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Freude | Dezember 2010
Unendlich daheim
von Helga Rougui

"… wie …. alte ….ranzige Leberwurst!!!"

… Orla trudelte wie besoffen durch den Orbit ihres Namens, machte hie und da ein Bäuerchen und sich ansonsten wenig Gedanken über den Zielort, an den das rote Geschoß, in dem sie gefangen war, sie bugsieren würde.
Sie hatte aber das unbestimmte Gefühl, jemand habe sie gerade – und nicht sehr freundlich – von der Seite angesprochen.
Nach Überdenken des Inhalts der gehörten Bemerkung beschloß sie, daß sich diese nicht auf sie bezöge.


Olga kappte die rote Plastikumhüllung der Trüffelleberwurst Elsässer Art, die sie gerade aus den Untiefen ihres Kühlschranks gefischt hatte, besah sich noch einmal das seitlich aufgedruckte Verfallsdatum, das den gestrigen Tag auswies, und, während sie mit energischen Strichen ihr Brot bebutterte und die Leberwurst zur Gänze darauf verteilte, wiederholte sie, mit den aufsteigenden Tränen kämpfend:
"Is' doch so. Nichts wie alte ranzige Leberwurst hat er mir dagelassen zum Abendessen…"
Als, dachte der Nikolaus, als. Lernt sie es denn nie.
"… und das Zeugs riecht, als sei es tausend Jahre alt… Egal, ich ess das jetzt, und … wenn schon! - dann vergifte ich mich halt, da wird er schon sehen, was er davon hat...!"
Und sie biß einen sehr großen Bissen von ihrem Leberwurstbrot ab und schluckte und kaute tapfer gegen den muffigen Geruch der Speise und den salzigen Geschmack der Tränen an, wohl wissend, daß diese wieder einmal umsonst und zu niemandes Nutzen vergossen wurden.

Huch, dachte Orla und ging zu lautem Geschrei und heftigem, sinnlosem Gezappel über, als plötzlich die rote Gummiwand einriß und sie in hohem Bogen in einen weißen, fettigen Quader katapultierte, in den sie so tief hineinpurzelbaumte, daß sie, einmal zur Ruhe gekommen, bis zum faltigen Halse feststeckte. Sie versuchte einen ihrer zahlreichen Finger zu rühren, und die Bewegung trieb sie bis zum Doppelkinn hinein ins tückische Material.
Sie konnte definitiv nicht hinaus.
Also hielt sie still. Und machte gar nichts mehr.
Vielleicht sollte das jetzt mal so sein. Sie merkte, wie die weiche, anschmiegsame Masse ihrem geschundenen Körper wohl tat und flugs so manche Schramme heilen ließ, die ihr widerfahren war auf ihrer Irrfahrt durch fremde Welten und ihr langes Leben. Ohne daß sie es wußte, kam sie der Leanderschen Paradieserfahrung so nah wie nie – jedem das Biotop, das ihm gebührt, nicht wahr.
Nun, Orla konnte insgesamt noch nicht so recht einschätzen, ob ihre Lage ein Fortschritt war. Aber immerhin war sie dem Roten Ball entkommen, hatte durch ihren Geruch jemanden zum Weinen gebracht (dachte sie) und wartete jetzt wieder einmal auf eine rettende Wendung. Sehr vertrautes Gefühl.
Und das Wichtigste: immerhin war es wieder hell.
Und es würde von Tag zu Tag heller werden.
Hoffte sie.


