtest die Geburt des Jesulein feiern dürfen?“
Der Junge nickte stumm. Der Mann durchquerte den Raum, jeder Schritt hinterließ einen blutigen Abdruck auf dem Teppich. Dann stand er eine Weile lächelnd vor dem Präsidenten. Mick kicherte verhalten, denn der merkwürdige Kerl überragte den mächtigsten Mann im Land um einen halben Meter.
„Wer bist du?“, stotterte der Präsident mit hochrotem Kopf.
„Ich bin die Hoffnung“, gab er zurück, legte die Hände auf die Schultern des Zwerges. Er neigte sich herab und drückte seine Lippen zu einem langen Kuss auf die Präsidentenstirn.

Der kleine Mann erbebte und es war, als flöge er einem Vogel gleich über das verwüstete Land. Doch nein, die Wüstenei lebte! Oasen breiteten sich aus, Flüsse und Grünflächen entstanden vor seinen Augen. Felder wurden von Menschen bestellt, er sah Weiden mit äsendem Vieh und ausladende Bäume, ganze Wälder!

Der Mann löste die Lippen von der Stirn des Präsidenten. „Glaube an mich“, sagte er.
Langsam hob der Landesführer den Blick und sah Mick an. „Heute ist der 24.12.3010. Ich ordne an, dass ab sofort wieder Weihnachten gefeiert wird, denn ER ist die Hoffnung.“
Mick klatschte. „Juhuuu!“, rief er und strahlte. Dann packte er die Hand des Graumantels und zog ihn mit sich durch die Büroräume und langen Gänge, bis sie draußen standen. Er bohrte die Zehen in den Sand. „Du“, sagte er, „jetzt erzähl mal genau, wie war das denn damals? Bist du wirklich im Stroh gelegen? Kamen die Könige aus dem Morgenland mit Geschenken, was hast du damit gemacht? Und haben die Engelein gesungen und wie war das mit dem Esel und dem Ochsen und du, sag, war da wirklich ein Stern überm Stall ganz allein für dich ....?“

Letzte Aktualisierung: 07.12.2010 - 00.26 Uhr
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