Schreib-Lust Print
Schreib-Lust Print
Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Sylvia Seelert IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Freude | Dezember 2010
Das Haus der Tigerschnecke
von Sylvia Seelert

„Sie gehört nun dir, Alexandra!“
Das Alter hatte braune Flecken auf Mutters Haut gemalt. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie mir etwas zwischen die Finger schob. Es war kühl und glatt. Ich öffnete die Hand und fand darin eine Muschel, bauchig und mit rostigen Punkten bedeckt, die sich zu einem dunklen Rot mischten. Die Mündung hingegen war milchig-weiß, mit kleinen Einkerbungen versehen, die sich wie Zähne anfühlten, als mein Finger darüber strich.
Als Kind hatte ich oft am Strand Muscheln gesammelt, immer auf der Jagd nach besonderen Formen und Farben. Die Gläser mit der Ausbeute hatten sich in meinem Zimmer neben Teddybären und Barbiepuppen gestapelt. Besonders große und schöne Exemplare lagen immer auf dem Nachttisch. Jeden Morgen nahm ich sie nach dem Aufstehen in die Hand und lauschte nach dem Meeresrauschen, das in ihnen fortlebte. Die Außergewöhnlichste besaß jedoch meine Mutter; jene Rote, die nun kalt in meiner Hand lag. Es war das Geburtstagsgeschenk einer Neunjährigen gewesen, und ich erinnerte mich an Mutters Freude, als sie die Muschel aus dem Schuhkarton hob, den ich mit Sand und einem getrockneten Seestern gefüllt hatte. Bei einem Schulausflug nach Cuxhaven hatte ich sie in einem Geschenkeladen entdeckt. „Strandgut der Welt“ hatte auf einem klapprigen Holzschild an der Eingangstür gestanden. Als ich die Muschel an mein Ohr hielt, sang sie ein solch schönes Lied von Meer und Dünen, dass ich weinen musste. Da wusste ich, dies war das vollkommene Geschenk.
Unschlüssig drehte ich sie nun mit den Fingern hin und her.
Ich blickte zu meiner Mutter. Friedlichkeit lag auf ihrem Gesicht; die Hände auf den Bauch zusammengefaltet, betend, während die Augen ins Leere blickten. Das Kopftuch schmiegte sich eng um ihren schmalen und faltigen Kopf. Ich streichelte ihre Wange. Die Haut spannte sich darüber wie altes Pergamentpapier – dünn und brüchig.
„Leb wohl!“, flüsterte ich und küsste ihre Stirn.
Vier Tage später beerdigte ich sie, und fünf Monate danach zog ich von Bensersiel und der Nordsee fort. Berufliche Gründe zwangen mich dazu. Ich ging nach Essen, mitten ins Ruhrgebiet. Ich vermisste den salzigen Geschmack des Meeres, die Stille der Dünen und Mutter. Meiner Wurzeln beraubt trieb ich durch die Tage wie ein Zweig auf dem Fluss. Menschen blickten mir vom Ufer aus zu. Arbeitskollegen und neue Bekannte bemühten sich, mir ihre Heimat näherzubringen. Sie zeigten mir die Wege der alten Industriekultur mit Hochöfen und Fördertürmen, in denen die Hämmer der Schmieden längst schwiegen und die Förderkörbe stillstanden. In den Hallen lagen noch der Staub von Kohle und die Ausdünstung von glühendem Stahl in der Luft. Sie tauchten mit mir in die verschiedenen Theaterwelten ab und entführten mich zu den angesagtesten Restaurants. Ich mochte ihre offene und herzliche Art. Gleichwohl verließ mich nie das Gefühl der Ferne, und so trieb ich weiterhin in unsteten Gewässern.
Jeden Sonntag zog es mich hinaus zum Baldeneysee. Frühmorgens fuhr ich mit dem Fahrrad dorthin, wenn kaum Spaziergänger unterwegs waren und nur vereinzelt windgeblähte Segel über den See glitten.
Ich setzte mich auf eine Bank am Ufer und blickte auf das Wasser. Ein Rennboot zog vorbei. Riemen knarrten und Ruderblätter schlugen mit Kraft in aufgewirbeltes Wasser. Mutters Muschel lag in meiner Hand.
„Guten Morgen.“
Überrascht blickte ich hoch und sah einen Mann am anderen Ende der Bank sitzen. Eine Löwenmähne, ergraut, umrahmte seinen Kopf und unter buschigen Augenbrauen blickten mich zwei freundliche Augen an. Er stützte seine Hände auf einen Stock mit Silberknauf ab.