Ich hasse den Schnee, fluchte Olga vor sich hin, jetzt isses halb elf Uhr nachts und ich muß schon wieder raus, weil es schneit und schneit und schneit, aber die Alternative morgen früh um halb sechs – also nee, da hab ich echt kein' Bock drauf. Sie schlüpfte sozusagen aus Trotz in ihre leichtesten Sommerschläppchen ("Wird schon gehen die paar Meter…"), wickelte sich in ihre von der Mutter einer Freundin geerbte Nerzjacke ("Die sind nun schon seit über siebzig Jahren tot und inzwischen ist es auch egal!"), ergriff die Schneeschippschaufel und trieb damit zuerst einmal eine lange wütende Schneise in die frisch gefallene Flockendecke. Fünfundzwanzig Meter Häuserfrontlänge waren zu kehren ("Wer hatte hier grad was von ein 'paar Metern' gefaselt???"), dazu die doppelte Länge der Garagen, und der Schneefall hielt seit Tagen an und hielt nur ab und an kurz inne, um neue Kraft zu sammeln für den Ausstoß nutzloser, kalter, weißer Materie, die alle zum Frieren und zum Klagen brachte und jegliche Aktivität mit Lähmungserscheinungen versah.
Und wenn ich schon mal dabei bin, dachte Olga weiter, ich hasse auch den November und den Dezember und meine Dämlichkeit, mir keine Winterreifen zu kaufen, und ich hasse dieses Haus, mein Heim, das mehr Gefängnis ist als alles andere in diesen Zeiten.
Und dann besonders hasse ich die jahreszeitlich bedingte echte als auch aufgesetzte Weihnachtsfreude – erstere sehr von sich eingenommen ob ihrer Wahrhaftigkeit und Konsumdesinteressiertheit, letztere in ihrer Gier auf Geschenkeberge und das Große Ultimative Weihnachtsfressen immerhin gnadenlos ehrlich in dieser gnaden- und umsatzreichen Zeit.
Und weiterhin hasse ich meine klischeehaften Schwarz-Weiß-Gedanken zu diesem Thema, aber besser ist es doch, ich habe welche als gar keine, und dumm sein und dumm denken muß nicht immer identisch sein wie auch das Gegenteil – Fakt war, für sie waren Weihnachten und Winter nicht zwei fröhliche, möhrennasige, topfbehütete Schnee-, sondern zwei schlechtgelaunte, nasenlose, böse Buhmänner, die ihr pausenlos im Wege standen so wie sie sich selbst.

Orla lag friedlich schlafend in ihrem Fettbett. Ihre Haut war schon ganz weich und weiß geworden, und gerade eben begann unter ihrer alten, sich sichtbarlich glättenden obersten Pelle ein rosa Licht zu glühen, das Licht der Hoffnung, daß diesmal alles gut werden möge, weil diesmal gar nichts mehr zu hoffen blieb. Sie gestand sich ein, daß sie, was auch immer es gewesen sein mochte, nicht zwingen konnte, zu sein, wie sie es wollte, und bei dieser Erkenntnis erfüllte sie eine sehr banale Gelassenheit und ein heiteres Gefühl von Ohnmacht, Gefühle, die sie lange vermißt hatte. Hallo liebe Orla, dachte sie, ob er mich nun rettet oder nicht, das ist letztlich egal, bin ich doch nie verloren gegangen. Ich hab es nur nicht gemerkt, daß ich die ganze Zeit und immer schon bei mir war, und so kann ich in Ruhe die weitere Entwicklung der Dinge abwarten, zumal da der Hauptrechner in den Wolken da oben auch so langsam zur Ruhe und zur Einsicht gelangt, wie mir scheint – man wird mich nicht vergessen, und irgendwie geht es ja immer weiter.
Heimat ist überall, auch in der Unendlichkeit.


Olga lag still in der Schneelandschaft. Sie war über die kleine Mülltonne am Ende des Weges gefallen, die sie nur als vernachlässigbare, schneebedeckte Beule aus den Augenwinkeln wahrgenommen und ansonsten völlig vergessen hatte. Nun wußte sie wieder, daß es sie gab, und zum andern sah sie seit langer Zeit zum ersten Mal wieder in den Himmel hinauf, aus dem der Schnee weiterhin auf ihre Nase fiel. Aber was für ein grandioses Reservoir! Wären die Streusalzvorräte der heimischen Gemeinden nur von ähnlicher Dimension gewesen… Eine weitere Platitüde fiel ihr ein – Der Mensch denkt (zu kurz) und Gott lenkt (alles mögliche, nur kein Cabrio?).
Sie mußte plötzlich an die Worte einer Kollegin denken, die ihr seit gestern in Ohr und Hirn nachhallten: "Ich liebe den Schnee. Alles sieht so hübsch aus. Und ich freu mich, wenn die Natur dem Menschen eine Nase dreht. Da sieht er dann, daß er mal nichts aurichten kann. Da muß er innehalten. Alles geht langsamer und ruhiger in diesen Zeiten." (Danke, Anika.)
Olga lag auf dem Rücken, guckte ins Schneetreiben und in den dunklen Himmel über sich und dachte, die Dinge so zu sehen ist gar nicht dumm. Und ein Fetzchen Fröhlichkeit glomm auf und entzündete ein winziges Freudenfeuer mitten in der Kälte.

Und sie streckte die Zunge raus, fing eine Schneeflocke ein und lächelte.
Eigentlich ganz schön, der Schnee
Sie rappelte sich hoch und ging langsam ins Haus.

Letzte Aktualisierung: 22.12.2010 - 22.27 Uhr
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