„Ein schöner Morgen, nicht wahr?“
Ich nickte nur. Die Sonnenstrahlen tänzelten leichtfüßig auf dem Wasser und der Wind badete im Frühlingsgrün der Bäume. Ein Rotkehlchen zwitscherte.
„Ich liebe diese Friedlichkeit, die im Morgen liegt.“
„Ja“, antwortete ich nach kurzem Zögern, „ja, ich liebe sie auch!“
Wir schwiegen eine Weile und schauten über den See.
„Ich habe Sie schon sehr oft hier gesehen“, sprach er mich wieder an.
„Sie fahren immer mit dem Fahrrad an mir vorbei, als ob Sie vom Teufel persönlich gejagt werden.“
„Nicht vom Teufel, von der Sehnsucht“, rutschte es mir unvermittelt heraus. Ich war verwirrt. Warum erzählte ich so etwas einem fremden Menschen?
Nachdenklich öffnete ich die Hand und schaute Rat suchend auf die Muschel.
„Was für eine wunderschöne Cypraea tigris!“
In seiner Stimme klang Bewunderung mit. Fragend blickte ich ihn an.
„Sie halten das Haus einer Tigerschnecke in Ihren Händen. Manche bezeichnen sie auch als Tigermuschel. Herrlich der Porzellanglanz und die Farbe der Oberfläche. Bestimmt ist ihr Lied ebenso schön!“
„Sie ist stumm.“
„Stumm?“
Nun war er überrascht.
Ich hielt die Tigermuschel an mein Ohr – wie so viele Male zuvor seitdem ich fortgezogen war – und lauschte. Sie schwieg. Kein Meeresrauschen klang aus ihr, geschweige denn der Ansatz eines Liedes.
„Darf ich?“
Zögernd legte ich sie ihm in seine Finger und er nahm sie vorsichtig entgegen. Er schloss die Augen und horchte an ihrer Öffnung.
„Erzählen Sie mir die Geschichte dieses Hauses“, bat er mich.
„Sie ist das Abschiedsgeschenk meiner Mutter“, sprudelte es aus mir heraus. Ich erzählte ihm von dem langen, quälenden Kampf gegen den Krebs, den sie verloren hatte. Wie sie zum Sterben von der Klinik nach Hause gekommen war, weil sie sich nicht mehr länger durch die Chemotherapie vergiften lassen wollte. Von meinem Wegzug berichtete ich, von den neuen Freunden, die ich gefunden hatte, und der Leere, die in mir wohnte. Ruhig hörte er zu, nickte ein paar Mal mitfühlend.
„Ich verstehe“, sagte er schließlich, als der Strom meiner Worte versiegte.
„Sie benötigt ein neues Lied!“
Er ging zum Ufer des Sees und hockte sich mühsam hin. Die Tigermuschel tauchte er ins Wasser und hob sie langsam wieder hoch, damit das Wasser aus ihrer Öffnung fließen konnte. Er stand auf und drückte sie mir in die Hand.
„Nun liegt es an Ihnen …“
Ich hielt sie an mein Ohr und schloss die Augen.
Zunächst vernahm ich nur ein leises Rauschen. Wellen, die in der Ferne gegen den Strand schlugen. Leises Möwengeschrei mischte sich dazu. Neue Laute rollten heran. Segel, die im Wind knatterten, und Ruderschlag, der auf Wasser trommelt. Vögel zwitscherten im Adagio und Menschengemurmel bildete den Hintergrundchor. Das Klingen von Schmiedehämmern mischte sich dazu. Ich stand mittendrin und konnte nicht aufhören zu lauschen. Ich fühlte die ruhige Beständigkeit, die im regelmäßigen Kommen der Wellen lag, und das prickelnde Gefühl bei der Entdeckung von neuem Strandgut, das die See ans Ufer spült. Ich musste mich nur danach bücken und es aufheben.
Langsam öffnete ich die Augen und schmeckte salzige Feuchtigkeit auf meinem Lippen. In der Ferne sah ich den Mann noch um die nächste Rundung des Sees biegen. Er hob den Stock, grüßte und war fort. Ich jedoch war endlich vom Fluss ans Ufer gestiegen.

Letzte Aktualisierung: 09.12.2010 - 15.34 Uhr
Dieser Text enthält 7043 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.